Pop-Punk 30 Jahre nach ihrem ersten Hit „Basket Case“ erscheint ein neues Album von Green Day. Warum der Name Green Day synonym für Guilty Pleasure steht, wo ihr Bassist einen Zahn verlor und was wir George W. Bush verdanken: Unser Lexikon
Für echte Punk-Fans ist Green Day eher ein Guilty Pleasure
Foto: Nigel Crane/Redferns
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wie Abhängen
Ohne mit Gen X, Y oder gar Z kommen zu wollen: Einer der sichersten Generationsmarker ist das Abhängen. Wer abhängt, stammt aus den 1970ern, später Geborene cornern oder chillen. Dieses Abhängen stellte eine komplexe alltagsästhetische Praktik dar, die Gitarrenmusik (Hip-Hop ist Chillen!), spezielle Turnschuhe (Vans, Chucks, keine Joggingmodelle!), bestimmte Haar- wie Hosenschnitte, Pullis, Rauschmittel (kein Pulver, nichts Synthetisches!) sowie → Skateboards als Sitzgelegenheiten erforderte. Und so war es ein smarter Markenpositionierungs-Move von Billie Joe Armstrong (Jahrgang 1972), seine Band Green Day zu nennen: Sich einen „grünen Tag“ zu machen, hieß im San-Francisco-Bay-Area-Slang ja nichts anderes, als mit Gitar
Slang ja nichts anderes, als mit Gitarrenmusik, bestimmten Schuhen, Hosen usw. auf Skateboards zu sitzen und Maulaffen feilzuhalten. So sehen die gut abgehangenen Peers dieser Zeiten mitunter noch immer aus wie Billie Joe Armstrong – und freuen sich auf dessen neues Werk, sei es auch nur als → Guilty Pleasure. Velten SchäferBwie Billie Joe Armstrong„Wunderbar“, antwortete der gerade einmal fünfjährige Billie Joe Armstrong, als ihn 1977 seine Gesangslehrerin in einem Interview fragte, wie es sich anfühlt, seine erste Platte aufzunehmen. Ja, richtig gelesen: Armstrong nahm erstmals Musik auf, als er vermutlich noch nicht einmal lesen konnte. Die Interviewpassage wurde später dem Green-Day-Song Maria (2001) vorangestellt.Einer klassischen Musikerfamilie entsprang Armstrong nicht gerade, auch wenn der Vater Schlagzeug in einer Jazzband spielte. Als sein Vater starb, erhielt Billie Joe – er war da erst zehn – seine erste E-Gitarre, eine blaue Fender Stratocaster. Das Instrument (→ Drums) wurde zu einem lebenslangen Begleiter. Über den frühen Tod des Vaters schrieb Armstrong später den Song Wake Me Up When September Ends – einer der größten Erfolge der Band. Konstantin NowotnyDwie DrumsIch bin 16 oder 17 Jahre alt und sitze mit ein paar Freunden zusammen, im Hintergrund läuft Musik. Bis einer plötzlich die Hände hebt und zum genauen Zuhören auffordert. „Do you have the time / to listen to me whine?“, so beginnt dieser Song mit der Stimme von → Billie Joe Armstrong und einer zurückhaltenden Gitarre. Dann setzen leise die Hi-Hats ein – bis Schlagzeuger Tré Cool plötzlich einen wahren Sturm entfesselt. Und zwar genau zwischen den Textzeilen „It all keeps adding up“ und „I think I’m cracking up“. Die Rede ist natürlich von Basket Case, einem der erfolgreichsten Songs der Band und einer wunderbaren Gelegenheit, einem Instrument zu huldigen, das schon aus akustischen Gründen in der Regel ein Hintergrunddasein fristet. Nebenbei lernte ich, dass auch Rockmusik ein genaues Ohr verdient. Leiht man es diesem Song, kann man auch hören, dass seine Akkordfolge an Pachelbels Kanon in D-Dur erinnert. Ob das etwas damit zu tun hat, dass Armstrong das Lied auf Speed verfasst hat?Leander