„Das rote Buch der Abschiede“ von Pirkko Saisio: Finnische Tochter ihrer Klasse
Roman Pirkko Saisio wurde in eine Arbeiterfamilie geboren, entfernte sich aber immer weiter von ihrem Herkunftsmilieu: „Das rote Buch der Abschiede“ bildet den Abschluss ihrer autofiktionalen Trilogie. Eine Begegnung mit der Autorin
Nach den Lockenwicklern griff sie zur Küchenschere und staunte: „Ihr Schädel ist groß und kantig, befreit und absolut modern.“
Foto: Henri Vogt für der Freitag
Och, die Zeit.Pirkko Saisio schaut über den weiten Senatsplatz von Helsinki, Touristengruppen folgen Menschen mit Wimpeln an Teleskopstangen, Familien flanieren in Kleidung, die auch im Mittelgebirge nützlich sein soll, über allem grelle Frühsommersonne im tiefblauen Himmel. Saisio erzählt, wie sie weiter vorn, wo die Einkaufsstraße beginnt, im Winter einmal stürzte. Ihr rollten die wenigen Dinge, die sie sich leisten konnte über Eis und Schnee, sie war umgeknickt, ausgerutscht.
Vor Jahrzehnten war das, Finnland musste sich noch mit der Sowjetunion arrangieren, die Sache mit dem Kommunismus hatte für einige erheblichen Reiz, aber das Land schaute auch gerne nach Westen. Die breite Treppe war damals genauso weiß wie heute, Alexander II. stan
so weiß wie heute, Alexander II. stand auf dem Granitsockel, Pirkko Saisio war mit der Theaterakademie durch und schrieb an ihrem ersten Roman, dem Lebensbogen einer jungen Frau inmitten all der Arbeiter von Helsinki. Eine nur wenig jüngere Studentin war irgendwo aus der Dunkelheit herbeigesprungen, hatte ihr geholfen und gesagt: Machen Sie sich keine Sorge, das passiert auch Menschen in meinem Alter. Saisio, geboren 1949 hier in Helsinki, legt den Kopf schief, bläst die Backen kurz auf. Och, die Zeit.Es gibt viele gute Gründe, um nach Helsinki zu fahren – ein ganz hervorragender ist der Umstand, dass ihr Roman Das rote Buch der Abschiede, der letzte Teil ihrer in Finnland gefeierten, autofiktionalen Trilogie nach 20 Jahren nun auf Deutsch erscheint. Dazu nämlich führt einen Saisio entlang ihrer Lebensstationen durch die Stadt, was es zwar noch schwieriger macht, über Literatur und Leben zu sprechen und beides auseinander zu halten, aber man kann lernen, dass hier alles recht nah beieinander liegt und doch weit voneinander entfernt war.Proletarisch, religiös, fern Die Trilogie sortiert sich lose nach Kindheit im Arbeiterviertel Kallio (heute von Hipstern durchpflügt), nachdem sie aus dem ländlichen Osten der Stadt (heute oft der wohlhabende finnische Einfamilienhaustraum) hergezogen war. Das bedeutete auch hinein ins karge Milieu des Proletariats in dessen Mitte die evangelisch-lutherische Kirche ihre feste Burg aus Granit gebaut hatte: Saisios Eltern waren proletarisch-kommunistisch, gleichwohl religiös. Als sie, zweiter Teil, mit dem Abitur in der Tasche in die Schweiz fährt, um in einem Waisenhaus zu arbeiten, erlebt sie merkwürdige Traditionen und straffe Regeln.Zurück in Helsinki wandert sie über die Brücke in die Innenstadt, ins bürgerliche Kruunuhaka (heute noch bürgerlicher) und stellt fest, dass sie die Konventionen dort nicht beherrscht. Ihr Leben beschleunigt sich, die Dinge stürzen auf sie ein, sie entfernt sich immer weiter von ihrer Familie, ihrer sozialen Klasse. Es zieht sie zu den Bohéme und zum überhaupt nicht absehbaren Leben als Schauspielerin, Autorin, Dramatikerin, Dramaturgin, Regisseurin, die später mit der Filmemacherin Pirjo Honkasalo in der vielleicht bekanntesten lesbischen