Mittagsschlaf von A–Z: Sexta Hora, Inemuri und ein rotes Sofa
Lexikon Eine lange Pause oder ein Schläfchen im Büro sollen jetzt auch die Deutschen einlegen. Ärzte fordern Siesta im Sommer. Aber wohin soll man sich legen – wie Japaner auf fremde Schultern? Oder auf die Couch der Chefin?
In Japan wird das Nickerchen gehalten, wann und wo es gerade passt
Foto: Chris Steele-Perkins/Magnum Photos/Agentur Focus
A wie Arbeitsschutz
Wahrscheinlich ist der Mittagsschlaf so alt wie die Menschheit. Sein Ruf ist in westlichen Industrienationen aber ein schlechter. Wer Pause macht, verliert, sagt mein Freund Mangold oft – und meint damit allerdings nur seine Angestellten. Als Vorstandsvorsitzender einer Aktiengesellschaft hat er sich selbst ein Couchensemble in sein Büro gestellt (→ Rotes Sofa). Denn nach einem leckeren Sushi, begleitet von wohltemperiertem Sake, legt er sich gerne mit dem aktuellen Manager Magazin auf die Couch und ein Nickerchen ein. Aus der Sicht des Arbeitsschutzes kann ein Mittagsschlaf, wie von Ärzten gefordert, nur befürwortet werden. Müdigkeit begünstigt Unfälle immens. In der Luftfahrt spricht man vornehm von „Fatigue“ als Un
rnehm von „Fatigue“ als Unfallursache. In vielen Fällen ist Übermüdung zumindest ein Faktor für den Crash, weswegen auf Langstrecken das Cockpit-Personal rotiert und obligat Schlafpausen einlegen muss, um die Landung nicht in einem Desaster enden zu lassen. Mittagsschlaf rettet Leben. Jan C. BehmannI wie InemuriDer Kopf der Büroangestellten ruht auf meiner Schulter. Schon seit ungefähr fünf Stationen. Es ist nicht unangenehm und es ist nicht der einzige Kopf in der Yamanote-Linie, der Ringbahn Tokios, der auf einer ihm fremden Schulter liegt. Als die Türen in Shinagawa aufgehen, hebt sie ihren Kopf, steht ohne hochzuschrecken auf und steigt aus. „Inemuri“ ist die höchste Form des Nickerchens: Während des Schlafs noch bewusst die Umgebung wahrnehmen, gleichzeitig da zu sein (iru) und zu schlafen (nemuru).Wer es beherrscht, kann schlafend an Konferenzen teilnehmen oder auf dem Tisch im Büro nickern. Eine Selbstverständlichkeit in der japanischen Kultur. Überall im Alltag sieht man hier schlafende Menschen. Denn wer so hart arbeitet wie Japaner:innen, muss sich auch mal erholen, und sei es am Arbeitsplatz (→ Arbeitsschutz). Alina SahaK wie KindergartenSpielen und lernen zur Vorbereitung auf die Schule – und alles sollte geregelt sein. Gemeinsames Mittagessen und Schlafen danach: Meine Kleinen waren’s gewohnt. Ihr DDR-Kindergarten war ja auch nicht mit dem zu vergleichen, der mich als Dreijährige dermaßen verstörte, dass ich mich am nächsten Tag mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Spektakulär und mit Erfolg. Die Mutter war im Krankenhaus, die Großeltern glaubten mich gut aufgehoben bei den Nonnen. Bis heute erinnere ich mich an die schwarzen Pritschen und die strenge Frau in Schwarz mit Kreuz-Brosche am Kragen, die mir zu schlafen befahl. Da finde ich es gut, wie meine Enkelin sich heute aussuchen darf, ob sie in den Ruheraumgeht oder zum Spielen in den Garten. Natürlich wählt sie Letzteres. Um fünf schläft sie gar zu Hause ein und ist dann putzmunter bis zehn oder elf. „Würde es euch nicht doch guttun, wenn der Tagesablauf etwas geregelter wäre?“ – „Aber du freust dich doch, wie frei sie aufwachsen kann.