Naika Foroutan zum Aufstieg der AfD: „Wagenknecht-Partei könnte Game Changer sein“
Interview Die Migrationsforscherin Naika Foroutan hält den Aufstieg rechtsextremer Parteien für aufhaltbar und sieht Deutschland als Verlierer im globalen Wettbewerb, wenn über Einwanderung nicht endlich anders diskutiert wird
Migrationsforscherin Naika Foroutan: „Massenausweisungen würden dieses Land nicht nur moralisch, sondern auch praktisch ruinieren“
Foto: Paula Winkler
Die Beliebtheit der AfD steigt. Woran liegt das? Und wieso scheint es keine Partei zu schaffen, das zu verhindern? Die Soziologin Naika Foroutan sieht hier nur eine mögliche Lösung – und nebenbei Potenzial für eine progressive, postmigrantische Partei.
der Freitag: Frau Foroutan, Sie sind aktuell in Washington. Könnten Sie sich vorstellen, Deutschland den Rücken zu kehren?
Naika Foroutan: Mein Beruf ist international so anschlussfähig, dass ich mir sehr gut vorstellen könnte, überall zu arbeiten. Ich hatte eigentlich vor, ein Sabbatical in Iran zu machen. Ich hatte dort schon meine Kinder in der deutschen Schule angemeldet und wollte ein halbes Jahr lang dort sein, um zu schauen, ob es die Möglichkeit gibt, doch noch mal irgendwann zurü
in, um zu schauen, ob es die Möglichkeit gibt, doch noch mal irgendwann zurückzukehren. Das hat sich jetzt erst mal zerschlagen durch die revolutionäre Bewegung, die jetzt auch wieder so stark unterdrückt wurde. Aber der Traum hört natürlich nie auf, und ich könnte mir durchaus auch vorstellen, woanders zu leben.Wo zum Beispiel?Vor einigen Jahren hatte ich mich in Kanada beworben, um auszuwandern. Das hat aber nicht geklappt. Eine andere Kollegin hat die Position bekommen. Damals war mein Auswanderungswunsch auch damit verknüpft, dass ich durch den Aufstieg der rechtsextremen Parteien, verbunden mit der zunehmenden Feindseligkeit gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten sowie dem zersetzenden Kulturpessimismus der Mitte, Angst hatte, dass Europa eines Tages faschistisch regiert werden könnte. Insofern ist es immer ein notwendiges Gefühl, woanders einen Anker zu haben. Ich glaube, das ist aber etwas, was wahrscheinlich viele Migranten und Migrantinnen sagen, die noch Biografien der Einwanderung in sich tragen. Im Moment nehme ich zumindest von hier aus wahr, dass sich der Diskurs in Deutschland wieder verschärft.Die AfD stellt im thüringischen Sonneberg ihren ersten Landrat und erzielt Höchstwerte in den Wahlumfragen. Was sagt das über die deutsche Gesellschaft aus?Es sagt in erster Linie etwas über die perfekten Strategien der rechten und rechtsextremen Netzwerke aus. Mein Sohn hat mir neulich ein TikTok von einem AfD-Politiker geschickt. Der ist selber 46 Jahre alt, spricht aber gezielt Jugendliche über einen ganz spezifischen Triggerpunkt an, indem er in die Kamera sagt: „Jeder dritte junge Mann hatte noch nie eine Freundin. Du gehörst dazu? Dann schau keine Pornos. Wähl nicht die Grünen. Geh an die frische Luft. Lass dir nicht einreden, dass du lieb, soft und links zu sein hast. Echte Männer sind rechts. Echte Männer haben Ideale. Echte Männer sind Patrioten. Dann klappt es auch mit der Freundin!“ Die AfD setzt hier gezielt bei Alltagssorgen und Verunsicherungen an. Seit Jahren ist die Präsenz rechter, radikaler Parteien auf Social Media stärker. Übrigens auch der Salafisten und Hate-Imame. Die Mobilisierung findet also viel stärker im Netz statt als über Ortsvereine oder Parteikonvente. Parallel dazu schüchtern Internettrolle Menschen der Mitte ein und überfluten das Netz mit der Umdrehung von Fakten. Es ist eine gezielte Kampagnenstrategie, die darauf ausgerichtet ist, Hass auf Minderheiten zu schüren oder auf Frauen und die auf Gehässigkeit, Neid, Schadenfreude und andere niedrige Charaktereigenschaften setzt, die Treiber von sozialem Handeln sein können.Die Ergebnisse zeigen ja, dass die Menschen darauf anspringen, dass sie das Angebot wahrnehmen. Woran liegt das?Wenn