Vorbei, bye-bye Hätten wir das nicht noch gebrauchen können? Tja. Die Mode der Nullerjahre war nie tragbar, Zensuren schon immer out und Thomas Gottschalk längst nicht das einzige Problem von „Wetten, dass..?“. Und Ostberlin? Kannste vergessen
Die Bild hat neulich „50 Gründe für Neuwahlen!“ veröffentlicht, und da die Bild mit ihrer schwindenden Auflage ja selbst nicht zu retten ist, stimmte die Lektüre dieser gedruckten Boulevard-Brachialität fast schon nostalgisch. Vor allem aber zeigte das Tableau der Bild-Gründe, die in erster Linie Wünsche waren (Waffen für die Ukraine, bessere Ausstattung für die Bundeswehr (→ Ostberlin), Klimageld und Kerosin-Subventionen, Wohnungen und Solarförderung …), warum diese Ampel-Koalition wirklich nicht zu retten ist. Die Leute von Springer-Boss und FDP-Fanboy Mathias Döpfner schrieben es ja sogar selbst auf: „Neuwahlen jetzt, weil“, Punkt 13, „keiner über seinen Schatten springen kann
, Punkt 13, „keiner über seinen Schatten springen kann, wenn das Geld fehlt.“Eine Megatransformation gestalten und zugleich die Schuldenbremse retten zu wollen: An diesem Widerspruch scheitert Rot-Grün-Gelb – außer, FDP-Minister Christian Lindner erklärt doch wieder bald einen „Notstand“; dann wird diesem Lexikon das „S wie Schuldenbremse“ gefehlt haben. Sebastian PuschnerBwie BriefmarkeLange gab es in der Stadt, in der ich aufwuchs, noch ein Briefmarkengeschäft in Innenstadtlage. 2021 war Schluss. Na klar, die Marken kommen inzwischen als QR-Code daher, wie dröge sähe solch ein Album aus? Es ist nicht zu leugnen: Das Postwertzeichen, wie die Briefmarke auf Beamtendeutsch heißt, hat seine besten Zeiten hinter sich. Doch die Historisierung führt nicht zum Aufleben einer Sammlerleidenschaft. Im Gegenteil, Philatelie und Postwesen blühten gemeinsam auf und gehen gemeinsam zugrunde. Auch das in der Familie weitergegebene Briefmarkenalbum ist längst verkauft. Nicht einmal für eine One Penny Black, die erste Briefmarke der Welt von 1840, fand sich bei einer Auktion 2021 jemand, der den von Sotheby’s genannten Mindestpreis zahlen wollte. Schlappe 3,8 Millionen Pfund statt vier bis sechs Millionen wurden geboten. Leander F. BaduraEwie ExotikAls ich vor 56 Jahren mit einer Freundin durch Sizilien trampte, bestaunten uns die Leute dort wie Wesen von einem anderen Stern. Einmal winkten wir vor einem sehr kleinen Haus, in dem zwei verschwägerte Familien wohnten – zwanzig Personen etwa, meist Kinder –, nach einem Auto; ein Stuhl für die Freundin wurde gebracht und eine Frau fragte mit strahlendem Lächeln, ob wir verlobt oder verheiratet seien. Auf meine Antwort, wir seien befreundet, reagierte sie ungläubig. Ich war vor vier Jahren noch einmal dort und sah nur Menschen, jüngere besonders, die hätten genauso in Berlin herumlaufen können (→ Y2K). Selbst die Vegetation sah damals anders aus als heute. Es gibt eine Opern-DVD mit Herbert von Karajan von 1968, die es dokumentiert (Cavalleria rusticana): Kakteen und gelbe Felsen am Meer, in der Natur zwar gefilmt, die mich aber anspringen wie Dämonen. Wenn ich früher weit gereist war, kam ich gleichsam erschüttert zurück, weil ich mich als Schamanen erlebt hatte. Das ist lange vorbei. Michael Jäger Jwie Juste MilieuLiebes Juste Milieu,du warst immer verbohrt, nun jedoch