NATO-Neuling Finnland: Amerikanische Soldaten hier, wer hätte das gedacht!
Report NATO-Beitritt, Verteidigungsabkommen mit den USA, 70 Prozent einer Generation zur Armee: Ein Besuch in Finnland – bei Soldaten, der Außenministerin und einem der wenigen Kritiker der Aufrüstung gegen Russland
Da ist diese Kleinigkeit mit den Händen. Schau, sagt Niklas Leminen, eine Gruppe junger Männer geht den Weg hinauf, das fällt mir bei den Amerikanern auf, sie stecken ihre Hände in die Taschen. Ich mag das nicht. Mittagspause, frischer Schnee auf Wiesen, die Uniformen der Amerikaner sind leicht gesprenkelt, die Finnen tragen dunkleren Flecktarn. Leminen hält zwei an, kurze Anweisung: Hände aus den Taschen, tragt Handschuhe. Ein Ruck geht durch die beiden, sie stehen plötzlich ernster. Das ist es, was ich meine, raunt Leutnant zur See Niklas Leminen, eine Kleinigkeit. Kopfschütteln: Hände in den Hosentaschen ist nicht soldatisch.
Dragsvik, Sammelgemeinde Raasepori in Finnlands Südwesten: Im Wald stehen langgestreckte Ziegelbauten, etliche Tei
tliche Teile der Bataillons-Kaserne wurden gebaut als Finnland zum russischen Reich gehörte, weiter unten greifen Stege ins Meer, hier beginnt der Schärengarten. Und hier endet in dieser Woche der Grundwehrdienst. Bis zu einem Jahr haben Wehrdienstleistende bei der Nylands Brigad verbracht, wurden Marineinfanteristen, trainierten amphibische Operationen, einfache Rekruten bleiben kürzer, Spezialisten etwas länger. Mittagspause dann in der großen Kantine.Placeholder image-1Die Brigade ist die einzige schwedischsprachige Einheit des Landes, jetzt bringen die Rekruten Uniformen zurück, Rucksäcke, Bettzeug, Wollsocken, in einer weiten Halle stehen Gitterboxen mit Schlafsäcken, würziges Aroma, zum Schluss werfen sie Anhänger in Plastikboxen – Rangabzeichen, die finnische Fahne. Dann sind sie wieder Zivilisten.Nicht ganz allerdings, vielleicht geht ihre Geschichte weiter wie die von Niklas Leminen. Der absolvierte seine Wehrpflicht, begann Wirtschaftswissenschaften und Jura zu studieren, arbeitete in den Niederlanden für einen amerikanischen Sportartikelhersteller. Irgendwann, sagt er, habe ich mich gefragt, ob es das ist, womit ich mein Leben verbringen wollte. Mehr Turnschuhe zu verkaufen? Leminen hatte seinen Wehrdienst hinter sich.Mehr Frauen zum MilitärAusgebildete Soldaten in Finnland werden als Reservisten geführt, Mannschaftsgrade bleiben es bis zum 50. Lebensjahr, Offiziere zehn Jahre länger. Sie machen Auffrischungslehrgänge, nach Spezialisierungen und Alter eingeteilt. Erste Folge von Russlands Krieg: Bald sollen Offiziere bis 65 als Reservisten eingespannt werden. Außerdem sollen mehr Frauen zum Militär bekommen – Finnlands Demographie läutet gerade geburtenschwache Jahrgänge ein. Rund zwei Prozent Frauen dienen bereits.Die Armee besteht überhaupt nur aus 24.000 aktiven Soldaten, im Kriegsfall werden es sofort 280.000. Dazu kommen Reservisten, bis zu 870.000 stünden für eine Kriegsmobilisierung bereit – Reservisten sind für territoriale Verteidigungsstrategien wichtig, sie bilden eine Brücke zur zivilen Gesellschaft, sollen dann rückwärtige Räume sichern, oder Logistiktransporte. In einigen finnischen Kompanien ist nur der Kommandeur ein aktiver Soldat, ab und an nicht einmal der. Reservisten machen 97 Prozent der Armee aus. Das ist günstiger als sie anzustellen.Leminen kehrte aus den Niederlanden zurück, ging zur Kadettenschule. Jetzt ist er Leutnant zur See und Ausbilder der Soldaten, die gerade zur Kantine schlendern: Im Jahr werden hier rund 1.500 Wehrdienstleistende ausgebildet, fest beschäftigt die Brigade 200 Menschen, 30 sind Zivilisten.Placeholder image-2Und da sind eben die Amerikaner. Pekka Snellman, Chef des Stabes und Fregattenkapitän hat in der Früh aus dem Fenster geschaut, ein grauer Tag. Aber neben der finnischen Fahne hängt das Banner der USA – Snellmann lehnt sich im Bauch der Kaserne etwas zurück – vielleicht muss er das Bild noch verdauen. Im Moment trainieren 250 amerikanische Soldaten mit den Küstenjägern. Als NATO-Mitglied müsse sich nun einiges ändern – ein Witz macht die Runde, Finnland sei beigetreten, nun müsse das auch die Armee tun. Das wird ein wenig dauern, sagt Snellman, dann ist er wieder beim Blick aus dem Fenster: Wer hätte das gedacht, sagt