Meinung Die Europäische Union hat sich entschieden: Für einen erbarmungslosen Umgang mit Menschen auf der Flucht. Und es sind diejenigen, die sonst das liberale Hohelied auf Europa singen, die seine Brutalität nun institutionalisieren
Der Umgang mit Geflüchteten ist ein Armutszeugnis für die EU
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Auf Claudia Pechstein regnet es jetzt Spott und Schande. In Uniform hat die Bundespolizistin und Eisschnellläuferin einen Auftritt voller nervöser Versprecher hingelegt, der Liberale höhnen lässt, und schimpfen – über solche Sätze: „Allein die öffentlich-rechtlichen Verkehrsmittel nutzen zu können, ohne ängstliche Blicke nach links und rechts werfen zu müssen, gehört zu den Alltagsproblemen, die viele und vor allem Ältere und Frauen belasten.“ Die Abschiebung abgelehnter Asylsuchender könne da Abhilfe schaffen. Selbst CDU-Mann Thomas de Maizière hätte Pechstein „diese Forumlierung nicht empfohlen“, sagte er hinterher – aus der ersten Reihe hatte er den Beginn ihres Statements noch
sagte er hinterher – aus der ersten Reihe hatte er den Beginn ihres Statements noch beklatscht.Nichts gegen lauten Widerspruch zum Alltagsrassismus in Uniform und zu einer Partei, die eine ostdeutsche Sportikone die Ressentiments potenzieller Wähler befeuern lässt. Nur: Die CDU, bei deren Grundsatzkonvent Pechstein sprach, regiert ja gerade gar nicht. Thomas de Maizière war bis 2018 Innenminister. Und nicht einmal sein Nachfolger Horst Seehofer (CSU) hat vollbracht, was Nancy Faeser (SPD) nun als „historischen Erfolg“ feiert: den EU-Asylkompromiss mit noch mehr Lagern an den EU-Außengrenzen, in denen bald so getan wird, als hätte ein Asylsuchender, der die EU betreten hat, die EU gar nicht betreten.Die nette Nancy FaeserPechstein redet. Innenministerin Faeser handelt. Die hessische SPD hat sie dafür gerade mit rund 95 Prozent zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl gekürt. Im Oktober soll sie die erste Ministerpräsidentin des Bundeslandes im Zentrum Europas werden, und als Auftakt der Kampagne dazu darf man ruhig ihre Worte aus dem vergangenen Oktober betrachten: „Derzeit kommen auch über das Mittelmeer und die Balkanroute wieder erheblich mehr Menschen nach Europa. Das macht mir Sorge. Wir müssen klar für eine Begrenzung sorgen.“Die Nette mit der One-Love-Kapitänsbinde auf der Tribüne der Fußball-WM in Katar stimmt einer Politik zu, über die die EU-Grundrechteagentur sagt, sie schaffe „grundrechtliche Herausforderungen, die fast unüberwindbar erscheinen“. Aber FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann wird da wohl nicht so genau hinschauen wollen. Kanzler Olaf Scholz scherzt beim Kirchentag über den „großen Strand“, den Deutschland am Mittelmeer haben müsse. Und Außenministerin Annalena Baerbock erweckt den Eindruck, der von ihren Grünen mitgetragene Kompromiss erlege ihr persönlich die größten Zumutungen auf.Annalena Baerbock und die SeenotretterIndessen wusste der Spiegel von Geldern zu berichten, die das Auswärtige Amt unter Baerbock zivilen Seenotrettern vorenthält. Staatsgeld für Seenotretter, deren Schiffe Giorgia Meloni in italienischen Häfen festsetzen lässt, das käme in Rom nicht gut an. Auch nicht in Athen, wo der Konservative Kyriakos Mitsotakis auf dem Weg zur absoluten Mehrheit ist, kurz nach dem Tod von mutmaßlich mehr als 500 Menschen vor der Hafenstadt Pylos. Ihrem Ertrinken tatenlos zugesehen oder gar das Sinken des Bootes mit herbeigeführt zu haben, dieser Vorwurf trifft die griechische Küstenwache. Mitsotakis verteidigt sie eisern. Wähler werden die andere Erklärung angenehmer finden: von Flüchtlingen und Schmugglern, die ihr völlig überladenes Schiff nicht retten lassen wollten, um irgendwie doch noch italienische Gewässer zu erreichen.Abgesehen davon, dass 800 Verdurstende, Verhungernde und akut vom Ertrinken Bedrohte wohl kaum einhellig im Chor „No help, go Italy“ rufen: Sie alle hätten gerettet werden können und müssen, so oder so. Das verlangen Recht, Moral und selbst Claudia Pechstein, die in ihrer Rede sagte: „Unstrittig“ sei, „dass man Menschen in Not helfen muss.“Der martialische Gérald DarmaninDoch das Europa von Faeser, Baerbock, Meloni, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin hilft Menschen in Not nicht. Es lässt sie sehenden Auges im Mittelmeer sterben, von Milizen in den NATO-Ruinen der libyschen Staatlichkeit jagen und will sie nun in Länder deportieren, zu denen sich ihnen irgendeine „Verbindung“ unterstellen lässt. Darmanin, der in einem Übersee-Department gerade eine martialische Massenausweisung inszenieren lässt, hat in Tunesien mit Faeser geworben, um die Rücknahme auch von Nicht-Tunesiern, bei Präsident Kais Saied, der zu Hause vor einem „schwarzafrikanischen Plan“ warnt, die „weißen Nordafrikaner“ ins Meer zu treiben. Doch er steht unter dem Druck einer Wirtschaftskrise infolge gestiegener Weltmarktpreise für nötigste Güter – und unter dem des Internationalen Währungsfonds (IWF), im Tausch für einen Notkredit Haushaltskürzungen, Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Privatisierungen zuzusagen. Auf solches Krisenwerkzeug verstand sich Europa schon vor Giorgia Meloni.Legale Migrationswege nach Europa, wie sie Tunis vage in Aussicht gestellt werden, sind eines der wenigen Mittel, die helfen könnten, das verzweifelte Ausweichen auf tödliche Fluchtrouten zu dämpfen. Doch es werden derer absehbar zu wenige sein, um sich ehrlich zu machen und die Migration nach Europa als Realität zu akzeptieren und zu humanisieren. Das liberale Europa hat einen anderen Weg gewählt.