Vorsitzender der Sea Eye: „Die Gründe für Flucht nehmen zu, sie werden nicht weniger“
Private Seenotrettung Gorden Isler ist seit 2019 Vorsitzender von Sea-Eye e.V. Im Interview erklärt er, warum 2023 eines der tödlichsten Jahre im Mittelmeer überhaupt war. Und wieso er findet, dass sich die Bundesregierung dem Kurs von Giorgia Meloni annähert
„Die sogenannte libysche Küstenwache war noch nie so gut ausgerüstet wie heute. Die Zahl Flüchtender steigt trotzdem“
Foto: Christian Marquardt/NurPhoto/picture alliance
der Freitag: Gorden, 2023 war eines der tödlichsten Jahre im Mittelmeer, mindestens 2.756 Menschen sind beim Versuch der Überquerung gestorben. Bist du solchen Meldungen gegenüber nach sieben Jahren bei Sea-Eye abgestumpft?
Gorden Isler: Nein, überhaupt nicht. Die Erlebnisse aus fünf Einsätzen auf Rettungsschiffen bewahren mich davor. Seit 2020 steigt die Zahl der Todesopfer wieder und korreliert vor allem mit der Zahl Menschen, die über das Mittelmeer fliehen. Wenn mehr Menschen fliehen, verunglücken leider auch mehr. Was vor allem daran liegt, dass nicht daran gearbeitet wurde, Rettungskapazitäten auf-, sondern sie gezielt abzubauen.
Weil es nach wie vor keine sicheren Fluchtrouten gibt?
Genau. Wenn man den Expert*innen zuhört, wird die Za
Weil es nach wie vor keine sicheren Fluchtrouten gibt? Genau. Wenn man den Expert*innen zuhört, wird die Zahl der Flüchtenden nicht sinken. Die Gründe für Flucht wurden ja nicht beseitigt, es sind eher Gründe dazugekommen. Mit der Verschärfung der Klimakrise kommen perspektivisch auch noch weitere dazu. Durch die Klimakrise ja, aber auch kurzfristig durch Kriege. Wir sehen einen eskalierenden Krieg im Nahen Osten. Über den Krieg im Sudan wird hierzulande kaum gesprochen. Die Zahl schutzsuchender Menschen bleibt vermutlich gleich oder steigt sogar eher an.Die EU handelt aktuell ein Migrationsabkommen mit Ägypten, ähnlich wie mit Tunesien, aus. Kommen die Menschen trotzdem zum Mittelmeer? Ja, das wird wenig ändern. Die sogenannte libysche Küstenwache war noch nie so gut ausgerüstet wie heute. Die Zahl Flüchtender steigt trotzdem. Aus europäischer Perspektive stellt die Politik sich das zu technisch vor. Als gäbe es irgendeinen Knopf in einer europäischen Stadt, auf den man drücken und nur genug Geld überweisen müsse. In Libyen, zum Beispiel, gibt es keine funktionierenden staatlichen Strukturen. Es ist ein Bürgerkriegsland mit ungeklärten Machtverhältnissen. Aber am Abkommen mit Libyen kann man sehr gut sehen, wie weit die EU-Mitgliedstaaten bereit sind zu gehen.So weit, bewaffnete Gruppen auszurüsten, die auf Schlauchboote im Mittelmeer schießen – wie ihr die übereinstimmenden Aussagen mehrerer Geflüchteter in einem Bericht zitiert habt? Es wird oft geschossen, um den Flüchtenden zu drohen. Das ist keine Seenotrettung. Das ist brutale Migrationsabwehr. Es geht nicht darum, Leben zu schützen, sondern die Zahl der Ankünfte in Europa zu reduzieren. Und mir ist keine Fluchtursache bekannt, die von der EU in den vergangenen fünf Jahren beseitigt worden wäre.Du meinst bewaffnete Konflikte, staatliche Fragilität und so weiter?Richtig. Wir haben in der EU aber auch nur limitierte Möglichkeiten, Kriege anderswo zu beenden. Wie zum Beispiel in Syrien, wir retten immer noch Syrer*innen aus Schlauchbooten. Vor etwas mehr als einem Jahr verdurstete etwa ein syrisches Mädchen, weil Malta tagelang keine Rettung koordinierte. Berichten von Journalist*innen zufolge hat Malta die Rettungsarbeiten fast vollständig eingestellt. Für Malta sind das keine Distress, sondern Migration cases. Die entscheiden das vom Schreibtisch in Valletta weg. Die maltesische Rettungsleitstelle weist Handelsschiffe an, den Kurs zu ändern, um Seenotfällen auszuweichen. Wir hatten vor rund einem Jahr einen Fall, wo das Handelsschiff MTM Southport