ich das jetzt erklären könnte, würde ich wahrscheinlich den Soziologie-Nobelpreis kriegen, wenn es ihn gäbe. Seit der Entstehung der AfD versuchen von Sozial- bis Politikwissenschaftlern bis Psychologen, Ökonomen und Journalisten alle, dieses Phänomen zu erklären. Der erste Erklärungsansatz, warum so viele Menschen die AfD wählen, war, sie fühlten sich ungleich behandelt, hätten keine Arbeit und keine Zukunft und wendeten sich aus Protest Rechtsextremen zu, um dadurch auf ihre ungleiche Lage aufmerksam zu machen. Andere erklärten das mit einer ostdeutschen Sozialisation, die demokratiefern und fremdenfeindlich sei, weil es in der DDR weder Demokratie noch Diversität gab. Dann gab es da aber die hohen Zahlen der AfD in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl 2016, in einem der reichsten Bundesländer lag sie bei 15 Prozent. Das waren weder sozial-ökonomisch abgehängte Wähler noch Ostdeutsche. Es gab und gibt also auch ein Potenzial in Westdeutschland, auch wenn das aktuell im Vergleich zu Thüringen oder Sachsen wirklich deutlich geringer ist.Welche weiteren Erklärungsansätze gibt es?Auch das Argument, die AfD sei eine Partei des kleinen Mannes, weil die anderen Parteien nur für kosmopolitisch entkoppelte Menschen aus der Berliner Bubble Politik machen würden, trifft empirisch nicht zu. Lange Zeit war es so, dass die AfD-Wähler mehr verdienten als der Median der Bevölkerung und es die Partei mit der zweitgrößten Akademikerdichte war. Ob das noch so ist, weiß ich nicht. Weitere Erklärungen sind das Alter oder Geschlecht. Überproportional viele „mittelalte“ Männer wählen die AfD, getragen vom Hass auf urbane Zentren und deren Neuaushandlungen von Männlichkeit. Die AfD bedient außerdem jene Themen, die in der Bevölkerung mit Unbehagen und Verunsicherung verknüpft sind: Umgang mit Migration, Geschlechterfragen, Impfung, Russland. Ihre Kernbotschaft ist dabei: Wir schaffen ein Deutschland, wie es früher mal war – ohne Pandemie, Krieg, Diversität. Dass in all ihren „Lösungsangeboten“ ein tieferer Rassismus verankert ist, schieben viele Wähler beiseite.Was meinen Sie damit?Ich meine, man muss sich nur das Buch von Björn Höcke durchlesen. Er sagt darin, in Deutschland passiere gerade ein „Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“, und er fordert, dass Deutschland von „kulturfremden“ Menschen gesäubert wird. Ganz deutlich beschreibt er seinen Plan: „neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Grenzen wird ein großes Remigrationsprojekt notwendig sein“. Und die AfD sei „den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet“ und sie könne, „so fürchte ich, nicht um eine Politik der wohltemperierten Grausamkeit herumkommen“. Klarer geht es nicht. Wer sagt, er habe das nicht kommen sehen, ist mindestens naiv. Und dann sind da diese Saturierten, die sich mit sich selbst in Städten wie Sonneberg langweilen. Orte, wo der Arbeitslosendurchschnitt unterhalb des Restes der Bundesrepublik liegt, es den Menschen sozioökonomisch eigentlich besser geht als dem Durchschnitt. Das Leben dort scheint satt, sauber, trocken, aber emotional verwahrlost. Und plötzlich ist da Aufmerksamkeit und Relevanz, weil man rechts und aversiv wählt. Die Kameras kommen, die Welt interessiert sich für einen. Das Gefühl der Grenzüberschreitung gibt einen Kick in die Belanglosigkeit.War das in Sonneberg der einzige Faktor?Nein. Es ist natürlich so, dass dieser Landkreis auch Schwierigkeiten hat, teilweise abgehängt ist von Infrastrukturen, dass Krankenhäuser, Altenversorgung, ÖPNV nicht ausreichend sind – hier also auch ein Zentrum-Peripherie-Konflikt durchkommt. Und ich weiß, dass die Hälfte hier nicht den AfD-Landrat gewählt hat. Hinzu kommt: Abwertungsgefühle oder das Gefühl, nicht gleichwertig zu sein, gehen natürlich nicht weg, nur weil es dem Landkreis jetzt sozioökonomisch besser geht. Jahrelange pauschale Abwertungen von Ostdeutschland und verletzende Stereotype gegenüber Ostdeutschen