Sally Haslanger bei den Benjamin Lectures: Theorie der Trippelschritte

Philosophie Die Welt ist so komplex, dass sie von jedem Standpunkt aus verändert werden kann. Diesen transformatorischen Ansatz vertrat die Philosophin Sally Haslanger bei den Benjamin Lectures in Berlin. Doch ist es am Ende nicht viel komplizierter?
Ausgabe 25/2023
Sally Haslanger bei den Benjamin Lectures: Theorie der Trippelschritte

Foto: Imago/Panthermedia

Multiple Krisen weltweit lassen die Rufe nach einem fundamentalen Wandel immer lauter werden. Doch wie? Mit dieser Frage setzte sich die US-amerikanische Philosophin und Aktivistin Sally Haslanger in den diesjährigen Benjamin Lectures des Centre for Social Critique der Humboldt-Universität zu Berlin auseinander. Haslanger ist Professorin am MIT in Boston und gilt als Ikone der Gender- und Race-Forschung. So war der Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin, wo sie an drei Abenden unter dem Titel „Agents of possibility: the complexity of social change“ referierte, gut gefüllt.

Haslanger näherte sich der Frage, wie sozialer Wandel geschehen kann, anhand einer Reflexion der grundsätzlichen Funktionen von Gesellschaft. Angelehnt an die „complex theory“ aus der Naturwissenschaft, mit der Phänomene wie das Klima oder biologische Organismen beschrieben werden, fasst Haslanger die Gesellschaft als ein dynamisches System. Dieses besteht aus kleineren, sich gegenseitig beeinflussenden Subsystemen, wie etwa ein Pflege- oder Schulsystem. Übergeordnetes Ziel der Gesellschaft ist dabei die soziale Reproduktion. Dafür entwickeln sich über die Zeit innergesellschaftliche Handlungslogiken, sogenannte „cultural techné“, die nicht nur die Subsysteme leiten, sondern damit auch das Handeln, Denken und letztlich die Identität der Menschen prägen. Die Logiken sind zwar essenziell für das Funktionieren jeder Gesellschaft, können aber mitunter schlecht sein, wenn sie unterdrückende Strukturen etablieren. Solche schlechten Logiken sind für Haslanger der Kapitalismus, Rassismus und das Patriarchat.

Sally Haslanger widerspricht damit Denker:innen wie Nancy Fraser

Aus dieser Beschreibung der Gesellschaft ergeben sich zwei scheinbar widersprechende Erkenntnisse: Die Gesellschaft ist aufgrund der komplex verwobenen Dynamiken immer und von allen veränderbar. Wie beim Klima können schon kleine Veränderungen große Auswirkungen nach sich ziehen. Wir müssen nicht erst auf die große Revolution warten, die alles umkrempelt. Zugleich aber erweist sich jede Veränderung kultureller Logiken als potenziell verunsichernd, da sie die Identität und Lebenspraxis der einzelnen Person infrage stellt. Das erklärt die zum Teil erheblichen Widerstände gegen gesellschaftliche Veränderungen.

Mit ihrer Theorie richtet sich Haslanger gegen Ansätze wie den von Nancy Fraser, der Vortragenden der letztjährigen Benjamin Lectures. Fraser macht im Kapitalismus den treibenden Faktor für soziale Herrschaftsverhältnisse aus und ist überzeugt, dass nachhaltiger sozialer Wandel nur über dessen Überwindung zu verwirklichen sei. Sozialer Wandel, so argumentiert Haslanger, geschieht in einer schrittweisen Transformation sowohl der Kultur, die unser Verständnis von der Welt bildet, als auch der materiellen Lebenswirklichkeiten. Dafür gilt es, wie etwa bei der Black-Lives-Matter-Bewegung, auf einer mittleren gesellschaftlichen Ebene Netzwerke zu bilden, die Aufklärungsarbeit leisten und konkrete Lebensverhältnisse verändern.

Haslangers Ansätze sind zunächst überzeugend. Doch was passiert, wenn zwei unterschiedliche Weltansichten aufeinandertreffen, die mit den gleichen normativen Ansprüchen argumentieren? Und ist Aufklärungsarbeit vonseiten des sogenannten Globalen Nordens gegenüber dem Globalen Süden, wie Haslanger es vorschlägt, wirklich noch zeitgemäß? Diese in den letzten Jahrzehnten viel diskutierten Fragen blieben von Haslanger trotz Nachfrage aus dem Publikum unbeantwortet. Sie legen letztlich nahe, dass ein sozialer Wandel am Ende wahrscheinlich sogar noch komplexer ist, als Haslanger es mit ihrer komplexen Gesellschaftstheorie vorschlägt.

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