angewiesen wurde, nicht zu retten. Als wir die Menschen erreicht haben, hatten sie fuel burns (Verätzungen durch stehendes Benzin in hochseeuntauglichen Booten – Anm. d. Red.) und waren stark dehydriert. Sie starteten mehrere Tage zuvor östlich von Benghasi und hätten eine weitere Nacht nicht überstanden. Diese Fluchtrouten sind noch gefährlicher, weil die Überfahren noch sehr viel länger dauern.Und da geht es vermehrt lang? Die Zahl nimmt zu. Und irritierend ist, dass die EU-Mitgliedstaaten Malta für diese brutale Praxis nicht kritisieren. Malta ist ein EU-Mitgliedsstaat, da wären politische Mittel da. Es wäre auch kein Problem, die Verteilung von Geretteten von Malta aus zu organisieren. Da wurde Malta aber in der Vergangenheit auch von der letzten Bundesregierung hingehalten und im Stich gelassen. Es wird ja von der Bundesregierung behauptet, dass die GEAS-Reform die Verteilung von Geflüchteten verbessern würde. Was soll sich denn da verbessern? Die GEAS-Reform ist die Festschreibung dessen, was wir in den letzten Jahren beobachtet haben. Am Beispiel von Moria konnten wir sehen, wie solche Grenzlager in Zukunft aussehen dürften. Sie werden grenznah, zum Beispiel in Bulgarien, Polen, Griechenland und Italien sein, also auf europäischem Boden. Und dann wird dieser zu nicht-europäischem Boden erklärt, damit die Menschen keine Rechte haben, die Fiktion der Nichteinreise. Die Bundesregierung stützt diese Entscheidung. Gab es keinen politischen Dissens in dieser Frage zwischen Bundesregierung und Leuten wie Giorgia Meloni?Den konnte ich nicht wahrnehmen. Da stand ein sozialdemokratischer deutscher Bundeskanzler, der sich von der Seenotrettung distanziert, neben der Postfaschistin Meloni und lacht. Er lacht ja nicht oft, aber augenscheinlich hatten sie eine Menge Spaß zusammen. Unterm Strich hat Meloni ihre Politik durchgesetzt. Und die Bundesregierung hat dabei geholfen und sich daran beteiligt, dass Leute wie Meloni an der Macht bleiben. Christian Dürr von der FDP hat in einem Interview mit der Bild am Sonntag gesagt, irreguläre Migration könne nicht mehr mit Steuergeld finanziert werden, die Grünen haben der GEAS-Reform zugestimmt. Eine klare Abkehr von der Seenotrettung?Politiker*innen, die im Tagesgeschäft mit der Bildzeitung sprechen, reden halt so. Die ganze Diskussion um Seenotrettung ist aber eine Scheindebatte. Wir liefern, ehrlich gesagt, keinen relevanten Beitrag zur Migration. Deutsche Seenotrettungsorganisationen sind an weniger als 3 Prozent der Ankünfte Schutzsuchender in Italien beteiligt. Das ist ein verschwindend geringer Anteil. Wer Seenotrettung abschaffen will, fordert nichts anderes als gefährlichere Fluchtrouten und mehr Todesopfer.Die parlamentarische Debatte um das Thema Seenotrettung wird geführt, weil öffentliche Gelder an zivile Seenotrettungsorganisationen gehen, aber die Summe ist doch ein Witz, oder?Dass sich bei 2 Millionen Euro jährlich Fraktionsvorsitzende und Kanzler genötigt fühlen, Kommentare abzugeben und eine italienische Ministerpräsidentin einen Brief an den Bundeskanzler schreibt, zeigt, dass es sicher nicht um die Wahrnehmung einer ethischen Verantwortung geht. Du hast mal in einem taz-Interview 2018 gesagt, dass es in Deutschland eine relativ konstante Arschlochquote von circa 9 Prozent gibt. Musst du das revidieren? Damals ging es um den Umfragewert für AfD. Es ist nicht meine Art polemisch zu sein, aber wie nennt man denn Menschen, die bereit sind so eine Partei zu wählen? Nun sind mehr als 20 Prozent dazu bereit, eine Partei zu wählen, dessen Funktionär Björn Höcke sagte, dass „Das Problem ist, dass Hitler als absolut böse dargestellt wird“. Ich habe im Sommer Utah Beach in der Normandie besucht und vor tausenden Gräbern junger Menschen gestanden, die gefallen sind, um den Faschismus zu bekämpfen. Ich