Tunesien: Zarzis' Friedhof der unbekannten Flüchtlinge
Reportage Als der Fischer Chamseddine Marzoug in seinen Netzen immer wieder sterbliche Überreste ertrunkener Flüchtlinge findet, beginnt er, sie an einem stillen Ort zu bestatten. Doch der Bürgermeister der Hafenstadt nennt ihn einen Hochstapler
Chamseddine Marzoug (rechts) schläft viel in diesen Tagen, auch auf „seinem“ Friedhof
Foto: Klaus Petrus
Vor zwanzig Jahren sei es gewesen, dass sich erstmals Leichenteile in seinen Netzen verfangen hätten, einmal ein Arm, dann ein Bein, ein Kopf, ein paar Finger, auch Kleidungsstücke, Schuhe und Puppen waren dabei, erinnert sich der Fischer Chamseddine Marzoug. Er fand Habseligkeiten von Migranten, die auf maroden Schiffen von Tunesien über Lampedusa nach Europa fliehen wollten, die kenterten, ertranken und vom Meer an die Küste zurückgeschwemmt wurden. Im Jahr 2011 seien es besonders viele gewesen. Damals tobte in Libyen der Bürgerkrieg, 300.000 Menschen flüchteten allein in den ersten Monaten nach Tunesien. Immer mehr stiegen auf die Kutter oder Gummiboote. Sie zahlten den Schleppern viel Geld, alle wollten sie weg.
Als das Meer, das Marzoug einst liebte
st liebte und heute verflucht, zum Friedhof wurde, begann er die Toten – oder was von ihnen übrig war – in Säcke zu packen. Er hievte sie auf einen Pick-up, fuhr in die Wüste hinaus, schaufelte Mulden von zwei bis drei Metern Tiefe, legte die Leichen oder Leichenteile hinein und schmückte die Gräber mit Plastikblumen, mit Tafeln aus Ton und mit Engelsfiguren aus weißem Porzellan. Dann baute er einen Zaun um diesen gottverlassenen Ort. Er tat es wegen der Hunde und wilden Tiere. Am Eingang fand sich bald eine Tafel, auf der in arabischer, französischer, englischer, italienischer, deutscher und spanischer Sprache zu lesen war: „Friedhof der Unbekannten“.Der „kleine Smaragd“Etwa 400 Menschen wurden inzwischen an diesem stillen Ort begraben, zumeist zwei übereinander, vielleicht auch viel mehr. Jeder hatte einen Namen, ein Gesicht und andere Menschen, die sie oder ihn liebten, bevor alles verloren und vergessen war. Nur einer sei geblieben, der sich um die Namenlosen kümmert und ihre Gräber in der Wüste besucht. Wo viel Weite ist und wenig Trost, bedeutet mir der Fischer Chamseddine Marzoug, der von sich sagt, dass er zum Totengräber wurde.Chamseddines Heimat ist die tunesische Hafenstadt Zarzis. Mit ihren 70.000 Einwohnern liegt sie nicht weit von der libyschen Grenze entfernt. Die Touristen kommen, aber sie kommen nicht mehr in Scharen, auch wenn man im Juni schleunigst die Strände säubert, die Straßenhunde verjagt, die Cafés in Schwung gebracht und die Kamele geschmückt hat. Einst nannte man Zarzis den „kleinen Smaragd“, nun dümpeln die Ferienresorts vor sich hin, tote Schildkröten liegen mit aufgeblähten Bäuchen zwischen PET-Flaschen und Bierdosen am Strand. Attentate in der Region, das letzte im Mai, setzen der Reisebranche arg zu. Dabei ist der Tourismus Tunesiens wichtigster Wirtschaftszweig bei einer Arbeitslosigkeit von 16 Prozent. Unter Jugendlichen mit Hochschulabschluss liegt die sogar bei einem Drittel. Wer was werden will an dieser Küste, so scheint es, der nimmt das Flugzeug nach Europa oder setzt sich in ein Boot und hofft die 17 oder 18 Stunden bis nach Lampedusa zu überstehen.Kais Saied wollte die Korruption bekämpfenDie tunesische Regierung sah lange einen Grund des ökonomischen Verfalls in der Korruption. Sie energisch bekämpfen, wollte der derzeitige Präsident Kais Saied, als er vor vier Jahren noch Wahlkämpfer war und auf seinen Veranstaltungen der Menge zurief: „Euer Programm wird mein Programm sein!“ Im Oktober 2019 wurde er mit 73 Prozent zum Staatschef gewählt, von den 18- bis 25-Jährigen sogar mit einem Quorum von fast 90 Prozent. Inzwischen höhlt der Mann mit dem versteinerten Gesicht Tunesiens Demokratie langsam, aber sicher aus. Er hat das Parlament suspendiert und die Verfassung ausgesetzt, vor allem jedoch wittert er allenthalben Verschwörungen, einmal des Zionismus, ein andermal sind es ausländische Finanzmärkte, die dem Land zusetzen, seit Anfang des Jahres die Migranten.Chamseddine Marzoug winkt ab, er öffnet die dritte Dose Bier an diesem Vormittag. Über den Präsidenten mag er nicht reden, lieber über „seine Flüchtlinge“, die er für eine Handvoll Dinar bei sich beherbergt: fünf Männer und eine Frau mit Säugling, die aus Mali, Gabun und Guinea-Bissau stammen. In Libyen waren sie in der Hand von Schleppern, jetzt