Philosophin fordert Reichtumsgrenze: „Niemand sollte mehr als 10 Millionen Euro besitzen“
Limitarismus Seit 2020 wurden 60 Prozent der Menschheit ärmer, während sich die Konten der Milliardäre weiter füllten. Ingrid Robeyns fordert in einem neuen Buch, exzessivem Reichtum eine Grenze zu setzen. Ihre Gegner brüllen: Kommunistin, Kommunistin!
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Über Mindestlöhne reden wir schon hin und wieder. Aber warum diskutieren wir eigentlich nie über Höchstlöhne? Während unsere Politiker darüber streiten, mit wie wenig eine Familie überleben kann, sollten wir lieber auf das andere Ende der Ungleichheitsskala eingehen: Wie viel angehäufter Reichtum könnte zu viel sein? Ingrid Robeyns, Professorin für Philosophie und Wirtschaft an der Universität Utrecht in den Niederlanden, füllt diese Lücke in der Debatte über Arm und Reich. Und stellt dabei eine These auf.
Während die Milliardäre der Welt im Privatjet zum Weltwirtschaftsforum nach Davos geflogen sind, um sich wieder einmal für ihren unverschämten Reichtum auf die Schulter zu klopfen, hat Oxfam sei
nd, um sich wieder einmal für ihren unverschämten Reichtum auf die Schulter zu klopfen, hat Oxfam seinen Jahresbericht über die wachsende Kluft zwischen diesen wenigen Glücklichen und den anderen acht Milliarden, von denen sie profitieren und mit denen sie die Ressourcen des Planeten teilen, vorgelegt. Der diesjährige Bericht namens Inequality Inc bringt erneut einen Trend zum Ausdruck, den wir alle in den letzten Jahrzehnten beobachtet haben: Während die meisten Menschen mit mehr oder weniger dem Gleichen überleben müssen, werden die Konten der Reichen und sehr Reichen von Jahr zu Jahr voller. Seit 2020, so der Bericht, „sind 60 Prozent der Menschheit ärmer geworden, während die Milliardäre jetzt 3,3 Billionen Dollar oder 34 Prozent reicher sind als zu Beginn dieses Jahrzehnts der Krise.“ Der Reichtum der fünf reichsten Männer der Welt hat sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt und ihr Vermögen um noch nie dagewesene 464 Milliarden Dollar erhöht.Werden Wähler und Politiker weltweit angesichts des wachsenden Wohlstandsgefälles weiter mit den Schultern zucken? Es hat den Anschein, dass genau das der Weg ist, den sie beschreiten wollen. Ingrid Robeyns macht da nicht mit. Die Professorin plädiert nicht nur für eine Begrenzung des Reichtums – sie ist auch bereit, eine Zahl dafür zu nennen. Oder eigentlich zwei Zahlen.Ingrid Robeyns definiert eine ethische Grenze für ReichtumDie erste lautet wie folgt: „In einem Land mit einem ähnlichen sozioökonomischen Profil wie die Niederlande, wo ich lebe, sollten wir eine Gesellschaft anstreben, in der niemand mehr als 10 Millionen Euro besitzt. Es sollte keine zehnfachen Millionäre geben.“ Dieses Ziel sollten die politischen Entscheidungsträger anstreben. Ergänzt wird es durch eine zweite Zahl, die eher ein Appell an die kollektive Moral ist. „Ich behaupte“, so Robeyns, „dass für Menschen, die in einer Gesellschaft mit einem soliden Rentensystem leben, die ethische Grenze bei etwa eine Million Pfund, Dollar oder Euro pro Person liegt.