Ich war begeistert, als ich 2019 in London Aktionen von Extinction Rebellion erlebte. Mich faszinierte der lebensbejahende, fantasievolle, inkludierende und gewaltfreie Protest dieser Bewegung, die scheinbar aus dem Nichts gekommen war und nun zentrale Orte wie den Oxford Circus oder die Waterloo Bridge nicht bloß blockierte, sondern mit Vorträgen, Performances, Musik und Gesang bespielte.
Viele Aktivisten klebten sich am Asphalt fest und ließen sich dann loslösen und ins Gefängnis bringen. Das war das Rückgrat des Protests, aber drumherum passierte mehr. Neu waren für mich die Deeskalations-Stewards, die mit erstaunlichem Geschick nicht nur Polizisten, sondern auch religiöse Eiferer, betrunkene Brexiteers und verwirrte Junkies in friedfertige Gespr
ge Gespräche einbanden.Ich ging dann selbst zu einem insgesamt beeindruckenden Deeskalationstraining – bei dem mir aber eine Sache aufstieß. Als es um Inhalte ging, hieß es, die Wissenschaft sei sich einig, die Welt stehe am Abgrund, Ende der Debatte. Es gehe nur noch um Protestformen.Unsicherheit unter KlimaforschernDaran wurde ich jüngst bei einer Podiumsdiskussion erinnert, als Vertreter der Letzten Generation ganz ähnlich über die „Kipp-Punkte“ des Weltklimas sprachen: Das sei Konsens der gesamten wissenschaftlichen Community! Man müsse sich das so vorstellen wie ein Brett, das auf einer Kante liegt und nach vorn geschoben wird: Irgendwann kippe es.Schnell lässt sich feststellen, dass das in dieser Drastik falsch ist. Das Science Media Center Germany hat unlängst im Alfred-Wegener-, Max-Planck- und im Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung nachgefragt – bei Gerrit Lohmann, Helge Goessling, Martin Claußen und Ricarda Winkelmann.Es zeigt sich ein breites Spektrum von Auffassungen und sehr viel Unsicherheit. Klimaforscher arbeiten mit Modellsimulationen, die stets eine Vereinfachung der komplexen Realität sind. Diese zeigen eine große Streuung hinsichtlich der Schwellenwerte, ab denen die vermuteten Kaskaden-Effekte eintreten könnten. Es ist auch nicht sicher, dass sie überhaupt stattfinden. Auch gehen zahlreiche Wissenschaftler davon aus, dass viele negative Effekte sich nicht plötzlich, sondern über Jahrhunderte einstellen.Es läuft auf Panikmache rausDie Letzte Generation instrumentalisiert also „die Wissenschaft“ im Sinne einer verzerrten, auf Panikmache hinauslaufenden Weltsicht. Darf sich diese gewollte Simplifizierung selbst schon stark vereinfachender Modellkalkulationen gesellschaftlich als Diskussionsgrundlage festsetzen? Ich sehe durchaus, dass ähnliche Übertreibungen in der Umweltbewegung bisweilen als mobilisierender Faktor gewirkt haben.Man denke nur an die deutsche Angst vor dem „Waldsterben“ in den 1980ern. Da ging es auch um einen Kipp-Punkt. Wissenschaftler warnten, dass Rauchschäden an den Blättern sowie der saure Regen zu einem Kollaps des gesamten Ökosystems Wald führen würden. Auf dem Höhepunkt der Debatte glaubten in einer Umfrage 53 Prozent der Befragten, dass im Jahr 2000 alle Wälder abgestorben seien. Es mag sein, dass das Schüren übertriebener Ängste dem Wald geholfen hat, aber in anderen Ländern ging es auch ohne Hysterie.Der menschengemachten Erderwärmung muss sich die Menschheit auch ohne Klimakollaps und Kipp-Punkte früher oder später stellen. Die Berufung einer Klimabewegung à la Letzte Generation auf einen scheinbaren Konsens der Wissenschaft ist aber manipulativ und unehrlich. Wer die Unsicherheit hinsichtlich jener von manchen, aber nicht allen Computersimulationen postulierten, theoretisch möglichen, aber nicht zwangsläufigen Kaskaden-Effekte derart zuspitzt, führt die Debatte über Kipp-Punkte selbst an einen Kipp-Punkt.Der hiesige Aktivismus hat ein paar Elemente – leider nicht unbedingt die besten – von Extinction Rebellion übernommen. Die Ganzheitlichkeit aber, die mich 2019 in London so fasziniert hatte, ging offensichtlich über Bord. Denn dazu gehörte es auch, sich selbst stets kritisch zu reflektieren.