schlagen sie sich in Zarzis mit Gelegenheitsjobs durch und warten auf das Boot, das sie übers Mittelmeer bringt. Auf die Frage, ob sie darauf wirklich und unbeirrt hoffen, sagt einer, nur Gott allein könne wissen, wohin sie das Leben führt. Und dann erzählen sie ohne Punkt und Komma. Sie wissen, wie das läuft, und der Journalist weiß es auch. Wen es erstaunt, weshalb sich viele Reportagen über die Migration in Nordafrika derart ähneln, bekommt eine Antwort in Zarzis, im Haus von Chamseddine Marzoug, einst ein Fischer und nun offenbar ein Trinker. Die Geflüchteten kennen meine Fragen schon, und ich ahne ihre Antworten, mehr als mir lieb sein kann. In der Wüste nahe Libyen ausgesetztAnfang Juli wird in Sfax, der zweitgrößten Stadt Tunesiens, 300 Kilometer von Zarzis entfernt, eine Unterkunft für Migranten in Brand gesteckt, bald darauf ein Tunesier von drei Kamerunern erstochen. Der Mob holt das Wort „Kahlouch“ aus seinem Sprachschatz, das die größte Geringschätzung für Menschen aus dem subsaharischen Afrika zum Ausdruck bringt. Wenig später werden Hunderte von Migranten ohne Essen und Trinken in der Wüste nahe der Grenze zu Libyen ausgesetzt, was international für Empörung sorgt. Diese Deportation bezeichnet der tunesische Präsident bis heute als erfunden. Ausländische Medien hätten sie in die Welt gesetzt.Über fremde Reporter erregt sich auch Mekki Laraiedh, seit fünf Jahren Bürgermeister von Zarzis. Ihn stört die einseitige Berichterstattung, die immer nur auf das Negative fixiert sei. Schließlich nähere sich die Tourismusbranche – schleppend zwar, aber immerhin – dem Vor-Corona-Niveau von 2019. Auch sei die Migrationspolitik Tunesiens keineswegs rassistisch. Seine Stadt zum Beispiel tue alles, um die Würde der Geflüchteten zu wahren, ob im Leben oder im Tod. Vor allem im Tod. Das mit den Leichen sei so eine Sache, da würden viele Halbwahrheiten gestreut, meint Laraiedh und kommt auf den berühmtesten Totengräber seiner Stadt zu sprechen – auf Chamseddine Marzoug. Reporter hätten ihn über die Jahre zum Helden stilisiert. Der Betreffende gefalle sich in dieser Rolle. Er würde mit viel Pathos von „seinem Friedhof“ reden, auf dem er sich gegen den Widerstand der Behörden als Einziger um tote Migranten kümmere.Aber der „Friedhof der Unbekannten“ sei nicht Marzougs Friedhof. Die Stadt habe das Grundstück erworben, nachdem die übrigen Grabstätten, alle in Privatbesitz, keinen Platz mehr boten. Auch stimme nicht, dass Chamseddine Marzoug die Toten eigenhändig und allein aus dem Meer fische. Vielmehr habe alles einen geregelten Verlauf: Die Feuerwehrleute von Zarzis würden die Leichen bergen, sie dann ins städtische Hospital bringen, damit ein Amtsarzt den Totenschein ausstellt. Danach seien es Freiwillige des Roten Halbmondes, die sie auf den Friedhof überführten. Und ja, einer davon sei Chamseddine. Natürlich sei dieses Gräberfeld, eine einstige Müllhalde, keine Augenweide. Für mehr fehle leider das Geld. Marzoug hat höchstens noch ein JahrChamseddine Marzoug, bald wird der Mann sechzig, schläft viel in diesen Tagen, ausgestreckt auf seinem Sofa, mit Jeans und rotem Poloshirt, in eine Decke aus Kamelhaar gehüllt. Die Wohnung ist übervoll, eine Katze sammelt ihre Jungen ein, auf dem Boden liegen Bierdosen, auf dem Tisch Schachteln mit Medikamenten. Der Fischer, der schon lange nicht mehr draußen auf dem Meer war, ist schwer krank. „Ein paar Monate habe ich noch“, sagt Marzoug, „höchstens ein Jahr. Bring mich zu meinem Friedhof, ich bitte darum, bring mich zu den Toten, das gibt mir Ruhe.“ Dort angekommen, legt er sich auf ein Grab mit Rosen und Nelken aus Plastik. Es gibt eine Tafel mit Inschrift auf diesem Erdhügel: Rose-Marie, Nigeria, décédé le 25 mai 2017. Den Namen kenne er, weil ihr Mann das Bootsunglück überlebt habe. Die Frau war 28, als sie ertrank.Auf der Fahrt zurück in die Stadt, sie dauert keine Viertelstunde, erzählt Marzoug von seinen beiden Söhnen, die eines Nachts in ein Boot gestiegen und hinüber nach Italien gefahren seien. Kein Sterbenswort hätten sie ihm zuvor gesagt. „Sie wussten, ich würde es ihnen verbieten, zu viele Tote habe ich gesehen in diesem vor Wut schäumenden Meer.“ Heute würden sie mit ihrer Mutter in Frankreich leben, die ihn von einem Tag auf den anderen verlassen habe. So ist er allein mit den Toten, ein Vergessener unter all den Vergessenen. Marzoug atmet tief ein und klingt so, als hätte er diesen Teil seiner Geschichte schon viele Male erzählt.