können dazu führen, sich zu radikalisieren. Das alles ist nur multidimensional zu erklären.Warum ist die AfD in Ostdeutschland so stark?Also zu großen Teilen liegt das an den Strukturen, die die AfD dort aufgebaut hat. Übrigens auch mit viel Geld und Unterstützung aus westdeutschen und internationalen rechtsextremistischen Netzwerken. Ich habe den Eindruck, das bürgerliche Segment der liberaleren Mitte hat sich zu großen Teilen zurückgezogen und diejenigen, die sozial und humanitär seit einem Jahrzehnt gegen die AfD angekämpft haben, sind erschöpft und demoralisiert, weil ihnen aus dem bürgerlichen Lager nicht der Rücken gestärkt wird. Die aktiv Protestierenden versuchen auf die gefährlichen rassistischen Pläne der AfD aufmerksam zu machen und werden als Nestbeschmutzer und Unruhestifter aus den eigenen Communitys gestoßen und als Übertreiber dargestellt. Dabei ist der Plan, den Höcke hat, dass er eine groß angelegte Remigration – also Ausweisung – aller „kulturfremden“ Menschen in Deutschland als eine der ersten Aktionen sieht, wenn die AfD an die Macht kommt, ja ohne Zweifel ein Projekt der ethnischen Säuberung. Seine „Remigration“ bezieht sich nicht nur auf jene, deren Asylstatus hier nicht anerkannt wurde und die als ausreisepflichtig gelten, sondern es ist eine allgemeine Definition, die er für afrikanisch- und asiatischstämmige Menschen nutzt. Da steht, wie man eben nachlesen kann, auch drin, dass das relativ schnell erfolgen soll und dass die wohltemperierten Grausamkeiten auch die Unterstützer treffen können. Das sind finstere Pläne.Placeholder image-1Er will also große Teile der deutschen Gesellschaft loswerden?Ja. Allerdings denke ich, Höcke hat sich ein bisschen verschätzt. Diese geplante Massenausweisung gerade in einer Zeit, in der Deutschland auf mindestens 1,5 Millionen Migranten pro Jahr angewiesen ist, um seine Strukturen aufrechtzuerhalten, würde das Land nicht nur moralisch, sondern ganz praktisch ruinieren. Der Ausweisungsplan würde ja auch in die Zukunft hallen: Diejenigen, sagen wir mal Fachkräfte, auf die Deutschland aktuell besonders angewiesen ist, überlegen sich dann gut, ob sie in ein Land kommen, wo alle ihre Brüder und Schwestern gerade ausgewiesen wurden. Ganz gleich, ob sie als Geflüchtete auf Asyl warten oder seit Jahrzehnten hier arbeiten. Die Migration hat sich in Deutschland in alle Sektoren und Strukturen eingeschrieben.Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Migrationshintergrund in Deutschland zur Mehrheitserfahrung werden wird. Was glauben Sie, wieso das so vielen Menschen Angst macht?Wenn wir auf die Zahlen schauen, sehen wir wahrscheinlich schon 2030 den Tipping Point bei den Kindern. Sie machen jetzt schon 40 Prozent aus und könnten bis 2030 bei 50 Prozent liegen. Ich kann nachvollziehen, dass das Gefühl nach Ähnlichkeit einem Sicherheit gibt. Es kann Menschen ein Gefühl von Unsicherheit geben, wenn Räume so divers werden, dass Ähnlichkeiten aufzuspüren unübersichtlicher wird. Es gibt Menschen, die das Gefühl haben, „ihr“ Land nicht mehr wiederzuerkennen. Aber das Land gehört nicht ihnen.der Freitag: Wem gehört Deutschland?Naika Foroutan: Es „gehört“ den Menschen, die es bewohnen. Und wenn diese Menschen heute ihre Wurzeln aus vielen anderen Ländern haben, so formen sie eben Deutschland neu mit. Das Narrativ, dass das zu Chaos und Unordnung führe, versuche ich mal hier zu brechen. Frankfurt am Main ist eine Stadt, in der 75 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Ähnlich ist es in München, Stuttgart, Augsburg oder Nürnberg. Berlin ist noch nicht mal in den Top Ten, aber die Leute machen daraus immer so ein Berlin-Ding, wenn sie über Multikulturalität reden. Wenn man da genau hinschaut, würde wahrscheinlich niemand München als dysfunktionale Stadt bezeichnen. Insofern ist die Idee, dass Migration so stark mit Dysfunktionalität verbunden wird, eine, die empirisch so nicht haltbar ist.Gibt es Studien zum