Gespräch über die Sprache des Kapitalismus: „Preise steigen nicht – sie werden erhöht“
Interview Simon Sahner und Daniel Stähr haben sich in einem Buch mit der „Sprache des Kapitalismus“ beschäftigt. Warum nennen wir Arbeitslose mit viel Geld „Privatiers“? Hier erklären die beiden, wie man so redet, dass sich FDP-Wähler richtig ärgern
Simon Sahner (r.) und Daniel Stähr im Interview: „Ohne Staat kein Markt – die Tatsache wird von der Sprache verschleiert“
Foto: Charlotte Sattler für der Freitag
Auch im Freitag war dieses Wort schon zu lesen: „Preisexplosionen“. Als unser Redakteur das auf der Bühne der Leipziger Buchmesse gesteht, müssen Simon Sahner und Daniel Stähr lachen. Die beiden haben gerade in dem lesenswerten BuchDie Sprache des Kapitalismus (S. Fischer, 304 S., 24 €) erklärt, warum Preise nicht „explodieren“. Und warum Privatiers auch nichts anderes sind als: Arbeitslose mit viel Geld.
der Freitag: Lieber Daniel, lieber Simon, was meint ihr mit der „Sprache des Kapitalismus“? Könnt ihr das mal definieren?
Simon Sahner: Wir meinen damit, dass unser Wirtschaftssystem die Art und Weise beeinflusst, wie wir reden. Beispiel: Wir sprechen immer davon, dass Preise steigen. Dabei steigen die Preise nicht wie von
eren?Simon Sahner: Wir meinen damit, dass unser Wirtschaftssystem die Art und Weise beeinflusst, wie wir reden. Beispiel: Wir sprechen immer davon, dass Preise steigen. Dabei steigen die Preise nicht wie von Geisterhand, sondern werden von Unternehmen bewusst erhöht. Unsere Sprache verschleiert diesen Zusammenhang. Manchmal schreiben Medien sogar von Preisexplosionen. Als wäre das von allein passiert und die Politik könnte jetzt lediglich noch aufräumen.Wer sorgt denn dafür, dass wir so reden? Gibt es da irgendwo ein Politbüro, das sich solche Begriffe ausdenkt und dann an die Medien lanciert?Daniel Stähr: Das ist leider die unbefriedigendste Stelle in unserem Buch: Es gibt nicht diese eine Instanz, irgendein Wall-Street-Büro zum Beispiel, wo Leute zusammensitzen und sich kapitalistisches Vokabular ausdenken. Vielmehr hat sich das über die Jahrhunderte so entwickelt.Ihr kritisiert in eurem Buch auch die Redewendung „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Ich habe mal gegoogelt: Die stammt von einem römischen Konsul, der im dritten Jahrhundert vor Christus gelebt hat. So wahnsinnig vom Kapitalismus beeinflusst kann der noch nicht gewesen sein ...Stähr: Okay, wahrscheinlich wäre es nicht schlecht gewesen, wenn wir gewusst hätten, von wem das ist (lacht). Uns geht es aber um etwas anderes. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat in seinem letzten Buch geschrieben, dass jede Gesellschaft eine Rechtfertigung für ihre Ungleichheit braucht. Und solche Redewendungen stärken halt unheimlich die kapitalistische Erzählung: Wenn man sich anstrengt, kann jeder es schaffen. Daraus folgt im Gegenzug implizit: Wer es nicht schafft, ist selber schuld.Ich würde gerne ein Spiel spielen: Ich nenne euch Begriffe aus eurem Buch, und ihr erklärt, warum das böser Kapitalistensprech ist. Erstes Wort: „superreich“.Stähr: „Super“ ist im Deutschen positiv konnotiert. Der Begriff beschreibt also extrem hohe Vermögen als etwas Gutes, das es nachzuahmen gilt. Dabei schafft exorbitanter Reichtum viele Probleme. Die Menschen mit so viel Geld haben mehr Einfluss, als es in demokratischen Staaten der Fall sein sollte. Wir schlagen also ein anderes Wort vor, das auch Marlene Engelhorn und Martin Schürz