Migration: 2.510 Menschen sind 2023 im Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst
Flüchtlingsabwehr Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Menschlichkeit verraten wird, indem die Rettung von Menschen in Not ausbleibt. Private Seenotretter im Mittelmeer dürfen nicht kriminalisiert werden, denn ihre Arbeit ist von unschätzbarem Wert
Eine Frau warf sich auf die Knie, erzählt Barbara Held, umklammerte ihre Beine und schrie immer wieder ,my baby!‘, während ihr kleiner Sohn nass und zitternd neben ihr stand.
Abbildung aus dem Buch „Mediterraneo“, Luca Ferrara U. Sergio Nazzaro/Round Robin Editrice
Bei einem Manöver gegen ein Flüchtlingsboot am Morgen des 27. Oktober nahm die libysche Küstenwache offensichtlich den Tod von Menschen in Kauf, auch den von Kindern. Barbara Held, Ärztin an Bord des privaten Rettungsschiffes „Sea-Eye 4“, beobachtete mit ihrer Kamera, wie sich eine regelrechte Hetzjagd abspielte. „Das Boot der libyschen Küstenwache fuhr vor das viel kleinere, überladene Schlauchboot, bog dann scharf ab und überließ die Menschen den hohen Wellen, die das Boot fast zum Kentern brachten“, erinnert sie sich. Als ein Mann herausstürzt und nach Luft ringend noch einmal auftaucht, filmt sie den Ertrinkenden. „Ich fühlte mich so elend, das zu tun, ohne eingreifen zu können. Aber ich war da, dieses
ses Unrecht zu dokumentieren, so musste ich es aushalten.“ Rettungsbemühungen der libyschen Küstenwache konnte sie nicht erkennen.Leblos im BootDie Überlebenden kletterten mit letzter Kraft an Deck der „Sea-Eye 4“. Eine Schwangere, ein junger Mann mit schweren Verbrennungen und ein Baby atmeten kaum noch. Beißender Benzingeruch habe in der Luft gelegen. „Viele husteten, sie erbrachen Salzwasser und Benzin“, schildert Barbara Held die Situation. „An Bord schrien und weinten sie und konnten lange nicht begreifen, dass der Albtraum endlich vorüber war. Eine Frau warf sich auf die Knie, umklammerte meine Beine und schrie immer wieder ,my baby!‘, während ihr kleiner Sohn nass und zitternd neben ihr stand.“ Erst später sollte Held begreifen, dass diese Verzweiflung der zwölf Jahre alten Tochter galt, die leblos neben drei anderen Toten in der Benzinbrühe des Schlauchbootes lag.Die Flüchtlinge kamen überwiegend aus dem subsaharischen Afrika und waren vom tunesischen Zuwara aus aufgebrochen. „Ich kann nicht ausschließen, dass Menschen durch die Massenpanik gestorben sind, die etwas mit den Manövern der libyschen Küstenwache zu tun hatte“, meint die Ärztin. Später berichteten ihr fünf der Überlebenden unabhängig voneinander, dass die Libyer mehrfach in die Luft und auf Menschen im Wasser geschossen hätten. Einer der Milizionäre sei auf das Schlauchboot gestiegen und habe versucht, mit einer spitzen Stange den Bootsschlauch zu zerstören.Hilfsorganisationen dokumentieren regelmäßig derartige Attacken. Trotzdem werden zivile Seenotretter in der EU inzwischen vermehrt kriminalisiert. Ein klarer Verstoß gegen internationales Seerecht, das dazu verpflichtet, Menschen in Seenot unter allen Umständen zu retten. Stattdessen kamen die maritimen Rettungsleitstellen der Mittelmeer-Anrainerstaaten ihren Pflichten wiederholt nicht nach. So prangert in einer Presseerklärung von SOS Humanity der Kapitän des Schiffes „Humanity 1“ die Weigerung aller angefunkten Behörden an, einen Notfall am Morgen des 30. November zu koordinieren. Die Crew des zivilen Aufklärungsflugzeuges „Seabird 1“ hatte beobachtet, wie bei einem gewaltsamen Pull-back der libyschen Küstenwache 46 Menschen ohne Rettungswesten über Bord gingen und zu ertrinken drohten. Wäre das von „Seabird 1“ alarmierte Rettungsschiff ihnen nicht zu Hilfe geeilt, wären die Menschen, darunter zwanzig Minderjährige, rettungslos verloren gewesen.Giorgia Melonis Druck und Nancy Faesers ReaktionAnschließend wurde das Schiff in Italien festgesetzt. Das Verkehrsministerium dort, das Innenressort und die Zollpolizei behindern zivile Seenotretter häufig dadurch, dass sie ihnen weit entfernte Häfen zuweisen, sie mit Geldstrafen belegen, die Besatzungen in den Häfen peniblen Kontrollen aussetzen und die Schiffe blockieren. Doch damit nicht genug, die deutsche Regierung gab nur allzu bereitwillig den Vorstellungen nach, wie sie besonders von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni formuliert werden. Diese verlangt, dass jede staatliche Förderung privater Seenotrettungsdienste zu unterbleiben hat. Innenministerin Nancy Faeser reagierte auf diesen Druck, indem sie unter anderem die Bekämpfung von Schleusern verschärfte. Zu einer öffentlichen Anhörung, die es dazu am 11. Dezember im Bundestag gab, waren weder Menschenrechtsaktivisten noch Hilfsorganisationen geladen. Wenn es zu den vorgesehenen Gesetzesänderungen