“ Irmtraud Gutschke M wie MedizinischUm der Hitze auszuweichen, macht eine Siesta erst am Nachmittag Sinn. Denn zwischen 16 und 18 Uhr ist es im Sommer in der Regel am heißesten draußen – nicht mittags. Meteorologen setzen zu dieser Zeit ihre Höchstmessungen an. Will man also den Organismus schonen, macht man einen Nachmittagsschlaf. Wobei dieser – wiederum in medizinischer Hinsicht – ein Schläfchen sein sollte. Länger als 20 Minuten sollte ein gesunder → Powernap nicht dauern, raten Mediziner. Ansonsten fällt man in die Tiefschlafphase und muss erst wieder die mit ihr verbundene Schlaftrunkenheit abschütteln. Mit einem kurzen Augen-zu aber lassen sich Konzentration und Leistungsfähigkeit merklich steigern. Zudem soll so das Risiko von Herzerkrankungen sinken. Dieses halbe Schläferstündchen kann man eben locker auch auf den Nachmittag verlegen. Tobias PrüwerN wie NordenDie Landbevölkerung in Deutschlands Norden gilt als wortkarg, ein bisschen schläfrig und behäbig. Eine Gewohnheit wie die „Mittagsstunde“ kann diesen Eindruck verstärken. Die Schriftstellerin Dörte Hansen hat in ihrem gleichnamigen Roman (2018) – der erfolgreich verfilmt wurde – dieser Ruhestunde ein Denkmal gesetzt, sie im rasenden Zeitenwechsel als Symbol illusorischer Beständigkeit verwendet. Kurz scheint das Rad der Zeit mal stillzustehen. Dann geht es weiter mit dem Wandel, die Dorfgemeinschaft zerfällt, die Äcker werden größer, die einen machen Gewinn, andere gehen pleite. Während Familiengeheimnisse enthüllt, Kindheiten dramatisch beendet werden und Tragödien ihren Lauf nehmen, tröstet diese Illusion. Die Kleinbauern von einst aber brauchten den Mittagsschlaf, weil sie – die schon vorm Morgengrauen in den Stall mussten, um die Kühe zu melken – ein wenig ausruhen konnten, um am Nachmittagwieder bei Kräften zu sein. Die Landarbeit gibt den Rhythmus vor, bis heute. Magda GeislerP wie PowernapVon den zunehmend mühsamen Versuchen, meinen Sohn bis zum Alter von drei Jahren noch zum Mittagsschlaf zu bringen, ist eines geblieben: Während er auch in der Kita (→ Kindergarten) längst keinen Schlaf mehr braucht, kann ich selbst inzwischen ohne mittäglichen Powernap am Nachmittag nicht mehr konzentriert arbeiten. Paradoxerweise ist meine Freundin darauf sehr neidisch, denn sie kann auch trotz Müdigkeit tagsüber nicht abschalten und schläft dafür dann regelmäßig abends im Kino oder Theater ein – etwas, das mir früher auch oft passiert ist, als ich zuletzt im Zivildienst fremdbestimmte Arbeitszeiten hatte (und natürlich kein Mittagsschlafrecht). Ein Hoch also auf die Freiheit (zu schlafen, wann man es braucht)!Ach ja, der Aufruf zu diesem Thema hat mich passenderweise während des Mittagsschlafs erreicht … Tom WohlfarthS wie SiestaViele träumen von jener Mittagsruhe aus südlichen Gefilden, die womöglich auch von Deutschen importiert werden wird. Siestaist aber auch Kunst. Während van Gogh zum Superstar der Klassischen Moderne aufsteigen konnte, ist Jean-François Millet (1814 – 1875) bis heute eher ein Fall für Spezialisten. Der französische Realist und Freiluftmaler der Schule von Barbizon, der Bauernmaler, der im Wald von Fontainebleau mit seiner Kunst der Vereinfachung den Impressionismus, ja die ganze Moderne vorbereitete, dieser naturverliebte Antiakademist, inspirierte auch Vincent van Gogh auf vielfältige Weise. Einen Sämann