Wahlverhalten von Personen mit Migrationshintergrund bezüglich der AfD?Ja, es gibt die Zahlen zu den Russlanddeutschen, die sehr stark die AfD gewählt haben. Und wahrscheinlich ist die hohe Zahl in Baden-Württemberg auch darauf zurückzuführen. Ich glaube aber nicht, dass die Russlanddeutschen das einzige migrantische Wählerpotenzial für die AfD wären. Wenn sie nicht so akut muslimfeindlich wäre, wäre die AfD auch anschlussfähig an türkeistämmige AKP-Wähler. Das Weltbild ähnelt sich durchaus. Gegen sexuelle Vielfalt, für Nationalismus, gegen Feminismus, für eine starke Hand. Es gibt ja auch die Gruppierung der „Juden in der AfD“ oder „Migranten in der AfD“, auch einige iranische Nationalisten, die für die AfD stimmen. Wir sollten diese migrantischen Wählerschaften für die AfD zwar anerkennen, aber nicht größer machen, als sie sind.Sollten konservative Parteien wie etwa die Union versuchen, diese Wähler zurückzugewinnen, oder müsste da eine Bekämpfung stattfinden?Es gibt in der CDU ja unterschiedliche Flügel. Die einen wollen die CDU weiterhin als offenere Volkspartei, so wie Frau Merkel das gemacht hat, weiterführen. Da gibt es mit Sicherheit auch viel Unterstützung innerhalb der Parteimitglieder selbst. Und dann gibt es da einen Kreis, der sich sagt: Wir können nur gewinnen, wenn rechts der CDU kein Platz für eine andere Partei ist. Und hier wird eben der rechte Diskurs der AfD imitiert. Dabei sagen fast alle Parteienforscher, dass die Menschen sich dann ja doch für das „Original“ entscheiden. Irgendwann kommt die CDU dann da nicht mehr raus. Das ist vielleicht ein bisschen so wie bei den Republikanern mit Trump. Die haben am Ende ihre konservative Seele gegen rechte Agitatoren verloren und können nicht mehr zurück, ohne sich zu spalten. Wenn Sie mich fragen, glaube ich, das Einzige, was die AfD jetzt noch vermindern könnte, wäre eine neue Partei.Wie müsste eine neue Partei jetzt aussehen?Ich denke, dass eine neue Partei von Sahra Wagenknecht, so wenig ich ihre Positionen auch mag, ein Game Changer sein könnte.Inwiefern?Es gibt ja sehr viele aus der AfD, die auch Sahra Wagenknecht bewundern. Sie setzt teilweise populistische Positionen, ist aber keine intrinsisch rassistische Person, die darüber nachdenken würde, einen Bevölkerungsaustausch zu vollziehen und die Leute, die hier leben, auszuweisen. Und sie hat andere sicherheitspolitische Angebote, wie zum Beispiel Verhandlungen mit Russland – die ich nicht teile, die aber gerade in Ostdeutschland auf Resonanz stoßen. Auch in der alten Friedensbewegung, von der ja leider einige auch in das Querdenkerlager abgewandert sind. Es könnte also auf eine schräge Art und Weise Ost und West zusammenführen. Und sozialökonomisch hat sie natürlich eine klare Position zu Umverteilungen, Enteignungen, die ebenfalls attraktiv sind, vor allem im kapitalismus- und globalisierungskritischen Lager. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie in der Lage wäre, die AfD-Zahlen zu reduzieren und diejenigen AfD-Wähler, die keine tatsächlichen oder verkappten Nazis sind, zu sich zu holen. Ich glaube nicht, dass das irgendeine der anderen Parteien kann. Taktisch sehe ich hier die einzige Möglichkeit. Auch wenn es mir leidtut für die Linkspartei – aber vielleicht könnte die dann eine andere Lücke füllen: Ich würde nämlich auch Bedarf sehen für eine postmigrantische progressive Partei, die über das Migrationsthema kommend andere progressive Themen radikaler adressiert und abräumt. Also gezielt nicht auf die Mitte setzt, sondern auf ein linkes, migrations-, gender- und klimabewegtes Lager. Jetzt, wo die Grünen aus der Regierung heraus viele Kompromisse machen müssen, die ihre Wähler nicht mittragen, die SPD in Teilen zu veraltet ist, um eine politisierte Jugend anzusprechen, die deutlich progressiver ist. Und die FDP ihr Liberalismusverständnis nur auf einen kleinen Teil der Leute reduziert.Welche Partei repräsentiert denn aktuell die Interessen von