Es wurde immer wieder versucht, Regeln für das Recht von Staaten auf Selbstverteidigung aufzustellen. Letztlich jedoch ist es dabei geblieben, dass vermeintlich Stärkere versuchen, sich mit kriegerischen Handlungen durchzusetzen. Die USA betrachten es als Recht, ihren Interessen fernab der eigenen Grenzen mit Gewalt Geltung zu verschaffen. Russland führt einen „präventiven Verteidigungskrieg“ in der Ukraine, weil es sich von einer auch noch um dieses Land erweiterten NATO bedroht fühlt.
Wie sieht es aber mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels aus, von dem seit dem brutalen Angriff der Hamas am 7. Oktober oft gesprochen wird? Automatisch ergibt sich das nicht. Laut Artikel 51 der UN-Charta besteht das legitime Selbstverteidigungsrecht eines Staates nur
s legitime Selbstverteidigungsrecht eines Staates nur im Fall des Angriffs eines anderen Staates. Und dies auch nur, bis der UN-Sicherheitsrat über die getroffenen Maßnahmen informiert wurde und Entscheidungen über deren Recht- wie Verhältnismäßigkeit gefallen sind. Abgesehen davon, dass im vorliegenden Fall ein Beschluss unwahrscheinlich ist, verdient besondere Beachtung, dass laut Artikel 51 nichtstaatliche Akteure keine Angriffe im Sinne des Völkerrechts ausführen.Der Unterschied zwischen Russland und HamasIm Unterschied zum Krieg in der Ukraine, deren Selbstverteidigungsrecht gegenüber Russland von einer Mehrheit in der UNO anerkannt worden ist, kann der Hamas-Angriff keinem souveränen Staat zugeordnet werden und ist daher eher ein Terrorakt. Gleiches gilt demnach für die Raketen, die von der Hamas auf Israel abgeschossen werden. Für die Nichtstaatlichkeit des Gazastreifens spricht auch, dass er trotz der 2005 offiziell beendeten Besatzung nach wie vor unter „effektiver Kontrolle“ Israels steht: Es blockiert und kontrolliert Personen sowie Waren an den Außengrenzen, überwacht den Luftraum, patrouilliert in den Küstengewässern und hat seit 2008 mehrere Militäroperationen in Gaza unternommen.Demnach kann der Konflikt als moderne Form eines Kolonialkonflikts gesehen werden. Der an der Universität im walisischen Swansea lehrende Politologe Dennis R. Schmidt meint, dass es „weitreichende Konsequenzen“ habe, ob Gaza völkerrechtlich als besetzt gelte oder nicht. Das Völkerrecht schränkt das Recht zum Gewalteinsatz von Besatzungsmächten erheblich ein und erlegt ihnen vielfältige Pflichten auf, nicht zuletzt die Belieferung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern sowie eine Gesundheitsversorgung. Dieser Pflichten hat sich Israel Anfang der 1990er Jahre mit den Oslo-Abkommen partiell entledigt, als für einen Teil der Palästinensergebiete eine Autonomie in Aussicht stand. Der Gazastreifen wird deshalb von anderen Staaten, vorrangig Katar, versorgt, während in der Westbank die Besatzungsverhältnisse daran hindern, eine eigene Wirtschaft aufzubauen. Das Gebiet lebt von internationalen Hilfsgeldern, die von Israel verwaltet und oft verzögert oder – als Strafmaßnahme – nicht an die Palästinensische Autonomiebehörde weitergeleitet werden.Seit Israels Staatsgründung, der die Vertreibung von 750.000 Palästinensern vorausging, steht seinem Selbstverteidigungsrecht das Selbstverteidigungsrecht der Palästinenser gegenüber. Es ergibt sich aus dem häufig erst nachträglich anerkannten Recht kolonisierter Völker auf den Kampf um ihre Selbstbestimmung, der mangels eigener Armee nur asymmetrisch geführt werden kann. Dafür, wie das geschieht, gibt es keinen Rechtskodex, wenn man vom Gebot des humanitären Menschenrechts absieht, wonach auch in Kolonialkonflikten alle beteiligten Seiten keine Zivilisten schädigen oder töten dürfen. Unbedingt verhandeln Die palästinensischen Intifadas, die zahlreichen gegen israelische Zivilisten gerichteten Attentate bis hin zur jüngsten Gewaltorgie der Hamas stehen in einer langen Reihe von antikolonialen Kämpfen, in denen weder Kolonialmächte noch antikoloniale Kämpfer die Haager Landkriegsordnung und Genfer Abkommen respektierten. Diesen internationalen Rechtsvorschriften hat das gesamte Besatzungsregime Israels noch nie entsprochen, wie das sogar sein eigener Oberster Gerichtshof eingeräumt hat. Somit stellt auch der derzeitige Entzug von Wasser, Energie und Nahrungsmitteln für Gaza keine legitime Form der Selbstverteidigung dar. Überdies wird von vielen internationalen Beobachtern infrage gestellt, ob in diesem Gebiet zivile und militärische Objekte unterscheidbar sind.Es ist daran zu erinnern, dass nicht alle Kolonialkonflikte blutig ausgetragen wurden. Viele davon konnten durch Verhandlungen beendet werden. Und selbst wenn gegen jede Rechtsvorstellung auf Gewalt zurückgegriffen wurde, mündeten diese Konflikte irgendwann in Verhandlungen, bei denen es zu schmerzhaften Kompromissen kam. Nicht nur, weil die aktuelle Gewalteskalation zwischen Palästinensern und Israel den ganzen Nahen Osten in Brand setzen kann, ist es die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, auf solche Verhandlungen beider Völker hinzuarbeiten. Deutschland kann seiner historisch begründeten Sonderrolle in diesem Prozess nur gerecht werden, wenn es nicht nur die Sicherheit Israels, sondern auch die Sicherheit der Palästinenser zur Staatsräson erhebt.