Das Archipel der Åland-Inseln, in der Ostsee zwischen Schweden und Finnland gelegen, bildete bis 1918 den westlichsten Vorposten des russischen Zarenreichs. Die rein schwedischsprachigen Inseln sind seit der Niederlage Russlands im Krimkrieg 1856 demilitarisiert und seit 1921 autonomer Bestandteil Finnlands. Es ist Teil der Ålander Identität geworden, „Insel des Friedens“ zu sein. Åland war ein Modell für Südtirol und könnte als solches bald wieder dienen.
Ich lande auf der Hauptinsel von gut 6.500 Eilanden und Schären, auf der 90 Prozent der Bevölkerung leben, und gehe sogleich zur täglichen Friedensdemo. Darüber, dass sich auf den Ålands keinerlei Militär befindet, soll auch ein russisches Konsulat wachen, vor de
en, vor dem nun seit Ende Februar 2022 demonstriert wird. Ich komme an einem gewöhnlichen Sommertag und zähle 28 Demonstranten, mit meinen 50 bin ich der Jüngste. Man beginnt um fünf, pflanzt sich mit ukrainischen Flaggen auf dem Grünstreifen vor dem Konsulat auf, schreit fünfmal „Ukraina!“, fünfmal „Free Navalny!“, fünfmal „Fred i Ukraina!“ („Frieden in der Ukraine“). Dann singt man zweimal Beethovens Europahymne auf Schwedisch, plaudert noch ein wenig übers Weltgeschehen und geht auseinander. Einige hier sehen die finnische Petition zur Schließung des Konsulats skeptisch: „Besser den Feind in Sichtweite zu haben“, sagen sie, „auch mit dem Feind muss man kommunizieren.“Die ukrainische Frau des russischen KonsulsIm Konsulat, in dem nur noch der Konsul und seine Frau ausharren, rührt sich nichts. Einer der Organisatoren traf einmal die Frau hier auf dem Markt der Hauptstadt Mariehamn. Sie erzählte ihm, dass sie aus der Ukraine stammt. Er fragte sie: „Wann hört dieser Krieg endlich auf?“ Darauf konnte die ukrainische Frau des russischen Konsuls nicht antworten – und brach in Tränen aus.Åland hat eine eigene Regierung und sein Parlament, auf dem jetzt die ukrainische und åländische Fahne wehen. Åland hat ganz andere Autokennzeichen als Finnland, sie sind klein, lieblich, blassblau. Åland ist in der EU, aber nicht in der Zollunion, was ein Geschäftsfeld von mehrwertsteuerfreien Shopping-Kreuzfahrten begründet, wobei viele Kreuzfahrer nie auf Åland aussteigen.Åland ist mit Finnland der NATO beigetreten, ohne dass die sich auf dem Archipel zeigen darf. Ich wandere zur mittelalterlichen Waldkapelle in Lemböte, an der Seeleute auf Reisen zwischen Skandinavien und dem Baltikum Rast hielten. Die schmucklose Olafskapelle war bereits im Wegdauer-Verzeichnis von König Waldemar eingetragen. Waldemar, Wladimir, Wolodymyr, die Waräger, die Kiewer Rus und Wladimirs Taufe auf der Krim – nicht zufällig haben die schwedische und die ukrainische Flagge dieselben Farben. Besonders Åland und die Krim leben mittlerweile geradezu in parallelen Welten: In beiden Fällen geht es um eine Insel oder Halbinsel, die einem erst entstehenden Staat (Finnland, Ukraine) „geschenkt“ wurde, während sie sich mindestens sprachlich einem stärkerem Nachbarn (Schweden, Russland) zugehöriger fühlte. Auch Åland votierte 1917 mit 96 Prozent für Schweden und wurde übergangen.Ich gehe ins Ålands Fredsinstitut und frage Sia Spiliopoulou Åkermark. Aufgewachsen in Athen und Stockholm, ist die scheidende Direktorin nach 17 Jahren überall als „Sia“ bekannt. Sie nimmt zuweilen an der bewussten Demo teil, meint aber: „Der Westen hat viele Fehler gemacht. Ein Land wie die Ukraine kann nicht komplett auf der einen oder der anderen Seite sein.“ Finnland hingegen habe in der Verfassung von 1919 „seine Komplexität affirmiert“ und sei wohl auch deswegen in den 1930er Jahren nicht in die Diktatur abgerutscht.Hoffnung für die KrimStatt von einem „Modell“ spricht sie lieber vom „Ålander Beispiel“. In Debatten etwa mit Armeniern und Aserbaidschanern hört sie oft das Argument, Åland sei ein unvergleichlich „einfacher“ Fall. „Viele wollen eine einfache Lösung und scheitern daher.“ Die einst von zehn Signatarstaaten beim Völkerbund garantierte Åland-Konvention „war ein Kompromiss, der die Interessen der Großmächte berücksichtigt hat, das war sehr realistisch“. Wäre Demilitarisierung à la Åland also eine Lösung für die Krim? „Das Minsker Abkommen hat nicht gut funktioniert“, antwortet die Friedensforscherin, „aber hier hat Russland gezeigt, dass es das Åland-Abkommen einhält.“ Europa bräuchte auf jeden Fall weitere demilitarisierte Zonen, wie es neben Åland auch Spitzbergen oder der Bosporus seien, ein derartiger Status der Krim müsste aber „die legitimen Interessen aller Parteien bekräftigen“.Ich halte noch bei den Ruinen der einst westlichsten russischen Militärbasis Bomarsund. Zwischen einer altväterlichen Campingwiese und eleganten Strandvillen gelegen, erzählen die Wallreste vom gigantischsten Bauprojekt, das Åland je gesehen hat. Allein die geplante Vorratshalle sollte 100.000 Mehlsäcke fassen, die 1832 bis 1843 gebaute Festung zählte 243 Räume. Als Briten und Franzosen die Festung 1854 angriffen, war kein einziger der zur Verteidigung vorgesehenen Wehrtürme fertig. Gewiss wird Russland Sewastopol nicht so leicht aufgeben wie einst das Zarenreich Bomarsund, doch bleibt ein Rest an Hoffnung, dass es auch auf der Krim einmal so gut wird, wie es heute auf Åland ist.Placeholder infobox-1