käme, wäre ein fehlender geldwerter Vorteil, wie er bei humanitärer Hilfe vorliegt, kein Ausschlusskriterium mehr für die Strafbarkeit wiederholter Hilfeleistungen, die Personen bei der Einreise in den Schengenraum zugutekommen. „Diese Möglichkeit eröffnet es deutschen Staatsanwaltschaften, eine Reihe von Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen“, sagt Nassim Madjidian, Juristin an der Universität Hamburg. Das gelte auch dann, „wenn Gerichte zu der Ansicht gelangen sollten, dass sich ein Seenotretter nicht strafbar gemacht habe, weil er verpflichtet war, Menschen aus Seenot zu retten“. Sea-Watch-Sprecher Oliver Kulikowski bezeichnet derartige Pläne als den massivsten Angriff auf die zivile Seenotrettung seit deren Bestehen.Tatsächlich befinden sich schon jetzt etliche humanitäre Helfer in EU-Mittelmeerstaaten wegen sogenannter Solidaritätsvergehen in Haft oder warten auf ihren Prozess. Gleichzeitig registrierte die Internationale Organisation für Migration (IOM) im Jahr 2023 bis zum 10. Dezember 2.510 im Mittelmeer Ertrunkene und Vermisste. Pro Woche sind darunter laut UN-Kinderhilfswerk UNICEF im Schnitt elf Kinder. Insgesamt starben im zurückliegenden Jahrzehnt 28.259 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer oder werden bis heute vermisst. Trotz der tödlichen Gefahren versuchen es viele immer wieder.Wenn sie Gewalt duldet und Menschenrechte verletzt, normalisiere die EU ein Grenzregime, das vom Transnationalen Institut, einer internationalen Forschungs- und Advocacy-Einrichtung, zu Recht als „Grenzkrieg“ bezeichnet werde, meint die spanisch-marokkanische Aktivistin Helena Maleno Garzón. Der Journalistin werden wegen ihres Engagements immer wieder „Solidarity Crimes“ vorgeworfen und Haftstrafen angedroht. Die 53-Jährige beklagt eine Grenzsicherung, die mit Drohnen hochgerüstet werde, eine moderne Überwachung mit Biosensoren sowie Kameras aufbiete und sich gegen Schutzsuchende richte. Sie denkt dabei auch an Äußerungen des tunesischen Präsidenten Kais Saied, der im Februar über „Horden von Einwanderern“ sprach, als handle es sich um bewaffnete Soldaten, die ins Land einfielen, und nicht um Männer, Frauen und Kindern, die oft nichts weiter haben als die Kleidung, die sie am Leib tragen.„#LeaveNoOneToDie“ erinnert an Left-to-die-Boat“ vor Libyen zur Zeit der NATO-Intervention 2011Sollte tatsächlich die private komplett durch eine staatliche Seenotrettung im Mittelmeer ersetzt werden, ließe das viele Fragen offen. Die Aufschrift „#LeaveNoOneToDie“ am Rettungsschiff „Sea-Eye 4“ erinnert als Gegenstück an das „Left-to-die-Boat“, also daran, dass während der NATO-Intervention in Libyen im Frühjahr 2011 72 Menschen, die von dort aus per Schlauchboot nach Lampedusa aufgebrochen waren, zwei Wochen lang ohne Hilfe im maritimen Überwachungsgebiet der NATO herumirrten. Und von der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist nicht zu erwarten, dass sie Geflüchtete mehr schützt als die Außengrenzen der EU. Der auf 1,3 Milliarden Euro pro Jahr aufgestockte Frontex-Etat hat nicht die Gewähr sicherer Fluchtwege zum Ziel, sondern Migrationsabwehr. „Es wäre wohl besser, Frontex abzuschaffen und geltendes EU-Recht durchzusetzen“, ist „Sea-Eye“-Pressesprecher Gorden Isler überzeugt. Ein Frontex-Umbau unter parlamentarischer Kontrolle hin zu einer europäisch koordinierten, staatlichen Seenotrettungsagentur wäre in der Tat eine Option, um das Frontex-Mandat auf demokratische Weise zu verändern, doch ist davon nichts erkennbar. So bleiben Ambivalenz und Gleichgültigkeit.Die 48 Überlebenden und vier Toten des am 27. Oktober havarierten Schlauchboots wurden drei Tage später vom Schiff „Sea-Eye 4“ im kalabrischen Hafen Vibo Valentia an Land gebracht. Ein Rechtsmediziner verlangte eine erneute Identifizierung des zwölfjährigen toten Mädchens. Barbara Held: „Dessen Anblick wäre nach Tagen im Leichensack bei 25 Grad für die Mutter unerträglich gewesen, das wussten alle, also schritten wir ein, bis der Kollege von seinem Vorhaben abließ.“ Doch sei die Frau durch die Polizei verhört worden, ohne dass man die Todesumstände habe aufklären wollen, wie die anwesende „Sea-Eye“-Psychologin habe feststellen müssen. Schließlich wurde das Kind im Beisein der Mutter und des kleinen Bruders in einem weißen Sarg beigesetzt.Aus all dem folgt, dass eine aufmerksame Zivilgesellschaft die EU-Außengrenzen im Blick behalten muss. Andernfalls wird offenkundige Gewalt verborgen bleiben und – wie der Rhetorik von Politikern in der EU zu entnehmen ist – noch legitimiert. Nichts wäre schlimmer, als sich daran zu gewöhnen, dass Menschlichkeit verraten wird, indem die Rettung von Menschen in Not unterbleibt.
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