Eine junge Frau wird auf einem Landgut bei Neu-Delhi brutal ermordet aufgefunden. Die Dorfbewohner erzählen der Polizei grundsätzlich nichts und schon gar nicht in diesem Fall, handelt es sich doch vermutlich um eine Prostituierte aus einer niedrigen Kaste. Zunächst um seiner eigenen häuslichen Misere zu entfliehen, ermittelt der suspendierte Polizist Adhirath auf eigene Faust und entdeckt, dass „die Tote sowohl einen Namen als auch einige Träume gehabt hatte“.
Der Text hält sich eng an die Sicht des jungen Familienvaters, der mit seiner Frau Puschpa, einem Sohn und seinen ewig nörgelnden Eltern in beengten Verhältnissen lebt. Insbesondere seit er suspendiert ist, hängt der Haussegen schief, auch, weil er darunter leidet, dass „
ss „ein Mann, der nur ein halbes Gehalt bezieht, nur ein halber Mann war“. Obendrein kommen seine Eltern nicht darüber hinweg, dass ihre Schwiegertochter aus einer niedrigeren Kaste stammt, auch wenn – oder gerade weil – sie zur Hauptverdienerin für alle geworden ist und vor einer Beförderung steht.Mord ist der zweite Roman der 1954 geborenen indischen Journalistin und Feministin Anjali Deshpande. Während ihr erster Roman erst nach einer englischen Fassung ins Hindi übersetzt wurde, ist Mord auf Hindi verfasst. Laut ihrem deutschen Verlag ist er einer von wenigen in dieser Sprache geschriebenen Krimis und wurde direkt ins Deutsche übersetzt.Mehr noch als ein Kriminalroman ist Mord eine Beschreibung der indischen Gesellschaft durch eine Autorin, die sich seit vielen Jahren für Frauenrechte und die Verbesserung der Lebensbedingungen der „Unberührbaren“ am unteren Ende des indischen Kastensystems einsetzt.Tatumstände und das eingeschüchterte Schweigen möglicher Zeugen deuten schnell auf die Beteiligung Mächtiger hin. Tatsächlich hält weniger die Frage „Wer hat es getan?“ die Spannung aufrecht, sondern Fragen wie: Warum wurde Adhirath suspendiert und was wird er bei seiner Anhörung sagen? Werden Reiche und Mächtige zur Verantwortung gezogen?Gezeichnet wird eine Gesellschaft, deren Alltag auf allen Ebenen von Vetternwirtschaft und Korruption geprägt ist. Vor allem die vielen, teils brutal offenen Dialoge nutzt die Autorin dafür, die Weltsichten der verschiedenen Charaktere, Generationen und Gesellschaftsschichten zu zeigen, die stark vom Kastendenken durchdrungen sind. Neben sozialer Ungleichheit präsentiert der Roman eine große Frauenverachtung und Legitimierung von Gewalt. Frappierend ist die allgegenwärtige Gewaltbereitschaft: gegen die Partnerin, gegen Verdächtige, gegen Unbeteiligte.Dazu belasten räumliche Enge und fehlende Kommunikation Adhiraths und Puschpas Ehe, „zwei müde Fremde“, die sich, die Rücken zugekehrt, schlaflos im Bett wälzen. Es sind solche Bilder, die hängenbleiben, ebenso wie die vorsichtig philosophierenden Gedanken des Polizisten zur Rolle des ermordeten Mädchens für die Männer: „Nicht viel anderes als die Trauben, jemand, der ihnen einen Rausch verschaffen konnte.“ Oder was das für eine Kultur ist, in der er seine Frau am hellen Tag schlagen könnte, „kein Mensch würde etwas sagen“, aber nicht ihr nachlaufen, um sie in die Arme zu schließen.Schonungslos beschreibt Deshpande eine verbal und tätlich frauenfeindliche Gesellschaft. Mit Puschpa schafft sie eine starke Frauenfigur, die durch geschicktes Ausspielen ihrer Machtkarten gegen die Schwiegereltern und in der Gesellschaft punktet.Die Befragungen des Polizisten gestalten sich manchmal etwas zäh. Wettgemacht wird das durch die Einblicke in eine Gesellschaft, in der es schwer ist, nicht „wieder jemand“ zu sein, „der dir den unbezahlbaren Schatz des Vertrauens raubt“.Placeholder infobox-1