In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni ereignet sich vor der griechischen Halbinsel Peloponnes einer der tödlichsten Schiffsbrüche seit langer Zeit. Mindestens 300 Menschen werden bis heute vermisst oder gelten gesichert als tot. Das Rettungsschiff „Sea Eye 4“ kann nicht eingreifen. Sie liegt zu diesem Zeitpunkt im Hafen Ortonas – mehrere hundert Kilometer von den kritischen Such- und Rettungszonen des Mittelmeers entfernt.
Bereits bei der Einfahrt in den Bahnhof ist das zinnoberrot gestrichene ehemalige Offshore-Versorgungsschiff zwischen den Kränen des Industriehafens hindurch zu erkennen, das bereits seit zehn Tagen hier liegen muss. Auf Grundlage eines im Februar erlassenen Gesetzes wurde die „Sea Eye 4“, das Schiff der zivilen Seenotrettungso
f der zivilen Seenotrettungsorganisation Sea-Eye, durch die hiesige Küstenwache in der norditalienischen Kleinstadt Ortona in den Abruzzen festgesetzt. Vom Bahnhof in den Hafen ist es nur ein Katzensprung, wo die Mitarbeiter der Pforte meine Personalien aufnehmen.Meloni ordert die Rettungsschiffe in Häfen in NorditalienIm Februar hat die Regierung der Postfaschistin Giorgia Meloni ein Gesetz erlassen, das Schiffe dazu verpflichtet, nach einer Rettung direkt den ihnen zugewiesenen Hafen anzusteuern. Das soll sie daran hindern, weiteren Menschen in Seenot zu helfen. Sie sollen entgegen den Richtlinien der internationalen Seefahrt handeln, Notrufe missachten und Menschen auf der Flucht dem sicheren Tod im Mittelmeer überlassen. Die Brücke der „Sea Eye 4“ hatte sich in Absprache mit den Sea-Eye Verantwortlichen an Land dagegen: Als die „Sea Eye 4“ am 31. Mai auf dem Rückweg von einem Rettungseinsatz ist, reagiert die Crew auf ein Hilfegesuch. Durch diese Entscheidung können 32 Menschen, die seit vier Tagen in einem winzigem Schlauchboot ohne Wasser und Nahrungsmittel verharrten, gerettet und am 2. Juni in Ortona sicher an Land gebracht werden. Darauf ordnete die italienische Küstenwache am 3. Juni eine 20-tägige Verwaltungshaft und 3.333 Euro Strafe für die „Sea Eye 4“ an.„Wir wollen nicht als Held*innen wahrgenommen werden. Wir versuchen nur eine Lücke zu schließen, die die Politik hinterlässt“, sagt Isi. Sie trägt kurzgeschorene Haare, und ist als freiwillige Köchin auf der „Sea Eye 4“. Neben ihr sind noch die Köchin Nora, ein Mitarbeiter für die logistische Unterstützung, Roman, und neun professionelle Seeleute Teil der aktuellen Besatzung der „Sea Eye 4“.„Ich gehe nicht wieder in die normale Schifffahrt. Das hier hat einen Sinn. Hier bleibe ich“, erzählt Max, der seit mehr als vier Jahren als Offizier und Ingenieur für Sea-Eye arbeitet. Alle Mitglieder der Crew waren, wie Max, früher in der konventionellen Schifffahrt tätig. „Es verändert dich, Menschen in diesen kleinen Booten zu sehen – du hinterfragst vieles“, sagt Vatroslav, der erste Offizier. Trotz Festsetzung und zunehmender Repression will niemand in die konventionelle Schifffahrt zurück: „Die Situation ist frustrierend – aber nicht demotivierend“, sagen die beiden Matros*innen Perrine und Tim in ihrer Kaffeepause. Sie sitzen auf Bierzeltgarnituren, wenige Meter neben der Gangway des Schiffes. Es riecht nach einer Mischung aus Meer und Baustelle. Noch ist es bis auf das stetige Brummen des Schiffes und gelegentliches Piepen in anderen Teilen des Industriehafens ruhig, doch Francis wird im Laufe des Tages mit der Entrostung des Decks anfangen; ein höllisch lautes Unterfangen. Die oberste Metallschicht des Decks wird mit einer Maschine abgetragen, um danach frische Farbe aufzutragen. „Ich habe diesen Weg gewählt, um mein Leben zu retten“, sagt