malte dieser nach Millet, eine Bäuerin, die Getreidegarben bindet, aber auch die Szene eines Mittagsschlafs (La méridienne oder auch La sieste genannt), die sich heute im Musée d’Orsay in Paris befindet. Das Werk, Öl auf Leinwand, entstanden 1889 oder 1890 während des Aufenthaltes in Saint Rémy de Provence, als van Gogh in einer Nervenheilanstalt interniert war, stützt sich auf eine Zeichnung Millets aus den 1860er Jahren und gilt heute als Meisterwerk des Künstlers. Marc Peschke R wie Rotes SofaAn manchen Tagen sind die Flure und Büros in der Redaktion so ausgestorben wie eine römische Piazza am Mittag. Das liegt bei uns weniger an gestiegenen Temperaturen, eher am Homeoffice. Seit wir entscheiden können, ob wir live vor Ort sind, wird es zur Überraschung, wer wann wen am Hegelplatz antreffen wird. Manchmal wünsche ich mir: nur nicht zu viele! Bitte keine Zeugen! Denn meine → Siesta soll klandestin bleiben. Es sind nun auch Amtsärzte drauf gekommen, aber ich hatte mir schon seit Längerem angewöhnt, mich mittags hin und wieder in das frei stehende Verlagsbüro mit der roten Ledercouch zurückzuziehen. Alles für die Produktivität! Ich brauchte dafür aber Komplizen (man weiß nie, wann die Geschäftsführerin ihrem Homeoffice entfliehen und in der Firma auftauchen wird). Die Kollegen stehen zum Glück Schmiere. Ab jetzt offiziell?Maxi LeinkaufW wie WolldeckeSich an etwas zu erinnern, gerät manchmal rätselhaft. Bei irgendeinmal gelesenen Romanen ist das vielleicht nur eine Stimmung, ein einziges Bild, eine Szene, während man die Handlung nur bruchstückhaft noch zusammenfassen könnte. Eugen Ruges zweites Buch, die Novelle Cabo de Gata aus dem Jahr 2013, habe ich nie vergessen – wegen der Szene in der Wolldecke. Der Ich-Erzähler ist ein Schriftsteller, Prenzlauer Berg, Ost-Berlin, den es nach der Wende in ein andalusisches Kaff zur Nebensaison verschlägt. Bisher hat er Andalusien für eine Erfindung von Luis Buñuel gehalten. Die Zeit steht still, wie ein einziger Mittagsschlaf (→ Norden). Eine Plastiktüte weht am Strand, die Katze taucht immer wieder auf, wie aus einer fernen Erinnerung. Magisch. Realistisch. Und dann ist da diese Wolldecke (die auch meine sein könnte aus vielen Urlauben, ich fühle sie!). Die Wolldecke, mit dem Betttuch eingeschlagen, ist typisch für den Süden, deren direkte Berührung der Ich-Erzähler sehr unangenehm findet. Oh ja! Cabo de Gata, eine kratzige, leise Novelle von zeitloser Schönheit. Katharina Schmitz Z wie Zeit der DämonenHüte dich zur Mittagszeit! Die Azteken opferten beim höchsten Sonnenstand. Laut der griechischen Mythologie versetzte der lüstern-bockige Pan mit seiner Nymphenschar und Flötenspiel die Hirten in sexuelle Ekstase und Panik. Man sollte diese „Zeit der Dämonen“ lieber untätig verstreichen lassen. Das rieten viele Kulturen in heißen Klimazonen. Von der „sexta hora“, der sechsten Stunde nach Sonnenaufgang, leitet sich das Wort Siestaab. In vielen Teilen der Erde waren solche Ruhephasen zwischendurch üblich, oft legte der Mensch sie einfach ein, wenn ihn die Müdigkeit überkam. Die Taktung der Zeit und damit des Schlafes ist nämlich moderner Natur. Lange galt der Mittagsschlaf als unproduktiv und Ausdruck von Faulheit. Erst die Management-Ratgeber haben ihn wiederentdeckt – die Zeit der Dämonen ist nun in Verwertungslogik gebannt. TP