“ Diese Grenzen würden nicht nur die gerechteste und effektivste Gesellschaft schaffen. Robeyns sagt, sie würden die Menschen auch glücklicher machen.Sie hat einen Namen für ihre Philosophie: Limitarismus, so lautet auch der Titel ihres Buches. Robeyns, 51, wuchs in Belgien auf und promovierte in Cambridge bei Amartya Sen, dem Guru der Entwicklungsökonomie. Während sich die meisten ihrer akademischen Kollegen der Armutsbekämpfung verschrieben haben, hat sich Robeyns immer auf die Kehrseite der Ungleichheit konzentriert – die Auswirkungen des übermäßigen privaten Reichtums auf die öffentliche Sphäre. Welche Folgen hat er für Demokratie? Und welche für die Ökologie? George Monbiot lobt Robeyns' Arbeit in einem Artikel im britischen Guardian. Ihren Vorstoß, dass es nicht nur eine Armuts-, sondern auch eine Reichtumsgrenze geben sollte, bezeichnet er dort als „vielleicht blasphemischste Idee im zeitgenössischen Diskurs.“Als ich letzte Woche mit Robeyns über ihr Buch sprach, fragte ich mich, ob sie sich als Ketzerin fühlt, weil sie so linke Ideen vertritt? Sie lachte …„In der politischen Philosophie gehen wir einfach dahin, wohin uns die Argumente führen“, lautete ihre Antwort. Ihr Buch ist im November in den Niederlanden erschienen. Die Reaktionen: polarisiert. „Das habe ich schon mein ganzes Leben lang gedacht“, hätten viele zu ihr gesagt. Es hätte aber auch diejenigen gegeben, die einfach ausgeflippt seien und ihr „Das ist doch verrückt!“ entgegengeschleudert hätten. Robeyns kann diese Reaktion verstehen: „Ein wesentlicher Bestandteil des neoliberalen kapitalistischen Paradigmas ist, dass es keine Grenze für Arbeitsbelohnungen geben sollte“, sagt sie. Doch seien die Folgen dieser Ideologie zu verheerend, um einfach weiterzumachen.„Reichtum setzt die Welt in Brand“Robeyns' Buch ist eines von denen, bei denen man sich dabei ertappt, dass man auf jeder Seite einen oder drei Sätze unterstreicht und am Rand Ausrufezeichen setzt. Es nimmt die Vorstellung auseinander, dass jede Diskussion über eine Begrenzung des Reichtums aus „Neid“ geboren sein muss. Auch der neoliberale Mythos, dass Menschen ihren Reichtum (oder ihre Armut) irgendwie „verdienen“, kommt nicht gut weg. An Multimillionen gelangt man vor allem durch harte Arbeit und Talent und nicht durch Glück und große Chancenungleichheit? Robeyns hält dagegen und will den Reichtum begrenzen.„Im Grunde genommen möchte ich mit diesem Buch sagen: Ja, wir alle akzeptieren, dass wir als gesellschaftliches Ziel versuchen wollen, die Armut zu beseitigen. Aber lassen Sie uns auch die andere Seite betrachten. Tatsache ist, dass wir die Zahl der Superreichen und die Vermögenskonzentration minimieren sollten und müssen …“ In ihrem Buch untersucht sie die negativen Folgen des Reichtums – nicht nur für den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie, sondern auch für die Produktivität, die geistige und körperliche Gesundheit sowie den Klimawandel. Die Konzentration des Kapitals in wenigen Händen setze „die Welt in Brand“. Es gebe „so viel mehr, was wir mit dem Geld tun könnten.“Eine Philosophie des unbegrenzten Reichtums – für Oligarchen, Scheichs, Fußballer, Tech-Bosse, Hedge-Fonds und die sie unterstützenden Anwälte und Banker – wird inzwischen als normale Folge freier Märkte angesehen. Trotz der Tatsache, dass die „Trickle-Down“-Ökonomie als Idee längst widerlegt ist, halten wir weiterhin an der Mythologie der „Wohlstandsschaffenden“ fest. Aber natürlich, so argumentiert Robeyns, sind diese kaskadenartigen Reichtümer nur eine politische Entscheidung wie jede andere auch; wir regulieren die Märkte ständig auf unterschiedliche Weise. „Ich denke“, sagt sie, „wenn die Bürger besser verstehen würden, dass wir zwischen vielen verschiedenen Optionen eines Wirtschaftssystems wählen können, dann können wir eine richtige Debatte beginnen.