Das Völkerrecht sei gerade mal „gut zur internationalen Bekämpfung der Blattlaus“, meinte Professor Michael Wolffsohn neulich. Die Gesetze des Krieges seien nun mal Mord und Totschlag. Bereits 2022 hatte sich Wolffsohn ähnlich zum Internationalen Strafgerichtshof geäußert und noch eins draufgesetzt: Wider die historischen Fakten setze Deutschland auf die friedensstiftende Kraft des Völkerrechts.
Das Völkerrecht ist also in Verruf geraten. Dabei sollte es doch Mord und Totschlag in internationalen Konflikten verhindern. Zwar gibt es kaum Staaten, die seine Idee ablehnen. Welche Normen gelten und wie sie funktionieren sollen, darüber denkt man im Westen allerdings anders als in China und Russland sowie in großen Teilen Afrikas und Latei
und Lateinamerikas. Dort wirft man dem Westen vor, das Völkerrecht wie eine Monstranz vor sich herzutragen, in Wirklichkeit aber der Welt eine Machtordnung statt einer Rechtsordnung aufzuzwingen.Was sind die historischen Fakten, auf die sich die Kritik beruft? Dass eine neokonservative US-Außenpolitik die Welt bekehren möchte, ist gut dokumentiert. An ihrem Feldzug für Demokratie und Menschenrechte ist prinzipiell wenig auszusetzen, außer dass sie ihre eigenen Prinzipien verraten hat. So entstand eine vertrackte Weltlage, die staatliche und nichtstaatliche Akteure für die gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen ausnutzen. Die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach, die Spannungen zwischen China und Taiwan, zuletzt der Überfall der Hamas auf Israel kulminieren nicht zufällig gleichzeitig mit Russlands Konfrontation mit dem Westen im Ukraine-Krieg. Auch die Kriege in Afghanistan, im Irak, in Syrien und Libyen konnten völkerrechtlich nicht befriedet werden. Die Institutionen des Völkerrechts scheinen heutigen Konflikten nicht gewachsen zu sein.Sie waren es nie. Es war der Kalte Krieg von 1945 bis 1989, der eine Balance im Machtgefüge der Staaten herstellte. Ironischerweise hatte das bipolare Gleichgewicht ein Interventionsverbot „raumfremder Mächte“ im Sinne Carl Schmitts bewirkt, das in der Entspannungspolitik der 1970er Jahre und in der „friedlichen Koexistenz“ zweier Machtblöcke seinen Ausdruck fand. Glückliche Zeiten, im Rückblick.Regelwerk statt NormenkatalogDie Abkehr Russlands und Chinas von der westlichen Idee einer wertgeleiteten Weltinnenpolitik begann mit einer völkerrechtlich bedenklichen Intervention des Westens: die Balkankriege der 1990er Jahre. Unter der Ägide einer neu konstruierten Schutzverantwortung wurde das Interventionsverbot aufgeweicht; an dessen Stelle trat die Machtanmaßung einer „Koalition der Willigen“.Russland hatte in seiner Ohnmacht der Jelzin-Jahre einiges geschluckt. In China registrierte man den Paradigmenwechsel der westlichen Außenpolitik mit Argwohn. In Lateinamerika und Afrika wurde das Misstrauen gegenüber dem Westen durch die Good-Governance-Programme der Institutionen des „Washington Consensus“ (Weltbank und IWF) genährt. Dort hieß es schon vor 20 Jahren, damit würde ein neokolonialistisches Projekt verfolgt. Tatsächlich waren es Projekte der politischen Missionierung – für eine gute Sache zwar, aber nicht gut durchdacht. Nur wenige sahen die geopolitischen und geoökonomischen Verwerfungen voraus, die im Ukraine-Krieg zum Ausbruch kamen.Ein neuer Ausweg wäre die Rückkehr zur westfälischen Norm der Staatenautonomie und strikten Nichteinmischung von 1648. Damit würde aus einem moralischen Normenkatalog wieder ein bloßes Regelwerk, dessen oberstes Ziel die Verhinderung von Kriegen inklusive des Schutzes schwacher Staaten ist. Ein neuer Realismus könnte Raum greifen. Im Kontext von Friedenssicherung bedeutete das: ein zynisch erscheinender moralischer Relativismus und das Festhalten an einer unbeirrbaren Logik der Macht, welche die Außenpolitik der USA wie die Chinas kennzeichnet.Auch Russland, das in der einstigen Sowjetunion Geopolitik als imperialistisches Gedankengut ablehnte, ist zum Fürsprecher einer Weltordnung geworden, die den Interessensphären raumbeherrschender Großmächte entgegenkommt. Mit den Ideen der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hat das wenig zu tun. Ihre von der Blockkonfrontation stabilisierte Völkerrechtsordnung ist Vergangenheit. Sie lebt nur in wohlfeiler Rhetorik und Doppelmoral weiter, wie man sie besonders in Deutschland pflegt.Placeholder authorbio-1