Partnerschaft des Landes lebt. Diese Beschleunigung und Bewegung bilden in etwa die Mitte des Buchs der Abschiede.Logische Interview-Frage, später in den Räumen der Literaturgesellschaft: Lesen wir da also eine Emanzipationsgeschichte?Das klingt ein wenig seltsam für mich.Warum?Ich muss mir vergegenwärtigen, was mir beim Schreiben durch den Kopf ging, es war der Moment als mein einziges Kind auszog. Es geht um die Liebe zu einer Frau. Der Druck, den so eine Beziehung in der Gesellschaft damals aushalten musste.Saisio zögert einen Moment. Sie hat sich häufig und laut für Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren eingesetzt. Der Roman erzählt auch vom Druck, sagt sie dann, dem sie sich selbst ausgesetzt habe. Weil ich in einer politischen Bewegung mitmachte.Kurze Unterbrechung, notwendiger Rückblick auf die politische Geschichte des Landes: Die lange illegale Kommunistische Partei organisierte ab 1944 ein Bündnis links der Sozialdemokratie, die Demokratische Union des Finnischen Volkes, stellte auch mal einen Ministerpräsidenten, half aber vor allem dem dann autoritär regierenden Zentrumspolitiker Urho Kekkonen für lange Zeit ins Amt. Bei den Volksdemokraten hielten Eurokommunisten die Mehrheit, eine massierte Gruppe favorisierte aber das Sowjet-Model. Trotz Prager Frühling. Unter den Studierenden, die bei den irgendwie Stalin-kritischen Stalinisten mitmachten, war auch Saisio.Die Trilogie ist auch ein Coming of Age der Boomer-Generation, eine Geschichte zwischen Aufstieg, sexueller Orientierung, politischem Aktivismus. Saisio wiegt ihren Kopf. Über den schreibt sie, wie sie ihn frisierte und dabei mit der Küchenschere ihr bisheriges Leben abschnitt: „Die Prozedur mit den Lockenwicklern jeden Mittwoch, das Haarspray, die Tanzabende im Kulturhaus, Mutters Nähclub, die Sonntagsspaziergänge, das Hefegebäck, den Karelischen Fleischtopf, den Konfirmandenunterricht, die Jungs und auch den Plan, Finnischlehrerin zu werden. Sie schneidet ihre Haare ratzekahl ab. Sie mustert sich im Spiegel und staunt: Ihr Schädel ist groß und kantig, befreit und absolut modern.“Wenn man so will, arbeiten im Maschinenraum des dritten Teils der Trilogie unterschiedliche Kräfte – da ist eine recht knappe, kurz rotierende, nüchterne Kraft, zu der eben die Küchenschere alles herausfindet, was es herauszufinden gab. Dass sie lesbisch ist, akzeptiert sie in dem Moment, in dem ihr das eine Frau erklärt. Die Konsequenzen geraten langwieriger: All das der Mutter zu erklären, gelingt ihr halbgut, ihr Begehren in Partnerschaften zu übersetzen, ist ein unsicheres Tasten. Schließlich findet sie Räume und Gruppen, in denen sie ihre eigene Sexualität auch erfahren kann – der Roman spielt diese Dinge eher an, als sie auszuleuchten, poetisch, beinahe scheu. Öfter in bühnendramatischer Dialogform.Der Jargon der Politgruppe Gleichzeitig durchzieht Das rote Buch der Abschiede die Mühsal eines Kollektivs: Nachdem sie in Theaterakademie und die Politgruppe hineingeschlittert ist, muss Saisio darin überleben, sich einen Jargon aneignen, sich beweisen. Verglichen mit der Geschwindigkeit, mit der sie ihre sexuelle Identität akzeptierte, gelingt ihr das mählich. Sich schließlich zu lösen vom autoritären Narzissmus, der Rechthaberei, den strengen Ritualen der Politgruppe ist qualvoll.All das tritt erzählerisch deutlich hinter Liebeswirren und Selbstfindung zurück, Saisio mischt Befremden in ihre Skizzen von Treffen, Auseinandersetzungen und die