“Die Kritiker von Robeyns Ideen neigen dazu, sich in zwei Lager aufzuteilen: Sie sei entweder naiv oder eine Kommunistin (oder beides). Sie besteht darauf, dass sie weder das eine noch das andere ist und hält diesen Argumenten entgegen, dass die Festlegung einer Obergrenze für Einkommen und Vermögen nicht nur ethisch, sondern auch rational ist. Dabei kann sie sich nicht nur auf Thomas Piketty, Autor des Bestsellers Capital in the Twenty-First Century, berufen, sondern auch auf Demokratiephilosophen, die bis zu Platon zurückreichen. Letzterer argumentierte, dass keine durch Zusammenhalt geprägte Gesellschaft entstehen kann, wenn die reichsten Bürger mehr als das Vierfache des Lohns der ärmsten verdienen. Im vergangenen Jahr verdiente Jeff Bezos alle neun Sekunden den Durchschnittslohn eines seiner Amazon-Mitarbeiter.Amerikanischer Milliardär: „Sonst kommen bald die Mistgabeln“Damit die Gesellschaft diese Ziele verfolgen kann, ist nach Robeyns' Ansicht eine radikale Reform der Besteuerung erforderlich, die sich auf das Vermögen und nicht auf das Einkommen konzentriert. Sie argumentiert, dass Vererbung der ultimative nicht-meritokratische Vorteil ist. „Erben ist total in Ordnung, wenn jeder einen gewissen Wohlstand hat“, sagt sie. „Das Problem ist, dass die Ungleichheit so groß ist: Die große Mehrheit der Menschen bekommt fast nichts von der vorherigen Generation. Und dann gibt es Leute, die einfach diese Dynastien von Multimillionären und Milliardären weiterführen. Es liegt tief in der menschlichen Natur, seine Nachkommen schützen zu wollen. Wir müssen also zeigen, dass Umverteilung eines Großteils des Geldes das allgemeine Sicherheitsgefühl fördern würde.“Placeholder image-1Die Plutokraten in Davos haben viele Ideen, wie wir den politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen begenen können. Was Robeyns so wundert: Den grundlegenden Zusammenhang zwischen diesen Krisen und der eigenen „steuereffizienten“ Anhäufung von Reichtum und selektiver privater Philanthropie wird von den Delegierten nie thematisiert. „Sie glauben, dass sie diese riesigen Probleme mit einem unternehmerischen Ansatz oder durch den Einsatz von Technologie lösen können. Es geht ihnen darum, dass sie von der Politik unbehelligt bleiben.“Ich erzähle Robeyns von einem Treffen, das ich einmal mit Sundar Pichai hatte, dem CEO von Google. Pichai konnte nicht verstehen, warum die europäischen Regierungen Google so ablehnend gegeüberstanden. Sein Unternehmen überhäufe die Welt doch mit Wohltaten: mit freiem Wissen und freier Kommunikation. Trotzdem sollten kartellrechtliche Maßnahmen gegen Google ergriffen werden, um die Monopolstellung des Unternehmens zu beschränken? Nennen Sie mich altmodisch, antwortete ich ihm, aber haben Sie jemals darüber nachgedacht, Steuern zu zahlen, anstatt sie zu vermeiden? Pichar, ein ungewöhnlich ruhiger Mann, wirkte bei dieser Idee völlig verblüfft. So, als hätte ich ihn wegen seiner Religion oder seine Herkunft beleidigt.Placeholder image-2Robeyns lächelt über diese Reaktion. Sie ist trotzdem überzeugt: Wenn sich reichtumslimitierende Ideen durchsetzen sollen, muss ein großer Teil des Anstoßes von den Millionären und Milliardären selbst kommen. „Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht zu optimistisch“, gibt sie zu.Ihr Buch enthält Beispiele von sagenhaft reichen Menschen, die die Auswirkungen ihres Vermögens nicht nur auf die Wirtschaft und den Planeten, sondern auch auf ihr eigenes Wohlergehen verstanden haben. Der irisch-amerikanische Milliardär Chuck Feeney hat sein Geld mit einem Monopol auf Duty-Free-Shops an Flughäfen verdient und genießt dennoch nichts so sehr, wie all sein Cash zu verschenken. Mackenzie Scott, die Ex-Frau von Jeff Bezos, spendet jedes Jahr Milliarden von Dollar aus ihrer Scheidungsvereinbarung für gesellschaftliche Zwecke. Ihre Begründung: Sie gebe „es dahin zurück, wo es herkommt.