Menschen mit Migrationshintergrund?Keine.Was ist da in der Regierung schiefgegangen, vor allem bei der SPD? Sie sind ja auch in der Grundwertekommission der Kanzlerpartei aktiv.Ich bin im Herzen Sozialdemokratin, aber die Migration hat dort nicht die Priorität, die die Partei diesem Thema geben müsste. Ich sage das jetzt nicht, weil ich selbst Migrantin bin und hier pro bono argumentiere. Wenn jemand adressiert, dass Klima eines der relevantesten Themen der Zeit ist, macht diese Person das auch nicht, weil sie selbst ein Gletscher ist. Es ist einfach so, dass Migration die Achillesferse dieses Landes sein wird. Bei dem kürzlich verabschiedeten Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist die Zahl, die die FDP aktuell nennt, dass es maximal 25.000 Fachkräfte hierherbringen könnte. Bleibt also die Frage, vor der sich alle drücken: Woher kommen denn die anderen 375.000, wenn die Wirtschaftsforschungsinstitute sagen, wir brauchen mindestens 400.000 netto an Zuwanderung? Die Leute drücken sich vor diesen Antworten und denken ihre Argumente nicht zu Ende.Das deutsche Einwanderungsgesetz soll dem Vorbild des kanadischen Systems folgen.Kanada hat sich ja schon sehr lange einem Punktesystem verschrieben, und dadurch justieren sie natürlich immer wieder Dinge nach. Sie erspüren internationales, globales Migrationsgeschehen schneller. Zudem haben sie nach Covid relativ schnell verstanden, dass es zu einer Verknappung von Arbeitskräften auch in niedrig qualifizierten Sektoren kommen wird, die wir nicht auf dem Schirm hatten, die aber auch in Deutschland sehr schnell als systemrelevant benannt wurden. Es haben Personen im Supermarkt gestanden und gearbeitet, während der Rest im Lockdown war. Oder in Krankenhäusern als Krankenschwestern, Ärztinnen oder Pflegekräfte, aber auch als Reinigungskräfte. In Kanada haben sie dementsprechend ihren Punktekanon umgestellt von „high skilled workers“ auf „relevant skilled workers“, also von qualifizierten Fachkräften auf relevante Arbeitskräfte. Und relevante Arbeitskräfte sind eben aktuell auch in Deutschland solche, die nicht unbedingt schon ausgebildet kommen müssen. Deswegen ist diese ganze Debatte um die Fachkräfte, die verschärft geführt wird, als könnte man sich so handgepickt Migranten einkaufen, auf der einen Seite nachvollziehbar, aber auf der anderen Seite hochgradig naiv.Und in dieser Situation muss Deutschland nun reagieren?Die demografische Lage ist so, dass Deutschland und andere Industrienationen kurz-, mittel- und langfristig auf Migration angewiesen bleiben werden. Sie konkurrieren untereinander um migrantische Arbeitskräfte und gleichzeitig mit wirtschaftlich aufstrebenden Ländern im Globalen Süden. Gerade die Golfregion erlebt einen Aufschwung dadurch, dass Russland nicht mehr der zentrale Energielieferant Europas ist. Die negativen Konsequenzen der ganzen Grenzsicherungsdebatten auf Arbeitskräftemigration sind noch nicht so stark in den Köpfen der Menschen präsent. Weil sie denken: Wir müssen unsere Grenzen schützen vor unkontrollierter Migration und alles hochfahren. Und parallel dazu führen sie einen Diskurs über Fachkräfteeinwanderung, so als hätten diese beiden Dinge nichts miteinander zu tun. Sie vergessen, dass über Flucht eben auch Fachkräfte hierherkommen. Ich glaube, wenn Sie in heutige Biografien von Migranten und Migrantinnen schauen, die jetzt hier als qualifizierte Fachkräfte arbeiten, sind viele von ihnen mit Eltern gekommen, die keine Fachkräfte waren. Ich mache hier jetzt einen persönlichen Bezug. Mein Vater ist aus Iran geflohen und hier nie richtig angekommen. Ich bin heute eine qualifizierte Fachkraft und meine Geschwister auch. Das heißt, dieses Wetten auf die Zukunft, das vergeben wir uns gerade dadurch, dass wir so massiv versuchen, eine Festung zu werden. Und das in einer Zeit, in der wir eigentlich keine Festung sein müssten, sondern ein Marktplatz.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1