Pro & Contra Muss auch die Erderhitzung maßvoll angegangen werden – im Bewusstsein, dass es auch andere Prioritäten gibt? Oder führt Rücksicht auf eine überforderte Gesellschaft zu nichts – außer dem raschen Untergang?
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Pro
Der Klimawandel muss eingedämmt werden, es braucht Windräder und Solaranlagen, ein flexibles Stromnetz und neuartige Energiespeicher. Da wir uns aber nicht darauf verlassen können, dass eine ausreichende Reduktion des CO₂-Ausstoßes global gelingt, müssen wir auch in Anpassungsmaßnahmen investieren. Infrastrukturen müssen wetterfest werden, Wälder und Parks brauchen Anpassungen in den Biotopen, Schulen, Büros und Werkhallen energiesparende Belüftungs- und Kühlungselemente. Oft hört man jüngst, man könne doch sowohl das 1,5-Grad-Ziel einhalten als auch Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel vorantreiben. Ist es aber möglich, alles zu tun, was als notwendig eingesehen wird? Nein. Man kann nicht alles mach
t alles machen.Die Gesellschaft hat nur begrenzte Kapazitäten an Ingenieurinnen und Planern – sowie an Leuten, die das Geplante umsetzen. Wir haben schlicht nicht die Mittel, um alles in dem Maße zu machen, von dem wir glauben, dass es nötig sei. Zudem wird in unserem Land und in anderen Industrieländern von der Vier-Tage-Woche gesprochen, die Lebensarbeitszeit sinkt insgesamt, sowohl bei denen, die die Anlagen und Einrichtungen planen können, als auch bei denen, die sie bauen. Wir haben für alles, was da umgesetzt werden muss, ein umfangreiches Planung- und Genehmigungsrecht, Umweltverträglichkeitsprüfungen, Naturschutzbelange, Eigentumsfragen. Und so weiter: Auch da stoßen wir an Kapazitätsgrenzen.Dann gibt es noch die anderen Dinge, um die sich eine Gesellschaft kümmern muss. Infrastrukturen verfallen ganz unabhängig vom Klimawandel. Alles ist zu digitalisieren, Schulen und Universitäten müssen renoviert werden. Krankheiten sollen bekämpft, Impfstoffe entwickelt werden – ganz abgesehen von neuen Herausforderungen an das Gesundheitswesen durch den Klimawandel. Und schließlich gibt es noch die Dinge, die man fast als teure Hobbys in dieser Zeit bezeichnen könnte: Forschungen an Autonomem Fahren oder KI etwa, von Mond- oder Marsflügen ganz zu schweigen.Wir werden also Prioritäten setzen müssen. Und die absolute Priorisierung der Reduktion des CO₂-Ausstoßes kann nicht als selbstverständlich gelten, auch wenn ein Gelingen dieses Ziels viele andere Probleme obsolet machen würde. Denn einerseits heißt Gelingen in dieser Frage, dass alle Länder, auch unabhängig von der Bevölkerungsentwicklung und vom verständlichen Wunsch, den Wohlstand der Bevölkerungen erst mal auf europäisches Niveau zu bringen, mitmachten. Und andererseits gibt es eben auch andere Herausforderungen, die dringend zu meistern sind.Könnten wir sagen: Angesichts des Klimawandels verzichten wir mal eben auf all die teuren Hobbys, die werden verboten, alle Ingenieurskraft und alle Konstruktions- und Bauressourcen werden in den nächsten hundert Jahren ausschließlich in Arbeiten zur Abschwächung des Klimawandels und zur Anpassung an veränderte Klimabedingungen investiert. Aber wird das reichen? Und wo ist die Grenze? Soll die medizinische Forschung sich noch neue Krebstherapien ausdenken, sollen wir noch in Verbesserungen der Verkehrssicherheit und in die Digitalisierung der Lehre investieren?Und da kommt die Frage ins Spiel, ob die kommenden Generationen, um derentwillen wir das alles tun, das dann richtig finden werden. Bei der Entscheidung, wofür wir heute unsere begrenzten Mittel einsetzen, gibt es keine einfachen Antworten – alles für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels könnte am Ende heißen: Wenig für die Anpassung an den Klimawandel, der dennoch passiert, und nichts für all die anderen Projekte, die auch wichtig sind. Wir müssen realistischer hinsichtlich unserer Möglichkeiten beim Klimaschutz werden, und die Vielfalt der Existenzbedingungen der Gesellschaft im Blick behalten. Jörg Phil FriedrichContraSie kennen den alten Slogan: „Wer nichts kann und wer nichts ist, der wird Klimarealist.