Es ist eine lange dauernde, material- und personalintensive Militärübung, die Zahl der daran teilnehmenden Soldaten mit 90.000 so groß wie seit 1988 – mitten im Kalten Krieg – nicht mehr. Auch die Übungsannahme ist mit jener Zeit vergleichbar: Die westliche Allianz probt die Abwehr eines russischen Angriffs auf das Bündnisgebiet. Das mag legitim sein, die NATO muss sich mit allen möglichen, auch unwahrscheinlichen Einsatzszenarien auseinandersetzen. Die Bereitschaft, sich darauf einzustellen, sollte vorhanden sein.
Anlass zur Debatte bietet allerdings das dieses Manöver vorbereitende und begleitende Narrativ. Im politischen Diskurs, durchaus durch Experten befördert, wird immer dringlicher von einem Angriff Russlands auf Europa, konkret au
konkret auf eines oder mehrere östliche NATO-Mitglieder gesprochen. Abgeleitet wird dieser Diskurs aus dem Krieg in der Ukraine. Ein besonders intensiv verwendetes Narrativ resultiert aus der Behauptung, dass die Ukraine die Sicherheit Europas verteidige. Sollte Russland seinen völkerrechtswidrigen Krieg gewinnen, werde es sich danach gegen die NATO wenden, so die Schlussfolgerung.Ziemlich sicher gibt es revanchistische Ambitionen in der russischen Führung. Aber derartige Bestrebungen sind das eine, militärische Fähigkeiten das andere. Angesichts der entzauberten konzeptionellen Schlagkraft der Armee Russlands in der Ukraine sind dessen Streitkräfte mindestens ein Jahrzehnt lang gewiss nicht in der Lage, gegen NATO-Terrain vorzugehen. Dauert der Krieg noch sehr lange, dürfte dieser zeitliche Horizont entsprechend länger zu bemessen sein.Unterstützung für die UkraineMilitäranalytiker werden einerseits nicht müde, davon zu reden, dass bestens ausgebildete russische Verbände im Krieg längst aufgerieben wurden; übrig sei deutlich weniger oder schlecht qualifiziertes Personal. Gleichzeitig sprechen diese Experten jedoch davon, dass Russland die NATO angreifen könne, wobei einem solchen Szenario eine deutliche Wahrscheinlichkeit zuerkannt wird. Aber ist tatsächlich davon auszugehen, dass Russland mit „armseligen, schlecht ausgebildeten Truppen“, wie es zuweilen heißt, in Polen einmarschiert? Beide Befunde sind nicht synchronisierbar, worunter ihre Glaubwürdigkeit leidet.Der dominierende Diskurs bedient sich des zentralen Arguments, dass man ein Angriffsszenario nur verhindern könne, indem die militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine fortgesetzt oder gar intensiviert werde. Wenn dieses Land die Sicherheit Europas verteidige, biete sich dazu keine Alternative. Beide Diskurselemente sollen helfen, wachsender Kriegsmüdigkeit in westlichen Staaten oder Zweifeln an einer militärischen Lösung in der Ukraine entgegenzuwirken. Die Menschen sollen zu der Überzeugung gelangen, dass es besser ist, die Ukrainer gegen ein Russland, das Europa angreifen will, kämpfen zu lassen, als die eigenen Soldaten in einen Kampf gegen russische Streitkräfte schicken zu müssen.Nicht überzeugend ist freilich das Argument, das NATO-Manöver würde die Sicherheitslage auf dem Kontinent noch verschärfen und die Kriegswahrscheinlichkeit erhöhen. Dazu hat Russland schon das Wesentliche beigetragen. Ein Bündnis, das seine Mitglieder verteidigen und beschützen will, muss die Skala seiner Fähigkeiten ausbauen – dies auch im Blick auf unwahrscheinliche Szenarien. Zu hinterfragen ist daher nicht das Manöver, sondern der politische Diskurs, der die Übung begleitet.