So um 2007 muss es gewesen sein, als ich in der Wohnung eines Freundes im Sessel versank, die Augen schloss und plötzlich eine religiöse Erfahrung mit einer der gottlosesten Bands hatte, die ich kannte. Der Track Pilze der Band Egotronic lief laut, eine aufgedrehte Männerstimme sang vom Konsum bewusstseinserweiternder Naturalien, psychedelische Synthesizer verknoteten ein paar Synapsen in meinem 17-jährigen, bekifften Hirn. Dass ein Vollrausch nichts ist, wofür man sich schämen sollte, der Vollzeitjob eine Hiobsbotschaft und die Nation Keim größten Übels – all das ergab für mich plötzlich frappierend Sinn.
Zur Schönheit Egotronics gehörte, dass das ernst gemeint war: Mit um die 20 beschließt der in der südhessi
n der südhessischen Provinz geborene Thorsten Burkhardt, vor den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft zu fliehen und ein Leben als Vollzeit-Arbeitsloser zwischen Raves und Punkrockkonzerten zu führen. Der Erzählung nach – so steht es im zusammen mit dem Journalisten Daniel Kulla 2011 veröffentlichten Buch Raven wegen Deutschland (Ventil Verlag) – gründete er die Band Egotronic, um einem Ein-Euro-Job zu entgehen. Aus der arbeitsamtlichen Nötigung heraus steuerte das Projekt von Torsun Burkhardt, wie er sich nun nannte, ironischerweise bald Richtung Erfolg, was spätestens unzweifelhaft wurde, als das Hamburger Indie-Label Audiolith Records darauf aufmerksam wurde und 2006 das erste Album Die richtige Einstellung veröffentlichte.Drei Tracks dieses ersten Albums finden sich nun, knapp 20 Jahre nachdem die ersten Songs unter dem Namen Egotronic erschienen sind, auf dem Best-of Das Unbehagen in der Kultur. Nicht ganz zufällig sind Titel und Cover im Stil des gleichnamigen Bandes von Sigmund Freud gehalten, wie er im Verlag S. Fischer erschien. Songs von Egotronic drehten sich um Hedonismus und Arbeitsverweigerung (Die richtige Einstellung), ums Drogennehmen (Pilze) und um deutsches Dominanzstreben (Exportschlager Leitkultur). Die Texte waren nicht gerade intellektuell, und doch ließ sich zwischen Slogans, Beats und etlichen Soundschnipseln aus der Popkultur durchaus Lektüre erkennen. Egotronic ergänzten die Kritik des Gegebenen um die Bejahung dessen, was noch nicht ist: eine Gesellschaft, die keine Nation braucht – und gerade deswegen energisch für den Spaß einstehen konnte.Eingebetteter MedieninhaltDass eine Band, die keine reine Punkband war, politische Maximen der sogenannten antideutschen Linken ins musikalische Programm übernahm, war ungewöhnlich. Umso ungewöhnlicher wurde es, als Egotronic mit ihrem zweiten, ebenso freudianisch Lustprinzip (2007) benannten Release erfolgreicher wurden. „Indietronic“ und „Electropunk“ waren zwei Enden eines Spektrums, das ein Publikum ansprach, welches weder Lust auf untanzbares Gitarrengeschrammel noch auf botschaftsbefreiten Techno hatte. Egotronic war nichts davon, sondern verband beides.Die Folge war, dass nun Trendraver*innen „Raven gegen Deutschland“ skandierten, die sich noch zwei Jahre zuvor bei der Weltmeisterschaft in Deutschland fröhlich die Wangen in Nationalfarben bemalt hatten, um Teil der Fanvolksgemeinschaft zu werden. „Du kennst die letzte Platte, bist dazu abgegangen, doch spielt jetzt Deutschland, bist du umgehend ganz unbefangen“, konterte Torsun mit der Single Kotzen (2008), die mit einem Soundschnipsel aus dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier („Willst du hier kotzen oder willst du im Auto kotzen?“ – „Ich glaube, beides“) beginnt und auf der die US-Hardcore-Legende Walter Schreifels eine englischsprachige Gaststrophe singt. Dass die antideutsche Attitüde kein Fashion-Statement ist, stellte Torsun so nicht zum letzten Mal klar.Eingebetteter MedieninhaltAbseits von der Band provozierte der Sänger unter anderem mit seiner „Büttenrede zu Dresden“ (2011), deren positive Bezugnahme auf die alliierte Bombardierung der Landeshauptstadt ihm immerhin einen bösen Bild-Artikel einbrachte. Der Tübinger Hilfssheriff Boris Palmer und der rechtskatholische Schriftsteller Matthias Matussek fühlten sich von Texten und Videos provoziert, schrieben sich empört die Finger wund. Torsun kommentierte das allenfalls belustigt. Statt an Skandälchen beteiligte er sich lieber politisch an Initiativen wie der antinationalen Pop-Kampagne I Can’t Relax in Deutschland oder Artists Against Antisemitism und tourte nicht nur in angesagten Clubs und auf großen Festivals, sondern auch auf antifaschistischen Bretterbühnen in der Provinz.Spätere Alben waren düsterer, thematisierten psychische Krankheiten (Neurosen im Garten) oder den Tod (Den Kampf verlor’n). 2022 erklärte der Sänger, mit Egotronic eine Pause einlegen zu wollen, das Projekt Torsun & The Stereotronics, das er unter anderem mit seiner Ehefrau betreibt, sollte neuer künstlerischer Schwerpunkt werden. Dieses Vorhaben liegt bis auf Weiteres auf Eis. Zu einer Autoimmunerkrankung gesellte sich eine schwere Krebsdiagnose, die der Sänger im Mai öffentlich machte.Bei anderen würden diese Neuigkeiten vielleicht dazu führen, dass eine Werkschau wie Das Unbehagen in der Kultur plötzlich schwer im Magen liegt, betroffen oder traurig macht. Nicht so hier. 20 Songs zeigen eindrücklich, wie vielseitig, gern witzig und unernst und dennoch stets politisch kompromisslos diese Band war – und wie sie zu verbinden wusste, was für viele nicht zusammengehört hat. Dieses Werk wird bleiben, solange das Unbehagen bleibt. Und so wie es aussieht, ist das noch sehr, sehr lange der Fall.Placeholder infobox-1