er, amerikanische Soldaten, hier, in Finnland. Er will, dass man das genau versteht: Er freut sich.Interessanter Zeitpunkt für einen Besuch also – in Deutschland (Reservistenzahl: ca. 34.000) wurschtelt sich die Bundeswehr bekanntlich eher schlechter durch als recht. Bei Hintergrundgesprächen zaubert der Begriff der Zeitenwende Pressesprechern und Politikern zwar noch immer ein wenig Wangenrot auf die Gesichter: Er hat schlagartig für eine höhere Akzeptanz der Truppe in der Gesellschaft gesorgt. Allerdings ist die einfacher zu bekommen als fahrendes und fliegendes Gerät. Daneben hat der russische Krieg gegen Ukraine und Völkerrechtsordnung auch die Diskussion um die Wehrpflicht wiederbelebt: Wenn der Bundeswehr-Generalinspekteur feststellt, dass man in fünf bis acht Jahren verteidigungsfähig sein sollte, der Verteidigungsminister eine kriegstüchtige Armee organisieren will (was wäre auch sonst ihre Aufgabe?), ist Geld das eine. Um ein Wehrpflichtmodell kommen beide nicht herum. Reservistenverbände wissen, dass sie fast doppelt so viele Mitglieder bräuchten und rufen längst nach Grundwehrdienst. Pekka Snellmann erklärt, dass in Finnland etwa 70 Prozent einer Generation zur Armee kämen. Das prägt ein Verhältnis zum Militär.Diese Beziehung hat viel mit Geographie, auch mit Geschichte und politischen Entscheidungen zu tun. Wer Politiker sucht, die einem das erklären können, muss nach Helsinki fahren: Jukka Kopra sitzt seit dem Regierungswechsel letztes Jahr für die konservative Kokoomus-Partei dem Ausschuss für Verteidigung vor und nun beim Mittagessen im Parlament. Kopra kommt aus dem Südosten des Landes, wohnt nur zwei Dutzend Kilometer vor der Grenze zu Russland. Er holt sein Telefon heraus und zeigt ein Selfie. Da steht er im Wald, zwischen Blaubeerbüschen. Das, sagt er, ist Russland, das bin ich und das ist Finnland.Das geheime Zusatzprotokoll des Molotow-Ribbentrop-PaktesDie karelische Grenze erinnert nicht nur ihn an Aufteilung und Besatzung: Das geheime Zusatzprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Paktes vom August 1939 hatte Finnland der russischen Einflusssphäre zugeschlagen. Als Stalin sich aufmachte, das Land einzunehmen, war die finnische Armee schlecht gerüstet, Parlamentsparteien stritten über das Verteidigungsbudget, die Armee hatte gerade dreißig Panzer und einhundert Panzerabwehrkanonen – und hielt überraschend lang die Verteidigungslinien. Hinterher musste Finnland trotzdem die von Stalin geforderten Gebiete abtreten. Der Winterkrieg 1939/40, schließt der Historiker Henrik Meinander, „hatte deutlich gemacht, dass im Ernstfall nicht mit militärischer Hilfe von den Westmächten oder von Schweden zu rechnen war, wenn es beim Krieg nur um die staatliche Souveränität Finnlands ging.“ Als besten Verbündeten erinnern die Finnen den strengen Winter.In Kopras Foto liegt mehr als nur Zeigefreudigkeit – wenn man so will, baut auf die Erfahrung, allein im Wald zu sein, die militärische Doktrin des Landes, die Organisation der Armee auf. Die Nachkriegsregierungen wollte zwar zunächst das Misstrauen gegen den Nachbarn eindämmen, hielten sich bei der Rüstung zurück. Diese Zeiten sind vorbei. Kurz vor Weihnachten unterzeichnete Finnland auch ein Verteidigungsabkommen mit den USA – das, erklärt Jukka Kopra, bedeute viel schnellere militärische Hilfe mit stationiertem Equipment vor Ort als die bürokratische NATO. Seit der Eskalation des Ukraine-Krieges 2022 ist Finnland also Teil eines militärischen Zusammenspiels geworden, das es über Jahrzehnte ablehnte. Kopra greift ein wenig ins Pathos: Ich halte das für den Schlusspunkt auf unserem Weg zur Unabhängigkeit.Staatlich organisierte Migration aus RusslandUnd die wird geprüft: Kopra erzählt, was sie aus Geheimdienstinformationen wissen – Russland sei entschlossen, sie herauszufordern. Allerdings unterhalb der Schwelle zu Artikel 5, also ohne einen Verteidigungsfall des Bündnisses zu provozieren. Vor Jahren schickte Russland hunderte Menschen aus Ländern wie Libyen oder Somalia an die Grenzübergänge im Wald. Der finnische Präsident Sauli Niinistö rief Wladimir Putin an, nachdem in den ersten beiden Monaten des Jahres 2016 plötzlich 1.600 Menschen über die Grenze wollten. Die Präsidenten verständigten sich, man kehrte zurück zum Protokoll – immerhin