ein GeflüchteterFrancis arbeitet insgesamt bereits seit 8 Jahren in der zivilen Seenotrettung und ist damit von der aktuellen Crew am längsten dabei. Aufhören ist auch für ihn keine Option – solange er körperlich fit genug für die Arbeit ist. Er ist Bootsmann, also eine Art Deckmanager, auf der „Sea Eye 4“, und dafür verantwortlich, dass alle notwendigen Reparaturen an Deck durchgeführt werden. Nicht nur einmal kam er mit dem Tod in Berührung. Er erzählt Geschichten von gescheiterten Reanimationen, Leichensäcken und schlaflosen Nächten, wenn man ihn fragt. Vor fast zehn Jahren, erinnert sich Francis, versuchte er und die anderen über 15 Minuten lang eine Frau wiederzubeleben. Sie hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben, als sie wieder zu sich kam. Sie verstarb wenige Minuten später im Rettungshelikopter auf dem Weg ins Krankenhaus, Francis musste die Nachricht ihrem Sohn, der gemeinsam mit ihr unterwegs war, überbringen. „Das sind grauenhafte Vorfälle. Aber diese Geschichten sind ein Teil von mir“, sagt er.Geschichten wie die von Syed*, der während der letzten Mission von der Sea-Eye-Crew an Bord genommen wurde. „Ich habe diesen Weg gewählt, um mein Leben zu retten“, sagt er. In Libyen war er anderthalb Jahre in einem Teufelskreis gefangen. Eine Gefangennahme folgte auf die nächste, Paramilitärs, kriminelle Gruppen und Polizei wechselten sich als seine Geiselnehmer ab. Zwei Monate nach seiner ersten Entführung begannen seine Geiselnehmer ihn zu foltern, weil seine Eltern das geforderte Lösegeld nicht zahlen konnten. „Mein Vater und meine Mutter beschlossen dann, alles zu verkaufen, was sie hatten“, sagt er. „Ihr Haus und ihr Land, um mich zu retten“. Kurz nach der Lösegeldzahlung und seiner Freilassung wurde er wieder gefangen genommen. Schließlich schaffte er es, in einem kleinen Boot auf das Mittelmeer zu fliehen. Nach mehreren Tagen wurden sie von der Sea-Eye-Crew an Bord genommen. Syed ist sich sicher: Ohne den Einsatz der „Sea Eye 4“ wäre er nicht mehr am Leben. „Sie haben uns das Leben geschenkt“.Die Crew sprechen von geretteten Menschen als „Gäste“. Die bekommen als erstes eine Art Grundversorgung: Essen, Trinken, Duschen, Behandlung von Wunden – besonders häufig sind Verätzungen durch Benzin – und saubere Kleider. Dafür hat das Schiff die nötige Infrastruktur und Personal, auch eine Krankenstation samt Mediziner*innen.Die Sea Eye 4 muss Ortona anlaufenNach ihrem Einsatz am 31. Mai musste die Sea Eye 4 Ortona anlaufen. Auf dem Weg dorthin richtet Isi einen improvisierten Frisiersalon ein, den bald ein „Gast“ übernimmt: Vor seiner Flucht war er Barbier. Den Rest der Überfahrt verpasst er den anderen Geretteten, darunter auch Syed, neue Frisuren und sauber getrimmte Bärte. Er arbeitet bis in die späten Abendstunden hinein. Andere Gäste verbringen die leere Zeit mit dem Malen von Bildern, die sie auf dem Deck ausbreiten. Es sind zugleich Zeugnis von Hoffnung auf Zukunft und den Erlebnissen der Vergangenheit: Folter, Misshandlung und Gewalt. Mustafa* ist vielleicht sechzehn Jahre alt, er malt viele Stunden lang. Eines seiner Bilder zeigt einen gefesselten und geknebelten Menschen, der an einem Seil über einem offenem Feuer hängt.Als das Schiff am 2. Juni in Ortona ankommt, wird es von Küstenwache, Polizei, mehreren Rettungswägen und sogar der Feuerwehr erwartet. Sie nehmen die Geflüchteten entgegen. Seitdem das neue italienische Gesetz in Kraft ist, werden den Seenotrettungsschiffen deutlich schneller sichere Häfen zugewiesen; sie müssen nicht mehr, wie in der Vergangenheit, teils wochenlang herumirren, bevor sie anlegen dürfen. Doch