F. BaduraEingebetteter MedieninhaltGwie Guilty PleasureGreen Day also, was war da noch? Kaum setzt man sich ans Endgerät, da poppt schon einer dieser Pop-Punk-Blogs auf, die man früher „Fanzine“ genannt hätte. Wie sich das trifft, denkt man, und zack, steht Green Day auch gleich ganz oben, als Headliner so einer Liste: Zehn Top-Bands, die … Ja, die von besagten Punk-Fans am meisten gehasst wurden. Stimmt, da war was, nämlich der Doppel-Hate: Green Day war genau die Band, die nicht nur die Eltern grausig fanden, sondern auch die Kumpels, weil’s eben nicht Bad Brains oder Black Flag war, nicht SNFU oder, was gerade noch ging, so was wie NOFX, sondern eben nur Green Day. Die Jungs, die alle gut finden konnten – die Definition von Guilty Pleasure. Und dann macht man die Augen zu, während sich im Hinterkopf wie selbsttätig Basket Case (→ Drums) einschaltet: „I am one of those melodramatic fools …!“ VSHwie HausverbotEs ist nicht unüblich, dass Punkbands des Hauses verwiesen werden, aber was Green Day widerfuhr, darf wohl als Präzedenzfall gelten: Ausgerechnet der 1986 gegründete, später legendäre Punk-Club 924 Gilman Street im kalifornischen Berkeley sah sich wegen der Band in den 1990ern gezwungen, den sieben Hausregeln eine achte anzufügen: „Keine Major-Label-Bands“. Warum? Anfang der 1990er erkannten große Labels, dass sich mit weniger aggressiver Punkmusik Massen ansprechen ließen – und warben um Green Day. Die bis dahin höchstens lokal bekannte Band unterschrieb einen Vertrag mit Reprise Records, das damals schon zu Warner Music gehörte. Das galt der lokalen Szene als kardinaler Verrat an den Punk-Idealen. Am 3. September 1993, so recherchierte es der US-Musikjournalist Dan Ozzi für sein Buch Sellout, spielten Green Day ihre letzte Show im Gilman. Dort soll Sänger → Billie Joe Armstrong auf der Bühne beworfen worden sein – und das nicht zum letzten Mal (→ Woodstock). KNWPwie Punk-RevivalAls 1990 39/Smooth, das Debüt von Green Day, erschien, war mit Punk nicht mehr viel los. Schon einige Jahre vorher war die einstmals innovative Kraft implodiert – Punk war Mode geworden: ein Ramones-T-Shirt, ein Clash-Sweater. 1991 kam dann Nevermind von Nirvana – und die Vorzeichen waren wieder andere. Das 90er-Punk-Revival war da! Und die erfolgreichsten Revival-Punker waren Bands wie The Offspring und die 1987 gegründeten Green Day. Kerplunk! von 1992 und vor allem dann Dookie von 1994 mit den Singles Basket Case und When I Come Around machten Green Day weltbekannt. 20 Millionen Mal soll sich Dookie verkauft haben. Ist das noch Punk (→ Guilty Pleasure)?Wie auch immer: Höre ich die alten Knüller von Green Day, dann bin ich sofort wieder begeistert. Das 90er-Punk-Revival hat auch heute noch jede Menge Saft. Marc PeschkeSwie SkateboardsRollbrettfahren ist olympisch, aber Skateboards sind mehr Kulturträger als Sportgeräte. Und da die Marke Green Day im hierbei relevanten Segment des gepflegten → Abhängens geschickt platziert ist, wundert eins nicht: Neben dem üblichen Merch gibt es auch Green-Day-Skateboards. Dies allein ist nun keine Sensation im Indie-Punk-Skateboard-BMX-Komplex, denn so was gibt es auch von den Misfits, von Bad Religion und sogar von Judas Priest – und Jodie Foster’s Army konnte sich nie recht entscheiden, ob sie zuerst eine Band sind oder eine Skateboard-Marke. Für