ist unsere Beziehung vollends in die Brüche gegangen. Ich hätte erwartet, dass du das Ringen um den Fortbestand der Grundrechte während der Coronajahre selbst übernimmst, anstatt sie rechten Demagogen zu überlassen. Dann kam der Ukraine-Krieg, und wieder kanntest du nur Gut und Böse. Nun die Gaza-Krise. Für dich existiert nur ein tödliches Entweder-oder. Du killst die Debattenkultur. Die politisch korrekte Linie, von der du jede Abweichung ahndest, markierst du allerorten, indem du deinen Moralfinger erhebst und deine gefürchteten Urteile fällst, dein soldatisches „Richtig!“ – oder: „Falsch!“. Wie ähnlich du den Rechtsaußen-Hetzern geworden bist! Und Humor? Der käme dir beim Besserwissen nur in die Quere. Mit dir sind wir nicht zu retten. Deine Ex Katharina Körting Kwie KarstadtMein Herz blutet jedes Mal, wenn ich auf das „Alles muss raus!“-Schild am Berliner Leopoldplatz gucke. Das dortige Karstadt schließt seine Pforten. Dabei war ich immer da, wenn ich mal einen Gürtel, ein Fahrradschloss oder einen Milchaufschäumer brauchte! Jetzt ist für die 250 Beschäftigten Feierabend. Die Filiale an der Müllerstraße guckt auf eine glorreiche Geschichte zurück: 1978 eröffnet, stieg sie nach dem Mauerfall zum umsatzstärksten Karstadt-Standort überhaupt auf. Im Berliner Norden war es das einzige große Kaufhaus. Das Sortiment von Hertie in Tegel konnte nicht mithalten. Doch die Warenhaus-Ära ist in Zeiten des Onlinehandels vorbei. Wenn am 31. Januar 2024 die zweite Schließungswelle über die Häuser rübergerollt ist, werden deutschlandweit 52 Filialen von Galeria-Karstadt geschlossen haben. Aber vorher werde ich mir noch den roten Kaffeefilter aus Porzellan kaufen, auf den ich seit Jahre schiele (→ Juste Milieu). Er ist vollkommen überteuert, fast 40 Euro. Aber das gönne ich mir jetzt! Dorian BaganzNwie NotensystemFür eine Forderung wie „Nieder mit dem Notensystem“ konnte man in den 1970er Jahren schon mal sein Abi gefährden. „Sie wollen ja gar keine Noten!“, wurde uns süffisant der Ausschluss angedroht. Wie viel Angst und Pein – bis hin zum Schülerselbstmord – Noten verursacht haben, davon berichtet die Literatur. Dass das System alle verunglückten Schulreformen in Deutschland überleben konnte, zeugt andererseits von der Unfähigkeit der Verwahrungsanstalten, kindgemäßere Formen der Leistungsüberprüfung zu entwickeln. Es mag ja sein, dass Konkurrenz auch produktiv sein kann, aber alles zu seiner Zeit. In den skandinavischen Ländern wird erst in der Mittelstufe oder danach benotet. Und Pisa hat uns gerade mal wieder eindrücklich vor Augen geführt, dass mit Noten kein pädagogischer Staat (→ Ampel) zu machen ist. Ulrike Baureithel Owie OstberlinOst-, Ost-, Ostberlin, skandiert die Mercedes-Benz-Arena am Ostbahnhof, damit die Eisbären als Ostklub mehr Tore schießen gegen die Westkonkurrenz aus München, Augsburg oder Köln. Manchmal klappt das. Ansonsten ist Ostberlin ein Phantom und rettungslos verloren, weil dort einst unzumutbare Zustände herrschten. Sie verprellten den mündigen Bürger, der gern seine Zeit verschwendet und die funktionierende Stadt verabscheut. U- und S-Bahn fuhren pünktlich und pendelten nur am Wochenende. Man musste sich nicht hineinquetschen, sondern brauchte nur mitzufahren. Die Schrippe bestand aus Teig statt Luft. Der Russe stand nicht vor der Tür, sondern war schon da. Wohnen zur Miete war derart erschwinglich, dass es heute als soziale Unterforderung verärgern würde. Freilich ging beim großen Aufwasch auch unter, was man hätte retten sollen (→ Karstadt). Die zackigen Paraden der NVA zum Beispiel. Wie sehr könnten die jetzt einem um Kriegsfähigkeit ringenden Land die Lust am Stechschritt und Schießen vermitteln. Lutz HerdenWwie „Wetten, dass..?