habe wirklich große Sorge, dass sich die Geschichte wiederholt.Ein guter Freund von mir hat die Möglichkeit einer von der AfD tolerierten Minderheitsregierung der CDU in den Raum gestellt. Friedrich Merz hat dreimal kandidiert, um CDU-Vorsitzender zu werden. Der Mann will Macht und ich glaube nicht, dass er vor einer Zusammenarbeit mit der AfD zurückschrecken wird. Ob Minderheitsregierung oder Koalition. Der Ausgang der Landtagswahl in Thüringen wird uns einen Ausblick darauf geben, wo Merz steht. Als die Grünen der GEAS-Reform zugestimmt haben, ist eine Gruppe von Parteimitgliedern mit Fluchtgeschichte ausgetreten. Kusay Amar hat im Interview gesagt, die grüne Asylpolitik sei „ein Verrat an Geflüchteten“. Wie trifft dich als Mitglied der Grünen das?Ich bedaure, aber verstehe und respektiere das. Diese Politik richtet sich gegen Menschen, die Kusays Familienmitglieder sein könnten. Ich habe kein Amt und kein Mandat bei den Grünen und bewerte das für mich persönlich noch anders. Denn was passiert, wenn alle Menschen, die für Menschenrechte streiten, bei den Grünen austreten? Ich halte es für sinnvoll, auch in Zukunft innerhalb dieser Partei auf Missstände hinzuweisen und für gute Programme zu kämpfen. Und das Programm der Grünen ist ja in Ordnung, sie setzen es nur nicht um.Die Bundesregierung macht auch nicht, was im Koalitionsvertrag steht. Sie sind schwerwiegend davon abgewichen. Deswegen habe ich den größten Respekt vor Menschen, die sagen, dass sie das nicht mehr mittragen. Aber dadurch verändern sich auch Mehrheiten in der Partei und wenn so wichtige Stimmen und Menschen fehlen, macht es das schwerer für die, die bleiben.Placeholder image-1Ein kleiner Sprung: Die Route von Westafrika zu den Kanaren wird immer mehr genutzt. Wie funktioniert da die Seenotrettung? Es gibt keine zivile Seenotrettung. Unserer Beobachtung nach koordiniert und rettet die spanische Küstenwache im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Interessant ist: Wer behauptet, wir seien der Pull-Faktor im zentralen Mittelmeer, muss erklären, warum die Zahlen auf der noch gefährlicheren Atlantikroute ebenfalls steigen. Die Chance an den Kanaren vorbeizufahren, ist riesig. Ich weiß von einem Boot, das in der Karibik angekommen ist. Das hat kein Mensch überlebt. Ich will mir nicht vorstellen, wie viele Menschen da vorbeifahren. Die Dunkelziffer dürfte extrem hoch sein. Gibt es Überlegungen, dort aktiv zu werden?Wenn wir unser Schiff aus der zentralen Mittelmeerroute abziehen, fehlt es dort. Das Abziehen würde dort zu mehr Todesopfern führen. 2023 wurde die SEA-EYE 4 dreimal von italienischen Behörden festgesetzt. Ihr habt Klagen eingereicht. Wie laufen die Prozesse? Bis jetzt ist noch nicht viel passiert. Wir müssen aber klagen, um Rechtssicherheit herzustellen. Sea-Watch hat wegen einer Festsetzung vor einem Verwaltungsgericht in Italien geklagt. Das wurde an den Europäischen Gerichtshof überwiesen und der hat entschieden, oh Überraschung, dass für die Sicherheit an Bord der Schiffe die Flaggenstaaten zuständig sind und Italien widerrechtlich gehandelt hat. Eigentlich bräuchte es eine Initiative der Bundesregierung. Deutschland ist zuständig und müsste jetzt gegen Italien vor Gericht ziehen. Würde man übrigens machen, wenn es deutsche Handelsschiffe wären. Dann würde die FDP vermutlich innerhalb weniger Stunden eine Klage einreichen …Ja, da geht es um Umsatz und Gewinne. Nicht um Menschenleben. Wenn es eine große Reederei unter deutscher Flagge erwischt, würde man sofort intervenieren und das wäre auch richtig. Denn das Bundesverkehrsministerium ist für die Schiffssicherheit deutscher Schiffe in internationalen Gewässern verantwortlich. Wenn der Bundesverkehrsminister nichts unternimmt, trägt er das mit.
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