Aufsehen sorgte vor zehn Jahren indes, dass die Green-Day-Decks vom überaus krediblen Label Real Skateboards aufgelegt wurden. Aber nicht nur darin spiegelt sich die überlebensgroße Bedeutung von Green Day in der Rollbrettwelt: Im Videospiel Tony Hawk’s American Wasteland kann man sich durch versierte Joystick-Tricks in Green-Day-Frontmann Billie Joe Armstrong als „Secret Skater“ hineinmanövrieren – obwohl der selbst über seine Skateboard-Skills einmal Folgendes sagte: „I can roll back and forth, but that’s it.“ VSTwie ThüringenhalleIm Sommer 1994 begann mein Highschooljahr in Bearden. Auch dieses 1.000-Seelen-Kaff im US-Staat Arkansas wurde gerade von der Dookie-Welle erfasst. Dass ich Green Day schon im Frühjahr live gesehen hatte, wollte mir niemand glauben. Wohl auch, weil die Toten Hosen bei den Hillbillys, wie man die Menschen aus dem Waldstaat Arkansas nennt, unbekannt waren. Die Düsseldorfer hatten auf ihrer „Reich & Sexy“-Tour Green Day mit im Gepäck. In der Erfurter Thüringenhalle heizten sie das einige Tausend Menschen zählende Publikum an. Ziemlich gut, soweit meine Erinnerung trägt. Sie traten hier vor mehr Leuten auf, als Bearden Einwohner zählt. Aber das nahm mir dort keiner ab. Green Days Bandhistorie nennt die Hosen übrigens als Vorband. So sind sie halt, die „American Idiots“ (→ Zeitschleife). Tobias PrüwerWwie WoodstockJa, auch Green Day spielte einst beim legendären Woodstock, allerdings nicht bei jener Instanz des Musikfestivals, die 1969 den heute sprichwörtlich gewordenen „Summer of Love“ begleitete – da waren die Bandmitglieder nämlich noch nicht einmal geboren. Die Kalifornier traten stattdessen bei der 25-Jahre-Jubiläumsedition des Festivals im Jahr 1994 auf, die aufgrund von schlechter Organisation und miesem Wetter in Schlamm und Chaos versank.Green Day hatte das heute von Fans geliebte Album Dookie gerade erst bei einem Major-Label veröffentlicht (→ Hausverbot) und stand kurz vor dem großen Durchbruch. Sänger Billie Joe Armstrong geriet in eine Schlammschlacht mit dem Publikum, schlimmer noch traf es Bassist Mike Dirnt, der einen Zahn verlor, als er von einem Security-Mitarbeiter mit einem randalierenden Fan verwechselt wurde. Trotz des panoptischen Verlaufs galt der Band das Woodstock-Konzert später als eines der wichtigsten: 2019 veröffentlichte sie anlässlich des Record Store Day erstmals eine vollständige Aufnahme der Performance. KNWZwie ZeitschleifeEx-US-Präsident George W. Bush war für viel Schlimmes verantwortlich, aber auch für einige gute Punk-Alben.So wie American Idiot von Green Day (2004), das erst ganz anders heißen und klingen sollte. 2003 verschwanden unter mysteriösen Umständen die Aufnahmen zu Cigarettes and Valentines, das nie erschien. Green Day verwarf ein fast fertiges Album und begann von vorn. Es entstand ein Album, das den modernisierten Sound einer neuen Generation (→ Punk-Revival) schmackhaft machen konnte und heute zu den erfolgreichsten der Bandgeschichte gehört. American Idiot verkaufte sich trotz Online-Tauschbörsen mehr als zwölf Millionen Mal. Auch Jahre später hat es nicht an Relevanz eingebüßt: Als Donald Trump 2016 US-Präsident wurde, spielte der deutsche Musiksender VIVA das Video zum Song American Idiot einen ganzen Tag in Dauerschleife. KNW
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