“Erinnern Sie sich an eine Anzeige für Uhu-Klebstoff im Freitag? Unser Anzeigenleiter, so stellte sich auf der Weihnachtsfeier heraus, könnte Ihnen aus dem Stand sagen, in welchem Jahr, in welcher Ausgabe, auf welcher Seite sie erschien. Ich sah ihn vor meinem inneren Auge schon im ZDF zur Primetime in einer Zeitungskioskattrappe sitzen und Anzeigenmotive aus 500 alten Ausgaben erraten. Würde Sie das begeistern? Wohl ebenso wenig wie mich noch ein Hund, der Zahlen erkennt. Wetten, dass..? ist nicht nur over, weil die eigentliche Wette zuletzt war, ob Thomas Gottschalk es ohne Antatschen durch den Abend schafft. Man hat einfach alles schon gesehen, jede Wette ist nur noch der Schatten einer früheren Wette (allein 69 mit Autos zählte das ZDF). Wetten, dass..? ist nicht zu retten. Jede Wette, es kommt trotzdem wieder. Christine Käppeler Ywie Y2KDie Mode meiner frühen Jugend in den 2000ern, den Y2K, war grauenhaft: Jeans, die so tief saßen, dass sie nur tragen konnte, wer regelmäßig zum Brazilian Waxing ging. Dazu so knappe T-Shirts, dass mehr vom Oberkörper nackt als bedeckt war. Proportional genauso unvorteilhaft waren Trägerkleider, die aus nichts als Rüschen bestanden und ihren schmalsten Punkt direkt unter den Brüsten hatten, weshalb wir immer aussahen, als würden wir verzweifelt unsere angehenden Teen-Mom-Babybäuche verstecken. Irgendwann verschwanden diese modischen Geschmacksverirrungen glücklicherweise. Bis ich vor ein paar Monaten mit jüngeren Freund:innen unterwegs war und dachte, ich wäre in einem schlechten Zeitreise-Plot gelandet: Sie liefen mit Anfang 20 rum wie ich damals mit 13, nur mit besserem Make-up. Zwischen den tief sitzenden Jeans und dem knappen Top zieren jetzt, anstelle von Arschgeweih den unteren Rücken, die Schnüre von String-Tangas die Hüften. Was den Stil in keinster Weise davor rettet, genauso furchtbar zu sein wie vor 15 Jahren. Alina Saha Zwie ZwiebelschmalzMit oder ohne Grieben, das war die Frage. Zum Abendbrot gab es bei uns früher Stullen, mit Schmalz oder Butter, Salami, „nicht zu dick die Scheiben“, Teewurst, Leberwurst, Radieschen, Gurken. Meine Mutter belegte sich ihr Schmalzbrot gern mit Sülze. Ich kannte es als Kind nicht anders, aber wer schmiert sich heute noch abends ein Brot? Ich meine, nicht als Beilage, sondern als Hauptmahlzeit? Meine Kinder haben die Gewohnheiten des (italienischen) Vaters übernommen. „Poverina“, sagt er, wenn ich mir eine Schwarzbrotstulle auf den Teller lege, „du Ärmste.. Schulessen (→ Notensystem) probieren die Kinder höchstens einmal pro Woche. Da hatten es die 1920er-Jahre-Industriearbeiter in ihren Kantinen noch besser. Und dann noch der Zeitgeist. Stress. Low Carb. Brot geht nicht. Schmalz besteht aus Fett. Olivenöl ja, passt aber nicht zur Sülze. Maxi Leinkauf
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