die zugewiesenen Häfen befinden sich oft weit im Norden, so wie Ortona. Während die italienische Regierung behauptet, dass die Zuweisung von Häfen in Norditalien der besseren Verteilung von Geflüchteten dient, sagt Jasmine vom Kulturverein Maldusa: „Menschen, die in Norditalien von Bord gehen, werden nach wie vor in Auffanglager oder Aufnahmeeinrichtungen in Süditalien gebracht“. Für die zivile Seenotrettung bedeutet die Zuweisung von Häfen in Norditalien deutlich längere Fahrtwege. Und damit weniger Präsenz im südlichen Mittelmeer.Am 3. Juni überbringt die Küstenwache die Botschaft der Festsetzung und den Strafbescheid an Paval, den Kapitän der „Sea Eye 4“. Der trägt es mit Fassung und kommt mit den Mitarbeitern ins Gespräch. Am Ende verabredet man sich sogar zu einem Fußballspiel: Sea-Eye-Crew gegen Küstenwache. Aufgrund einer Covid-Infektion seitens der Küstenwache musste das Spiel verschoben werden. Die Küstenwache habe Angst zu verlieren, vermutet man an Bord. Aber von rechter Stimmungsmache ist in Ortona auch sonst wenig zu spüren. Die Anwohner*innen haben Bilder der Geflüchteten in der Stadt aufgehängt. Und ein Pizzaiolo, bei dem die Crew die Sea Eye einkehrt, postet später auf Social Media. „Große Freude über den Besuch der Sea-Eye-Leute, die mich mit einem Lächeln und Hoffnung für all die Flüchtlinge, die sie aus unseren Meeren in Sicherheit bringen, zurückließen. Ihr seid wunderbar, viel Glück <3“.Die Crew nutzt die aufgezwungene Hafenzeit für Wartungsarbeiten und PapierkramAn Bord geht währenddessen alles seinen gewohnten Gang. Frühstück ab sieben Uhr dreißig, Morgen-Meeting um acht. Der Tag ist durchgetaktet. Die Crew nutzt die aufgezwungene Hafenzeit für fällige Wartungsarbeiten, kleinere Reparaturen, Papierkram, die tägliche Reinigung der Gemeinschaftsräume und Debriefing-Gespräche. Viele machen Sport: Perrine und Yanira gehen um sechs Uhr joggen, Max macht Kraftübungen, Nora geht schwimmen und Paval setzt sich abends auf den Fahrrad-Heimtrainer. Es scheint fast, als täte der Crew eine Pause im Hafen gut. Doch Perrine & Tim sagen: „Nee. Wir sind Seeleute. Wir wollen nicht im Hafen liegen, wir haben einen Job zu erledigen. Wir sind hier, um Leben zu retten.“Dieser Job wird immer schwieriger, wie der Schiffsbruch in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni zeigt. Sowohl Frontex als auch die griechische Küstenwache hätten von der Notlage des Schiffes vor dem Peloponnes gewusst, letztere seien sogar vor Ort gewesen, wird berichtet. Die Katastrophe hätte verhindert werden können. Jetzt addieren sich die Toten zu den 1.156 bestätigten Todesfällen von Menschen auf der Flucht im Mittelmeer allein im Jahr 2023. Niemand weiß, wie viele es tatsächlich waren. Denn allein drei Schiffe der zivilen Seenotrettungsflotte sind zurzeit auf Grundlage des neuen Gesetzes festgesetzt. Die Organisation Sea Eye hat kürzlich angekündigt, gegen das Gesetz vor Gericht zu ziehen. Carlotta, eine Mitarbeiterin von Sea Eye, sagt: „Die wollen nicht uns, sondern Menschen auf der Flucht kriminalisieren – wir sind nur Beifang“.Unterdessen hält die Bundesregierung die vom Bundestag versprochenen jährlichen Zahlungen von 2 Millionen Euro an „United 4 Rescue“, einem Bündnis zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung, unter fadenscheinigen Begründungen zurück. Und die EU? Sichert Tunesien mehr als eine Milliarde Euro finanzieller Unterstützung zu – 255 Millionen davon explizit für „Migrationsmanagement“. Diese Politik steht im krassen Gegensatz zur angewandten Menschlichkeit auf See, wie sie die Sea Eye 4 praktiziert.*Namen von der Redaktion geändert