Fast beliebiges Beispiel. Juni 2023, eine Literatursendung im Radio. Ein witziger Roman aus dem Berliner Hipster-trifft-arabischen-Clan-Bezirk „Kreuzkölln“ wird vorgestellt. An einer Stelle geht es um Emojis. Darunter das „Koks-Taxi-Emoji“. Die Autorin liest noch ein wenig weiter. Dann stellt die Moderatorin Fragen. Als Allererstes fragt sie nach dem „Koks-Taxi-Emoji“. Autorin sagt, sie verwende es nicht. Also kein Koks? Schriftstellerin präzisiert: Kein Emoji. Kein Taxi. Lässt alles offen.
Koks ist in den urbanen Lebenswelten, was in der klassischen bürgerlichen Gesellschaft die Sexualität war: das schmutzige kleine Geheimnis. Ein Geraune, das Menschen, die irgendwas mit Medien machen und mäßig spektakuläre Biograf
re Biografien haben, in interessante Charaktere verwandelt, die an Abgründen wandeln, die sie gerade noch so kontrollieren können.Und das Zeug ist überall; man kann es in der Spree nachweisen und in den Toiletten vom Reichs- und Bundestag. Auch gegen den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt wurde wegen des Verdachts auf Drogenmissbrauch am Arbeitsplatz kurz intern ermittelt. Er hat es bestritten. Später wurde er von Kurt Krömer in dessen TV-Show gefragt, ob er jemals Koks genommen habe. Reichelt bestritt es abermals. Okay. Wir glauben ihm. Anders sieht es beim ehemaligen Springer-Mitarbeiter Benjamin von Stuckrad-Barre aus. Er hat sich 2004 in einem Spiegel-Interview zu seiner Kokainsucht bekannt und sie später im Memoire Panikherz eindringlich beschrieben.Aber als es nun um seinen Roman Noch wach? ging, der mit Schlüsselelementen aus der Medienszene spielt, kam alles Mögliche auf den Tisch, nur Kokain nicht. Okay, einmal berichtet eine der Frauen im Roman allgemein von „Drogen“, die ihr auf der Party nach dem Konzert einer namenlosen Band vom Wichtigtuer einer Musik-Fernsehshow verabreicht werden.Rammstein-Parfüm „Kokain“ bei RossmannDamit zu Rammstein. 2020 bringt die Band neben den Marken „Pussy“ und „Sex“ auch ein Parfüm mit dem Namen „Kokain“ auf den Markt. Vertrieben wird es von der höchst subkulturellen Drogeriekette Rossmann, die das Parfüm mit dem Dealer-Spruch „Brauchste Stoff?“ bewirbt. Frei nach dem Provokationsgehalt des offenen Geheimnisses: Uns kann keiner was, wehe, du fragst nach.Tat auch keiner. So berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Ab dem 27. Mai soll es über die Ladentheke gehen. ,Komm vorbei, für einen schmalen Taler bekommst du das Zeug‘, schreibt das Unternehmen. ,Rammstein als Parfüm ist – analog dem Gesamtkunstwerk – 100 Prozent Rammstein, spektakulär und im wahrsten Sinne des Wortes: Rammstein-esque‘, lautet die vielversprechende Produktbeschreibung auf der Website des Unternehmens.“„Lautet die vielversprechende Produktbeschreibung“ – Hey, Redaktionsnetzwerk Deutschland, Home of Interviews mit Steinmeier, Lagarde, Lindner, Gauck to name just a few: Das ist nicht Euer Ernst, oder?Und obwohl die Band also mit ihrem Image als Gesamtkokskunstwerk kokettiert hat, spielt Kokain in den aktuellen Debatten um die Band und ihren monströsen Frontmann keine Rolle. Anders als Sex und, pardon, „Pussys“, wie es in der Parfümwerbung heißt. Kann man merkwürdig finden. Denn über K.-o.-Tropfen wird sehr wohl geschrieben.Beredtes Schweigen über Kokain-KonsumDer Grund für das beredte Schweigen über Kokain in der Freizeitindustrie ist simpel: Zwar nicht der Konsum, aber schon die „Verabreichung“ von Kokain ist in Deutschland strafbar. Hinzu kommt: K.-o.-Tropfen gießt man heimlich in Getränke, bei Koks zieht man üblicherweise Linien. Also, man weiß dann schon, was man da zu sich nimmt. Das ändert nichts am krassen Machtgefälle in bestimmten Konsumsituationen. Damit einher geht die Frage: Wer besitzt den Stoff? Wie wurde er beschafft? Nichts Genaues weiß man nicht.Hat also wirklich niemand, der über Till Lindemann schrieb, an das Parfüm gedacht und recherchiert? Doch. Natürlich. Aber wer sich umhört, erfährt schnell mal den Grund des beredten Schweigens. Jemanden Drogenmissbrauch in der Verdachtsberichterstattung vorzuwerfen, ist extrem schwierig. Man ist sofort im strafrechtlichen Bereich, die Anschuldigung wiegt schwer. „Umgekehrt gibt es so gut wie nie harte Belege wie ein Foto oder Video“, sagt ein erfahrener Investigativjournalist.Das Auftreten der Anwälte ist aggressiv. Abmahnungen drohen, wenn ein Journalist schon nur daran denkt, über Kokain in einem konkreten Zusammenhang zu schreiben. Schöner Nebeneffekt: Der Reiz des Verbotenen trägt zum Ruch bei, hier gleichsam noch verstärkt, dass – weil verboten – eben nicht nüchtern über die Volksdroge berichtet werden kann.Und so kann man sagen, dass es weiterhin eine unfassbare Verlogenheit im veröffentlichten Diskurs und ein irres Gewese in der Gesellschaft um Kokain gibt. Auch in der Schweiz wird viel gekokst, dort kann man es sich ja auch leisten. Aber man will andere Wege gehen. In Bern denkt der Stadtrat über eine kontrollierte Abgabe der „Volksdroge“ nach. Schlecht für das Gewese. Aber vielleicht der Auftakt zu einer echten Debatte.