kontrolliert auf russischer Seite der FSB über viele Kilometer den Zugang zur Grenzregion, Bewohner haben spezielle Genehmigungen.Dann wurde eine Journalistin, die russische Internet-Trolls enttarnte, über viele Monate diskreditiert. Russische Militärflugzeuge verletzen den finnischen Luftraum. Inzwischen winken russische Konsulate wieder Visaanträge in Nordafrika und im Nahen Osten durch, im Herbst erreichten über eintausend Menschen die Grenze, auch im Winter wollten sie oft nur mit Fahrrädern und in Turnschuhen nach Finnland: Staatlich organisierte Migration, nach ein wenig hin und her schloss Finnland vor Weihnachten alle Übergänge, auch wenn die EU rechtliche Bedenken anmeldet.Außenministerin Elina Valtonen spricht sehr gut DeutschAußenministerin Elina Valtonen gehört zum liberalen Flügel der Konservativen, spricht sehr gut Deutsch, sitzt in einem elegant getäfelten Besprechungszimmer des Parlaments. Sie wird deutlich: Wir können nicht zulassen, sagt sie, dass ein Nachbarstaat bestimmen will, wen wir aufnehmen. Sie hat präzise Zahlen, vor allem aber habe Russland auch Kriegsverbrecher an die Grenze zu Finnland gebracht. Um welche Verbrechen, in welchen Ländern es dabei geht? Darf sie noch nicht sagen. Aber, Grenzverletzungen, Flüchtende, Provokationen: Russland führe längst einen hybriden Krieg. Elina Valtonen umhäkelt ihre Analyse nicht mit diplomatischen Floskeln, heute, sagt sie, säße der Faschismus im Osten. Das müsse auch Deutschland erkennen: Wir müssen uns verteidigen gegen eine Kraft, die etwas verkörpert, das uns und Deutschland aus der Geschichte bekannt ist.Dafür beläuft sich das Militärbudget inzwischen auf rund 2,3 Prozent des Bruttosozialprodukts – während die Regierung aus Konservativen, Rechtspopulisten, Liberalen und Christdemokraten gerade wieder kräftig beim Wohlfahrtsstaat kürzt. Warum das akzeptiert wird, kann Heikki Patomäki gut beantworten. Er ist Professor für Weltpolitik an der Universität von Helsinki, einer der ganz wenigen Kritiker von NATO-Beitritt und Militärpolitik, immer mal wieder wird er auch ins Fernsehen eingeladen.Eingebetteter MedieninhaltSeit den 1990er Jahren, erklärt er – Bankenkrise, das Land nahm einen tiefen Schluck aus der neoliberalen Pulle – habe sich manichäisches Denken etabliert. Eine Frontalstellung zwischen Gut und Böse, wobei Russland eine eindeutige Rolle zugewiesen wurde. Mit dem Rückzug des Staates habe ein immer stärkerer Wettbewerb den Rhythmus vieler Menschen geprägt. Die nähmen plötzlich auch die Geschichte anders wahr: Wer die paradoxe Formulierung unterstützte, dass der Wohlfahrtsstaat beschnitten werden müsse, um die Wirtschaft in Gang zu bringen, erklärten auch, dass man im Kalten Krieg auf der Seite der guten Liberalen hätte stehen sollen, den Amerikanern. Die NATO-Mitgliedschaft, sagt Patomäki, sei auch derart einfachem Denken begründet worden.Mehr noch: Der alltägliche Wettbewerb mache Menschen verwundbar, steigere das Gefühl von Unsicherheit, sagt er. Und schaffe mit dem Ende des Wirtschaftswachstums einen fruchtbaren Boden für Argumente der Sicherheitspolitik. Aber weil wir ein pragmatisches Land sind, ein hauchzartes Lächeln umspielt Heikki Patomäkis Mundwinkel (vielleicht der Gedanke an die in Deutschland gerngeliebte Figur der Friedensdividende), wissen wir auch, dass wir politische Entscheidungen bezahlen müssen.Zurück nach Dragsvik, Besprechungsraum im Bauch der Kaserne. Fregattenkapitän Snellman hat Übersetzungswissenschaften studiert, Masterarbeit 2014, aber die Akademie schien ihm zu theoretisch. Also zur Armee, Einsatz Afghanistan, viel Sport, Patrouillen, eine Sauna gab es auch. In Hamburg machte er einen Kurs an der Führungsakademie der Bundeswehr, gerade schreibt er seine Doktorarbeit. Er ist sehr einverstanden damit, dass Offiziere in Finnland keiner Partei angehören, sich nicht einmal parteipolitisch äußern dürfen. Wenig Verständnis hat er für eine deutsche Haltung, die Realitäten nicht wahrhaben will. Oder vielleicht einfach andere die Drecksarbeit machen lässt. Pekka Snellmans Lächeln weicht dann schnell. Wir wissen, dass Deutschland ein Trauma hat, wenn es ums Militär geht, sagt er. Aber das muss es überwinden. Es muss in Europa eine Führungsrolle akzeptieren.
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