als Alternative empfehlen: „überreich“.Im letzten August hat der „Economist“ in einem Artikel gefragt: Ist Deutschland wieder „der kranke Mann Europas“? Das gefiel euch gar nicht.Sahner: Ja, überhaupt nicht. Die Assoziation mit einer Krankheit führt dazu, dass wir wirtschaftliche Schwäche als etwas sehen, das unvermeidbar ist. Krank werden kann ja jeder mal. Das lässt sich nicht vermeiden. Wer krank ist, kann auch wieder geheilt werden. Aber dafür muss man schlecht schmeckende Medizin schlucken. Daran sieht man, wie diese Metapher im Kapitalismus immer weiter gedreht werden kann. Die eklige Medizin sind dann meist geschrumpfte Sozialausgaben.Jetzt kommt mein Lieblingsbeispiel, weil man es ständig hört: Regierungen tun dann alles, um „die Märkte zu beruhigen“. Das war auch im Frühjahr 2023 überall zu lesen, als Banken in den USA und der Schweiz zahlungsunfähig wurden.Stähr: Häufig wird der Markt als eigenständige Entität dargestellt. Die Politik sagt: Wir werden ausnahmsweise in den Markt eingreifen. Aber wir müssen vorsichtig sein! Wir wollen das Biest zwar zähmen, aber nicht verschrecken. Solche Redewendungen tun so, als sei der Markt ein unabhängiges Wesen. Aber das ist Unsinn. Aus ökonomischer Sicht gibt es drei Player auf jedem Markt: Da ist die Gruppe, die etwas nachfragt, eine zweite Gruppe, die etwas anbietet, und die dritte Gruppe legt die Regeln fest – das ist der Staat. Es gibt ohne Staat keinen Markt. Wenn wir uns das bewusst machen, bekommen wir unheimlich viel Handlungsmacht zurück als Gesellschaft. Das Gerede von einem autonomen Wesen namens Markt, das gezähmt werden muss, hindert uns daran.Wie kamt ihr auf die Idee, das Buch zusammen zu schreiben? Ihr habt doch vollkommen unterschiedliche Fachgebiete?!Stähr: Ich sage immer, wir sind die Einzigen, die über einem Glas Bier eine Idee hatten – und es durchgezogen haben (lacht). Vor zwei Jahren haben wir uns in Berlin getroffen, um gemeinsam den ESC zu gucken. Da habe ich Simon von meiner Idee erzählt und gesagt, ich brauche jemanden, der sich mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven auskennt. Zwei Tage später hat er mir ein Google Docs geschickt. Überschrift: „Pitch“.Eine Sache hat mich beim Lesen nicht losgelassen. Und zwar: Wollen wir Linken nicht das ganze Wirtschaftssystem ändern, statt nur seine linguistischen Auswüchse zu kritisieren? Ist euer Ansatz mit der Sprache nicht eine reine Schönheitskorrektur an der Marktwirtschaft?Sahner: Man muss doch irgendwo anfangen. Der Kapitalismus ist ja kein Betriebssystem auf dem Computer, das man einfach austauschen kann. Heute habe ich Windows, aber das passt mir nicht mehr, also installiere ich Linux, und dann habe ich das System geändert. So funktioniert es nicht.Revolutionäre seid ihr nicht …Stähr: Uns geht es um das Nachdenken über Alternativen. Es gibt ja diesen Satz von Fredric Jameson: Wir können uns eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen. Und wir glauben, dass es einfacher wird, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen, wenn wir uns von seinen Sprechmustern befreien.Wie sähe eine postkapitalistische Sprache aus? Ihr habt schon ein Beispiel genannt: von „Überreichtum“ sprechen statt von „Superreichtum“. Habt ihr noch mehr Vorschläge?Stähr: Was mir ganz wichtig ist: Diese Sprache des Kapitalismus besteht nicht nur aus einzelnen Begriffen. Es geht uns nicht darum, das eine Buzzword durch ein anderes zu ersetzen. Wir müssen die Grunderzählung des