Stellen Sie sich einmal vor, der ehemalige DFB-Präsident Wolfgang Niersbach hätte 2014 bei der Siegerehrung der Weltmeisterschaft Bastian Schweinsteiger geküsst. Oder Angela Merkel hätte, als sie mit den Spielern in den Katakomben des Maracanã feierte, fröhlich verkündet, sie würde der Mannschaft eine All-Inclusive-Reise nach Norderney spendieren und dort Mario Götze ehelichen. Oder Joachim Löw hätte seinem Kollegen Oliver Bierhoff an der Seitenlinie vor lauter Freude an den Penis gefasst.
Sie denken, es handle sich hierbei um bizarre Satire-Szenarien, die niemals eintreten würden? Falsch gedacht! So ähnlich ging es nämlich am Sonntagabend im Stadium Australia in Sydney zu. Spaniens Fußballerinnen waren gerade zum ersten Mal in ihrer Geschichte Weltmeisterinnen geworden und begingen die Siegerehrung, als Luis Rubiales, seines Zeichens Präsident des spanischen Fußballverbandes RFEF, für Schlagzeilen sorgte.
Rubiales umarmte die Spielerinnen innig und gab ihnen Schmatzer auf die Wangen. So weit, so unangenehm. Den Vogel schoss er jedoch ab, als er die Stürmerin Jennifer Hermoso voller Inbrunst auf den Mund küsste. In Windeseile machte der Vorfall online die Runde und das halbe Internet diskutierte, ob diese Geste Kulturgut oder immerhin wegen der Euphorie angemessen sei.
Die Antwort gab kurze Zeit später Hermoso selbst: „Ich mochte es nicht, aber was sollte ich tun?!“, sagte sie in einem Instagram-Livestream. Hier hätte die Angelegenheit eigentlich beendet sein müssen, die Szene ist schließlich klar: Ein Mann in Machtposition nutzt diese aus, die betroffene Person fühlt sich überrumpelt und bringt zum Ausdruck, dass ihr dabei unwohl war. Rubiales hätte sich mindestens entschuldigen müssen und das Internet hätte weiter über Machtgefälle diskutieren können.
Doch damit war nicht Schluss. Während der Feierlichkeiten kündigte Rubiales an, die Spielerinnen nach Ibiza einzuladen. Es sei für alles gesorgt – auch für seine Hochzeit mit Hermoso, die er dort feiern wolle. Parallel kursierten außerdem Videos von Rubiales, wie er sich beim Jubel auf der Tribüne demonstrativ in den Schritt fasste. Auch ein Video des Trainers Jorge Vilda machte die Runde. Hierin ist zu sehen, wie er nach dem Siegtreffer seinen Staff umarmt und einer Kollegin dabei an die Brust fasst.
Karl-Heinz Rummenigge findet Verhalten von Luis Rubiales „absolut okay“
Diese Szenen sind aus verschiedenen Gründen besorgniserregend und abstoßend. Zum einen, weil Vilda höchst diskutabel ist. Im September vergangenen Jahres hatten sich 15 Spielerinnen an die RFEF gewandt und indirekt seine Entlassung gefordert. Sie warfen Vilda neben schlechten Trainingsmethoden vor, ihren mentalen Zustand durch seinen Kontrollzwang negativ zu beeinflussen. In Medienberichten hieß es, Vilda habe Taschenkontrollen durchgeführt und den Spielerinnen verboten, nachts ihre Hoteltüren abzuschließen. Vor diesem Hintergrund wirkt ein Video des brüstegrabschenden Cheftrainers besonders widerlich.
Zum anderen demonstrieren diese Vorfälle, dass Frauen auch im Jahr 2023 nirgendwo sicher sind. Es macht anscheinend keinen Unterschied, ob ein übergriffiger Chef einer Mitarbeiterin im Fahrstuhl unter den Rock fasst oder ein Verbandspräsident eine Fußballweltmeisterin küsst – während Millionen Menschen vor den Fernsehbildschirmen zusehen, fast 80.000 in einem ausverkauften Stadion sitzen und der Fifa-Boss und die spanische Königin neben ihm stehen. Offensichtlich fühlen sich Männer immer noch sicher genug, ihre Grenzen dermaßen überschreiten zu können.
Dass sie das sind, bestätigt der Zuspruch, den Vilda und Rubiales gerade erfahren. Der spanische Verband hielt letztes Jahr trotz der Vorwürfe am Trainer fest – und forderte die Spielerinnen auf, sich zu entschuldigen. Kurz nach Abpfiff twitterte die RFEF gar ein Foto des Coaches und betitelte es mit „Vilda in.“
Dass die Szenarien vom Anfang des Artikels dermaßen bizarr wirken, liegt übrigens auch daran, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Und so lautet der Tenor aus der (männlichen) Fußballwelt wenig überraschend, dass Hermoso und die ganzen Journalist:innen sich mal nicht so anstellen sollten. Karl-Heinz Rummenigge beispielsweise, der immerhin einer der mächtigsten Fußballfunktionäre der Welt ist, entgegnete zur Causa Rubiales: „Was er da gemacht hat, ist – sorry, mit Verlaub – absolut okay.“
Das Schlimmste an diesen Vorfällen ist jedoch, dass sie sich bei der bislang größten Frauen-Weltmeisterschaft zutrugen. Den ganzen letzten Monat über brachen das Publikum und die Teams einen Rekord nach dem anderen. Die Sponsoren und die Fifa redeten von Inspiration, Vorbildern und schmückten sich mit ihrer Unterstützung des Frauenfußballs. Doch solange sich solche Ereignisse wie am Sonntag zutragen können und keinerlei Konsequenzen haben, bleibt all das bloße Heuchelei. Schade, dass der historische Erfolg der Spielerinnen von einem Mann, der sich nicht benehmen kann, überschattet wird.
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