Wenn mehr Abgeordnete mehr Demokratie bedeuten würden, wäre das jeden Cent wert. Wenn also der Bund der Steuerzahler die Forderung nach einem kleineren Bundestag penetrant mit den Kosten begründet, liegt er voll daneben: Demokratie ist kein beliebiger Gebrauchsgegenstand, den es vor allem möglichst preisgünstig zu erwerben gilt.
Wer einen kleineren Bundestag für vernünftig hält, braucht bessere Argumente als ein Lobbyverband für Gutverdienende, die möglichst wenig für das Gemeinwohl abgeben wollen. Und diese Argumente gibt es. Das wichtigste, hier in den Worten der Staatsrechtlerin Sophie Schönberger: „Mehr Abgeordnete, mehr Büros, mehr Abgeordnetenmitarbeiter per se machen den Bundestag nicht besser, sondern eher sch
r, sondern eher schlechter.“ Erst vor diesem Hintergrund erhält das finanzielle Argument einen Sinn: „Dann ist es ärgerlich“, so Juristin Schönberger, „wenn der schlechter funktionierende Bundestag auch noch mehr Geld kostet.“Die Erfahrung lehrt, dass die Vergrößerung von Organisationen – hier nicht nur im Plenum, sondern auch in Fraktionen, Ausschüssen oder Arbeitskreisen – eine fundierte Debatte und entsprechende Ergebnisse eher unwahrscheinlicher macht. Und die leicht anrüchige Routine des Parlaments – dass ein kleiner Kern von Fach- und Führungsleuten die Fraktionslinie festlegt und der Rest mehr oder weniger ahnungslos die Hand zur Abstimmung hebt – wird durch mehr Abgeordnete auch nicht demokratischer.Nun ist bekannt, wie es zur Überschreitung der gesetzlichen Regelgröße von 598 Abgeordneten gekommen ist: Wenn eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen Abgeordnete zustehen, erhält sie Überhangmandate. Und die werden durch Ausgleichsmandate für die anderen ausgeglichen, bis im Plenum das Wahlergebnisder Zweitstimmen wieder abgebildet ist. Oft wird darauf hingewiesen, dass besonders die CSU für viele Überhang- und Ausgleichsmandate sorgt. Aber woran liegt das? An der geradezu folkloristischen Tatsache, dass die Union in Bayern nur in Form der Regionalpartei CSU antritt.Die Christsozialen bleiben beim Zweitstimmenergebnis klar einstellig, weil es auf den Bund umgerechnet wird. Da sie aber viele Wahlkreise direkt gewinnen, wird ein großer Teil davon zu Überhangmandaten. Um kurz zu träumen: In einer Welt ohne solche Extraweißwürste wäre das Problem mit dem großen Bundestag wesentlich kleiner. Aber wie könnte er aussehen, der Weg zu einem kleinerenBundestag? Hat die Ampelregierung ihn gefunden? Eher nicht. Denn sie will die Überhangmandate abschaffen und nimmt damit in Kauf, dass Kandidatinnen und Kandidaten nicht in den Bundestag kommen, obwohl sie direkt gewählt sind.Das ist, in Zeiten einer zunehmenden Distanz vieler Menschen zu den politischen Institutionen, geradezu absurd. Nicht nur, weil manche Regionen gar nicht mehr vertreten wären. Es wäre auch ein Förderprogramm für Parlamentarismus-Verdrossenheit, wenn die eine Person, die man aus etwas näherer Kenntnis gewählt hat, komplett leer ausgeht. Besser wäre es, sowohl die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren als auch auf einige der Ausgleichsmandate (nicht unbedingt 15, wie die Union vorschlägt) zu verzichten.Sowohl in einer ungebremsten Vergrößerung des Parlaments als auch im Abwerten der Erststimme stecken erhebliche Gefahren für die ohnehin brüchige Akzeptanz des parlamentarischen Systems. Es stimmt, dass auch weniger und damit größere Wahlkreise die Distanz zwischen Wählenden und Kandidierenden erhöhen. Aber das wäre in Kauf zu nehmen als das geringere Risiko. Zumal, wenn es endlich durch wirksame Elemente direkter Demokratie vor Ort gemindert würde. Das Ziel, den Bundestag zu verkleinern, bleibt erstrebenswert. Stephan