Kapitalismus angreifen. Ein Beispiel: Als es darum ging, letztes Jahr die Einkommensgrenze für das Erhalten von Elterngeld von 300.000 Euro auf 150.000 Euro Jahreseinkommen zu senken, wurde gesagt: Da werden jetzt die Leistungsträger unserer Gesellschaft bestraft! Diese Verbindung von Einkommen und Leistung impliziert umgekehrt, dass arme Menschen, die vielleicht auch von staatlichen Leistungen abhängig sind, faul sind. Wenn wir es schaffen, dass wir Leistung nicht mehr mit materiellem Reichtum gleichsetzen und da irgendwie eine Korrelation unterstellen, dann wäre schon viel gewonnen.Sahner: Noch sind wir davon weit entfernt. Wir sprechen ja auch immer davon, dass wir Geld in unserem Job verdienen. Aber ob ich das verdient habe, ist doch eine ganz andere Frage. Es gibt Finanzspekulanten, die nichts zur Gesellschaft beitragen und trotzdem extrem reich sind. Besser wäre es also, davon zu sprechen, dass Menschen so und so viel für ihren Beruf bekommen. Das Wort „Schulden“ ist auch irreführend: Da schwingt immer mit, dass ich mich schuldig gemacht habe. Das ist eine moralische Kategorie, die im wirtschaftlichen Bereich nichts zu suchen hat.Stähr: Wenn ich da noch kurz einhaken darf. Es ist ja immer toll, wenn man seine Thesen auch mit aktueller Forschung belegen kann! Vor ein paar Monaten wurde ein Paper veröffentlicht, das Länder untersucht, in denen der Schuldbegriff sowohl etwas Finanzielles als auch etwas Moralisches meint. Wie ist da die Haltung zum Geldleihen im Vergleich zu Ländern, wo das zwei getrennte Begriffe sind? Die Forscher:innen haben herausgefunden, dass die Neigung, sich Geld zu leihen, deutlich höher ausgeprägt ist, wenn es zwei verschiedene Wörter dafür gibt. In England ist das ja so: Da gibt es die Begriffe guilt und debt. Also um noch mal auf deine Kritik vorhin mit der Schönheitskorrektur zurückzukommen: Sprache hat im Kapitalismus schon eine sehr stabilisierende Wirkung. Und wir wollen an dieser Säule sägen.Die Ökonomin Isabella Weber hat während der Inflation 2022/23 gesagt: Nur von Inflation zu sprechen, reicht nicht, weil diese nicht durch Lohnerhöhungen, eine gestiegene Nachfrage oder erhöhte Kosten getrieben ist, sondern Unternehmen die Gunst der Stunde nutzen und ihre Preise anheben. Weber hat deswegen den Begriff „Verkäuferinflation“ vorgeschlagen. Das müsste in eurem Sinne sein?Stähr: Isabella Weber ist ein fantastisches Beispiel. Sie hat gezeigt, dass man die Verantwortung für gewisse ökonomische Entwicklungen klar benennen kann. Es geht. Das ist nicht utopisch.Kommen wir mal zum vielleicht wichtigsten Thema unserer Zeit. Ihr schreibt: „Angesichts der Klimakrise wird jedes Register der Sprache des Kapitalismus gezogen.“ Was meint ihr damit?Sahner: Die Erkenntnis ist doch: Wenn wir wirtschaftlich so weitermachen, dann wird es verdammt schwierig, das mit der Klimakrise in den Griff zu kriegen. Das würde bedeuten, dass wir unser Wirtschaftswachstum drosseln müssen. Da gibt es aber verdammt mächtige Gruppen, die das verhindern wollen.Also doch ein böses Politbüro?Sahner: Eher einzelne Politiker:innen und Lobbyist:innen, die immerzu von Technologieoffenheit und grünem Wachstum reden. Beides suggeriert: Wirtschaftlicher Aufstieg und Umweltschutz können Hand in Hand gehen. Wir müssen nichts verändern, und der Markt macht das schon. Es ist aber höchst zweifelhaft, ob das funktionieren kann.Placeholder authorbio-1Placeholder infobox-1
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