scheinbare Wichtigkeit all des Aktivismus-Eifers. Ein deutlich erwachsenerer Ton schimmert durch, eine Gelassenheit – ihr politisches Engagement wirkt vom Ende her betrachtet, fast wie ein Bühnenstück. Aber so öffnen sich unterschiedliche Räume, die sich gegenseitig widersprechen: Der einer politischen Organisation, zu der Agitprop und selbstausgemalte Gespräche mit Arbeitern gehören, Fragen von Klasse und Weltpolitik. Die literarische Figur (Saisio wechselt die Erzählperspektive zwischen erster und dritter Person Singular) ahnt die Artifizialität, mit der sie hier ihre Rolle auszufüllen versucht.Im zweiten Raum lernt sie ihre Sexualität zu leben, Beziehungen zu führen. Hier herrscht zwar Gewissheit, aber auch die Angst verlassen zu werden. Saisio findet vorsichtig mit Schwulen und Lesben zusammen, fühlte sich frei. Die politische Doktrin, dass Homosexualität ein Relikt des Kapitalismus sei, ragt blass aus der Politgruppe herüber.Für ihre Mutter war die Sexualität der Tochter ein Tabu, sie schwieg zu Freundinnen, zum Kind. Und unterstützt ihre Tochter wortlos, loyal, gab ihr das Gefühl, alles auch alleine hinzubekommen. Im Milieu der Familie ist sie die unerfüllte, unverheiratete Tochter mit dem vaterlosen Kind. Und so ist es vielleicht das Theater, dass die Räume aufheben konnte, hier wird alles zum Spiel verbrämt – ohne explizit und ernst sein zu müssen, All die Räume muss Pirkko Saisio durchmessen haben, ohne sie gegeneinander auszuspielen, ohne die Moral des einen über den nächsten Raum zu stülpen. Als Autorin wehrte sie sich dagegen, als lesbische Schriftstellerin zu debütieren, später hat sie Romane unter männlichen Pseudonymen verfasst. Und dann lächelnd darauf hingewiesen, wie viel besser die in der Literaturkritik wegkamen. Sie neigt ihren Kopf wieder etwas zur Seite. Ich habe es vielleicht nicht überall herausgekehrt, aber ich habe mich nie dafür geschämt, lesbisch zu sein.Auf dem Senatsplatz unter der strahlenden finnischen Frühsommersonne, lehnt sie gegen das kleine Gitter, das die Alexander-Statue einfasst (ach, die Hüfte, der Fuß) und dreht sich schließlich zu den Frauenfiguren um den roten Granitsockel. Allegorien auf die Moderne sind es: Friede, lieblich, mit den entsprechenden Tauben; Arbeit als Landarbeiterpaar mit Korngarben unterm Arm; Licht, wissenschaftsfreudig mit Spektrometer, sowie einem Engel mit Lyra – Kunst. Meine Freundinnen haben sie immer bewundert, wollten ihnen nachahmen, ähnliche Kleider tragen. In Saisios Gesicht baut sich so etwas wie ein Schmunzeln auf.Um die Statue hat der Schauspieler Matti Pellonpää einmal für Jim Jarmusch längere Runden im Taxi gezogen. Ein winterlich-nächtliches Bild existenzieller Leere, die im besten Fall mit Erzählungen gefüllt wird. Daraus können wir lernen, dass es jemandem immer noch etwas schlimmer gehen kann, dass man sich, zusammengenommen, nicht so haben soll. Glaube nicht, du seist etwas Besonderes. Pellonpää erzählt vom Unglück, von Entscheidungen die ganz klein, privat und gleichzeitig grundstürzend sind. Es ist die letzte Episode in Night on Earth.Pirkko Saisio zeigt auf die Figur, die so entschlossen zum Hafen schaut, wie Alexander II. obenauf: Schild und Schwert in der Hand, begleitet von einem Löwen, dem Wappentier des Landes. Ich wollte immer sein wie sie, Saisio lacht: Gesetz, strenge Züge, in ein Bärenfell gehüllt. Stark sein, sagt Saisio, Waffen tragen.Placeholder infobox-1
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