Kokain, das Öl im Getriebe dieser Gesellschaft

Kolumne Ich! Ich! Ich! Millionen von Menschen – und nicht nur Stars – konsumieren Kokain. Kein Wunder: es hilft, die Welt an den eigenen Bedürfnissen auszurichten. Aus dem „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ von Sebastian Friedrich
Ausgabe 25/2023
Kokskonsum verspricht Glücksgefühle und Selbstbewusstsein und hat für Konsument*innen oft schwere gesundheitliche Folgen
Kokskonsum verspricht Glücksgefühle und Selbstbewusstsein und hat für Konsument*innen oft schwere gesundheitliche Folgen

Foto: picture alliance/dpa/Christian Charisius

Der Elefant im Raum hat weißes Pulver am Rüssel. Die ein oder andere Debatte der vergangenen Jahre um Macht- und Bedürfnisbefriedigungen von Sängern oder von Chefredakteuren angeblicher Zeitungen könnte direkt oder indirekt mit Stimmungsaufhellern zu tun haben. Auch manche, die sich in künstlerischer Weise mit solcherlei Verfehlungen auseinandergesetzt haben, sollen schon mal mit Kokain in Berührung gekommen sein.

Drogen, heißt es, können zu Höchstleistungen anspornen. Dass Gedichte von Wassertrinkern weder begeistern noch in Erinnerung bleiben, meinte man dank Horaz bereits im alten Rom gewusst zu haben. Auch die Romantiker dröhnten sich später gerne zu, um mehr „aus sich“ herauszukitzeln. Drogen sollten dabei helfen, sich ja nicht von der Realität ihrer angeblich eigentümlichen Schöpferkraft berauben zu lassen. Die Verwertung des Rausches oder der Rausch überhaupt als Voraussetzung, um Verwertbares zu schaffen.

Dann doch nicht so atemberaubend

Das gelingt freilich nicht immer, wie man an jenen beobachten kann, die im Club auf einer Schaukel liegen, mit Bleistift in einem Notizbuch kritzeln und hoffen, dabei Atemberaubendes zu Papier zu bringen, dann aber am nächsten Tag – bereinigt durch eine Dusche und nach dem Abbau von Giftstoffen – einsehen müssen, dass das Notierte doch wieder keine Epopöe, sondern nicht zu entziffern oder schlicht unsinnig ist.

Doch bei jenen, die es auf die großen Bühnen dieser Welt geschafft haben, steht wohl nicht im Zentrum, die eigene Kunst zu vergolden, sondern viel eher: die Handlungsmöglichkeiten des Eigenen zu erweitern, möglichst grenzenlos, auch wenn das auf Kosten anderer oder der als zu eng begriffenen Grenzen gesellschaftlicher Abmachungen geht. Wenn Kokain eines tut, dann dabei behilflich sein, die ganze Welt an den eigenen Bedürfnissen auszurichten: genügend Platz auf der Tanzfläche haben, den Umstehenden von Erfolgen berichten, ob sie es hören wollen oder nicht, sich nehmen, was man kriegen kann, von dem man annimmt, es stünde einem zu. Auch um die Schwelle dessen, was einem zusteht, ja nicht zu bescheiden anzusetzen, soll Koks Hilfestellungen geben.

Koks ist nicht mehr elitär

Das Ich!, Ich!, Ich! ist nicht nur ein Triumph des Willens, nicht nur ein Sieg des Glaubens; es schreit nicht nur aus den Kehlen von Künstlern; es ist nicht nur allgegenwärtig auf den Partys irgendwelcher Agenturen, bei denen permanent alle reden, aber kaum jemand wirklich zuhört. Koks ist längst nicht mehr elitär und inzwischen so verfügbar wie nie zuvor. Laut aktuellem europäischen Drogenbericht werden jährlich Dutzende Labore ausgehoben, mehrere Hundert Tonnen sichergestellt und Kokain jedes Jahr von Millionen konsumiert – allein in Europa.

Wer mag es Otto Normalmensch verdenken, dass auch er die dünne weiße Linie liebt, er sich einmal einen Abend groß fühlen möchte. Einmal „für sich sein“, Boss sein, nicht länger für andere da sein, wenigstens für ein paar Stunden, denn nach dem Rausch ist man schnell genug wieder Knecht.

Kokain ist verboten – was die Blutspur seines Vertriebs nicht verkürzt –, aber Kokain ist nichts Nonkonformes. Wer kokst, versucht sich anzupassen – an Geschwindigkeiten und an die Befriedigung falscher Bedürfnisse. Genauso wenig wie diese durch die Drogen selbst hervorgebracht werden, ist das weiße Pulver das eigentliche Problem. Kokain hilft zwar dabei, das Falsche perfekt auszuleuchten und das Wahre zu ignorieren. Letztlich aber ist Koks das Öl im Getriebe einer Gesellschaft, die noch weit davon entfernt ist, den Gegensatz von Privat- und Gemeinschaftsinteresse zu überwinden.

Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg. In der Kolumne „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ beschäftigt er sich seit 2013 mit den Ideologien des Alltags.

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