“ Moment, stimmt so nicht. Ach, richtig, den hier meinte ich: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“ So ist das mit dieser (leider nicht im Wortsinne) unsäglichen Geschichte mit dem „Klimarealismus“: Wer will, dass wir beim Klima „realistisch“ sind, will nicht, dass das Klima geschützt wird.Sind wir alle auf einem Stand? Die Klimakatastrophe eskaliert rapide – die Bilder vom „Hitzesommer“ in den Ozeanen sind erschreckend. Täglich kommen neue „hottest/wettest/driest/freakiest XYZ on record“-Nachrichten, Europas Flüsse sind so trocken wie meine Augen nach einer Rede von Frank-Walter Steinmeier. Zweitens: Klimaschutz im Sinne von Emissionsreduktionen als Resultat bewusster Klimaschutzpolitiken findet nicht statt. Die „40-Prozent-Reduktion“, mit der sich Deutschland brüstet, sind das Resultat nicht-klimaintendierter Prozesse, vor allem der Deindustrialisierung des Ostens nach der Wende, des industriellen Offshorings, der neoliberalen Globalisierung. Und letztens war es der erste Corona-Lockdown. Aber Klimaschutz als Resultat von Klimapolitik? Fehlanzeige.Man könnte eine Grafik machen – Mengenlehre Klimaschutz: Das wären dann zwei Kreise: „Was das Klima effektiv schützt“ und „Was Deutsche nicht überfordert“. Die Kreise stehen nebeneinander. Es gibt keine Schnittmenge. Effektiver, nachhaltiger, stabiler, idealerweise gerechter Klimaschutz wäre mega-anstrengend. Er würde uns ökonomisch, politisch und emotional-psychologisch sehr weit über den Rand unserer Komfortzone bringen, und vor allem in der momentanen „Transformationsüberforderung“ unserer Gesellschaften ist das nicht leicht zu verkaufen. Was zur Klimarettung hinreichend wäre, ist in Deutschland (und allen anderen nördlichen, reichen Verdrängungsgesellschaften) politisch, sozial und manchmal auch technisch einfach nicht realistisch. Und was hierzulande realistisch ist, ist nicht ansatzweise hinreichend.„Klimarealistisch“ wäre ein bisschen Netzausbau, ein bisschen Erneuerbare, ein paar Subventionen für die Elektrifizierung der deutschen Autoindustrie. Ein paar Millionen mehr im internationalen Klimaanpassungsfonds. Klimarealistisch ist nicht, was notwendig wäre: ein massiver Postwachstums- und Schrumpfungs-Turn in der deutschen Wirtschaftspolitik, massive Umverteilung in den globalen Süden, um anzufangen, Reparationen für unsere ökologischen Schulden zu leisten.Der alltägliche Run-of-the-mill-Klimarealismus, den wir antreffen („aber liebe Klimabewegung, wir sind ja bei Euch, aber das geht halt gerade nicht – auch in der „Debatte“ um die Asylrechtsschleifung sehr effektiv genutzt), ist kein Realismus im philosophischen Sinne. Er ist der am Ende (selbst-)mörderische Realismus der Verdrängungsgesellschaft. Einer Gesellschaft, die sich weigert, sich den Realitäten der Klimakatastrophe zu stellen – unserer Rolle darin, unserem Nichthandeln. Ich könnte jetzt sagen: Das ist kein Klimarealismus, sondern Ideologie. Aber das wäre falsch. Handelt es sich doch in Anlehnung an den marx‘schen Kapitalfetisch, um „notwendiges falsches Bewusstsein“ der Verdrängungsgesellschaft, das ja tatsächlich empirische Realitäten beschreibt.Ich ende lieber so: „Klimarealismus“ hat zwei Seiten: den zerstörerischen „Pragmatismus“, den Realismus der Verdrängungsgesellschaft, der sagt: wir machen, was möglich ist, scheiß auf den Rest; und den tatsächlichen „Realismus“, der sagt: realistisch ist nur der Kollaps. Die Frage ist nicht: können wir den noch vermeiden, sondern, wie gehen wir damit um. Denn wer zum Beispiel in Lützerath war, wird sich erinnern: auch im Kollaps und der Niederlage lassen sich in Bewegung und Gemeinschaft Schönheit, Liebe und Glück erleben. Das ist mein Realismus. Der andere kann sonstwohin. Tadzio Müller