HebelContraDerzeit repräsentieren 736 Bundestagsabgeordnete 82 Millionen Deutsche. Es wimmelt also nicht von Parlamentariern, wenn man nicht gerade im Restaurant „Käfer“ sitzt.Trotzdem will die Ampel zur Normalgröße von 598. Zeit Online hat die Pläne durch einen Algorithmus gejagt. Ergebnis: Fünf Wahlkreise hätten keinen Abgeordneten im Hohen Haus, wäre die Reform bei der Wahl 2021 gültig gewesen. Drei davon im Osten. Wollen wir das: Eine Regierung, die – obwohl sie mit Steffi Lemke und Clara Geywitz nur zwei in Ostdeutschland geborene Ministerinnen hat – dieser Region noch stärker das Gefühl gibt, nicht vertreten zu sein?Dabei ist gegen ein großes Parlament nur dann etwas zu sagen, wenn die Abgeordneten reine Karrieristen sind, ohne Rückhalt in der Bevölkerung. Genau diesen Trend würde die Regierung mit ihrem Vorhaben bestärken: Obwohl Erik von Malottki (SPD) seinen Wahlkreis an der Mecklenburgischen Seenplatte gegen Philipp Amthor (CDU) gewann, würde mit der Ampel-Reform Letzterer ein Büro im Paul-Löbe-Haus beziehen, weil er über einen sicheren Listenplatz in den Bundestag gerutscht ist. Malottki ist ein aufmüpfiger Genosse, im Juni stimmte er als einer von gerade einmal neun anderen in der SPD-Fraktion gegen das Sondervermögen für die Bundeswehr. Ginge es nach der Ampel, wäre er nicht mehr drin. Dafür hätten wir weiter Amthor am Hals.Also, worum geht’s? Dass zu viele Stühle unter der Reichstagskuppel stehen? Der Laden zu voll ist? Im britischen Unterhaus gibt es für 650 Abgeordnete nur 427 Sitzplätze. Und, heulen die Members of Parliament deswegen rum? Nein, sie quetschen sich in den viel zu überfüllten Plenarsaal, brüllen, schwitzen. Das Plenum als Bühne der Eristik, auf der sich mehr Menschen tummeln, als Platz zur Verfügung steht: Das ist das wahre demokratische Gefühl. Doch hier schreien alle, sobald ein paar Stühle angeschraubt werden, der Bundestag „platzt aus allen Nähten“.Deutschland, so heißt es, habe das zweitgrößte Parlament nach China. Ja, in absoluten Zahlen mag das stimmen. Aber muss es nicht darum gehen, für wie viele Menschen der einzelne Abgeordnete da sein muss? In China leben 1,4 Milliarden Leute. Da sind 3.000 Abgeordnete in der Volkskammer gar nicht so viel: Jeder von ihnen müsste theoretisch fast 470.000 Chinesen repräsentieren. Aber muss es in einer funktionierenderen Demokratie als der chinesischen nicht darum gehen, dass die Anzahl der Regierten nicht zu groß, sondern im wahrsten Sinne des Wortes beherrschbar bleibt? In Deutschland (und UK) repräsentiert jeder Abgeordnete über hunderttausend Menschen. Würde der Bundestag verkleinert, stiege diese Quote. Umso weniger Abgeordnete, desto mehr Bürgerbriefe muss der einzelne beantworten, desto unwahrscheinlicher ist es, eine Antwort vom Abgeordneten oder einen Termin zu kriegen.Mein Vater, der in Düsseldorf einen Europaverein hat, bat seine FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann vor einiger Zeit um ein Treffen: Wegen eines „randvollen Terminkalenders“ war das leider nicht drin. Dabei lässt mein Vater, wie StraZi, nun wirklich keine Gelegenheit aus, mehr Waffen für die Ukraine zu fordern.Den Befürwortern eines kleineren Parlaments geht es sowieso um Kohle. Der Bund der Steuerzahler kritisiert immerzu die Gesamtausgaben des Bundestags: 2014 lagen die bei rund 716 Millionen Euro, 2022 sind sie auf 1,2 Milliarden gestiegen. Klar, weniger Leute gleich weniger Abgeordnetengehälter und Pensionsansprüche. Wer es so richtig effizient will, sollte nach Russland gucken: In der Duma sitzen nur 450 Abgeordnete, bei einer viel größeren Bevölkerung als der deutschen. Wie vorbildhaft! Dorian Baganz
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