“ Auch die Philantropin Abigail Disney oder die in Großbritannien ansässige Gruppe Patriotic Millionaires sympathisieren mit den Grundzügen von Robeyns' Ideen.In Davos unterzeichneten 250 Millionäre und Milliardäre einen Brief an die Staats- und Regierungschefs, in dem sie eine Vermögenssteuer fordern: „Dies wird weder unseren Lebensstandard grundlegend verändern, noch unsere Kinder benachteiligen oder dem Wirtschaftswachstum unserer Nationen schaden. Aber sie wird extremes und unproduktives Privatvermögen in eine Investition für unsere demokratische Zukunft verwandeln.“Andere Milliardäre haben schlicht Angst vor den Folgen, wenn der Reichtum so ungleich verteilt bleibt. Nick Hanauer ist so einer. Er verkaufte 2007 sein Unternehmen für Internetwerbung für 6,4 Milliarden Dollar an Microsoft. Im Jahr 2019 schrieb er einen offenen Brief an seine „Mitmilliardäre“ über die Lehren aus der Geschichte: „Wenn wir nicht etwas tun, um die eklatanten Ungerechtigkeiten in dieser Wirtschaft zu beseitigen, sind bald die Mistgabeln hinter uns her …“Die Stimme in ihrem KopfWahrscheinlich sei es wahr, dass in der Vergangenheit bereits Schlösser gebrannt hätten, sagt Robeyns. Deswegen hofft sie, dass ein „Ökosystem von Akademikern, Büchern und Filmen“ sowie eine Occupy-ähnliche Bewegung à la „Wir sind die 99 Prozent“ den Weg für ein gerechteres Wirtschaftssystem ebnen wird. Bei ihren Vorträgen wurde sie von einigen Zuhörern gefragt: „Warum konzentrieren wir uns auf die Superreichen und nicht auf uns alle, die wir wahrscheinlich mehr haben, als wir brauchen?“ Sie stimmt dieser Meinung bis zu einem gewissen Punkt zu. Aber: „Es gibt etwas Besonderes am oberen Ende der Ungleichheit. Sie und ich könnten natürlich mehr Steuern zahlen oder mehr für wohltätige Zwecke spenden. Aber wir haben nicht die Macht, die Demokratie oder gerechte Klimapolitik zu untergraben – Milliardäre schon.“Robeyns verweist auf den zunehmenden Aktivismus eines Teils der Generation der 20-Jährigen in den Niederlanden, insbesondere im Hinblick auf die Knappheit von Wohnraum. Sie räumt jedoch ein, dass in einem Land, in dem der Rechtsextremist Geert Wilders gerade einen Wahlsieg errungen hat, die allgemeine Frustration wahrscheinlich ebenso sehr die Migranten wie die Superreichen treffen wird.Ich frage mich, ob es beim Schreiben des Buches eine Stimme in ihrem Kopf gab, die ihr zurief: „Komm schon, das wird nie passieren“, die Stimme, die die Verfechter des Status quo hören wollen?„Natürlich“, sagt sie. „Viele Menschen, die mein Buch lesen, werden sich fragen: Was kann ich tun? Wie um alles in der Welt können wir das jemals in Ordnung bringen? Aber meine Antwort lautet: Es ist die Pflicht derjenigen unter uns, die sich in relativ sicheren Positionen befinden, ihre Verantwortung als Bürger zu übernehmen, die Argumente vorzubringen. Engagieren Sie sich freiwillig. Engagieren Sie sich in der Gemeinschaft. Ich bin von Natur aus ein Pessimist“, sagt sie, „aber aufgeben ist keine Option.“
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