Provozieren wollte Anne Wolf ihre Gegner schon. Die 56-Jährige kramt ein Schreiben hervor, das sie als Gründerin des Bündnisses „Greifswald für alle“ veröffentlicht hat. Damals gab es eine Demo im Ostseeviertel am Stadtrand, 500 Leute protestierten gegen ein Containerdorf für Flüchtlinge. Also haute Wolf in die Tasten und unterbreitete den Demonstranten einen „konstruktiven Vorschlag“: Sollen sie doch selbst in die Container ziehen! Damit würde man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens: Die „aus irgendwelchen Gründen“ besorgten Bürger könnten wieder ruhig schlafen, weil dann ja „gute Deutsche“ in den Unterkünften leben würden. Zweitens: Die Flüchtlinge könnte
Greifswalder Sümpfe: Warum die Hansestadt gegen neue Unterkünfte für Geflüchtete stimmte
Zuwanderung Studentinnen, Kirchenasyl, Radfahrer, der einzige grüne Oberbürgermeister im Osten – und dann stimmen in einem Bürgerentscheid 65 Prozent dagegen, dass Geflüchtete auf kommunalem Boden untergebracht werden. Was ist da in Greifswald los?

Solidarität hat sich in Greifswald in die Büsche geschlagen
Foto: Ole Kracht
;rden. Zweitens: Die Flüchtlinge könnten in die Wohnungen ziehen, die nach den Umzügen frei geworden sind. Das sorge für eine „hervorragende Durchmischung“ der Gesellschaft. Wolf lacht, wenn sie sich an ihre ironisch gemeinte Idee erinnert. Schon ihr Vater hat als Richter am Hamburger Oberverwaltungsgericht für eine liberale Auslegung des Asylrechts gekämpft. Seine Tochter führt den Kampf in Greifswald fort. Doch letzten Sonntag ging sie k. o.Grund ist der Bürgerentscheid vom 18. Juni: Dürfen Containerdörfer für Flüchtlinge auf jenen Grundstücken gebaut werden, die sich im Besitz der Stadt befinden? „Ja“, fand ein breites Bündnis aus 85 Initiativen, das Anne Wolf und Oberbürgermeister Stefan Fassbinder (Grüne) anführten. Auch SPD und Linke waren an Bord. „Nein“, sagten CDU, FDP und AfD – und 65 Prozent derer, die zur Abstimmung gingen. Die Entscheidung ist zwei Jahre lang bindend für die Verwaltung. Eines lässt den linksliberalen Teil der Stadt seitdem nicht mehr los: Ist Greifswald nicht so weltoffen wie gedacht? Auch die Lokaljournalisten beschäftigt das nach der Ergebnisverkündung im Rathaus. Nahe liegt aber eigentlich noch eine andere Frage: Was hat der OB falsch gemacht, dass er so wenig Menschen überzeugen konnte?Bisher war die Stadt ein gallisches Dorf: Während die AfD in Mecklenburg-Vorpommern in Umfragen mittlerweile auf 25 Prozent kommt, sitzt in Greifswald der einzige Grüne als OB im Chefsessel einer ostdeutschen Stadt. Am Morgen der Abstimmung kommt Stefan Fassbinder mit seinem Fahrrad angeradelt, um seine Bürgerpflicht zu tun. Er wohnt in Wieck, eine der schickeren Gegenden, schön gelegen an einem Pier, das tief in die Ostseebucht hineinragt. Fassbinder trägt einen hellblauen Anzug und macht eine Merkel-Raute, als er vom Fernsehen interviewt wird. Er ist ein Mann von Welt: 1966 in München geboren, ging er in Algier zur Schule, dann Geschichtsstudium in Freiburg und Aix-en-Provence. 1999 zog er wegen eines Jobs beim Pommerschen Landesmuseum nach Greifswald, 2015 wurde er dort OB. „Natürlich brauchen wir Zuwanderung!“, sagt er.Überall FachkräftemangelIm Landkreis seien 3.000 Stellen unbesetzt, auf fünf Ausbildungsplätze käme nur ein Bewerber. „In allen Gremien, in denen ich bin, ist man schnell beim Thema Fachkräftemangel.“ Aber was ist mit den lokalen Handwerkern und Mittelständlern, die seit Monaten für ein „Nein“ trommeln? Mit den Greifswalder Malern, Gebäudereinigern, Segelmachern, Zimmerern, Dachdeckern und Autohändlern? „Ich habe den Eindruck, die haben das noch nicht verstanden“, antwortet Fassbinder.Es ginge bei dem Bürgerentscheid ja gar nicht darum, ob und wie viele Flüchtlinge nach Greifswald kommen. „Die Frage ist nur, wo werden sie untergebracht?“ Damit hat Fassbinder nicht unrecht: Über die Verteilung von Geflüchteten bestimmen in Deutschland nicht die Oberbürgermeister. Es wird mit dem „Königsteiner Schlüssel“ berechnet, wie viele Menschen ein Bundesland aufnimmt. In Mecklenburg-Vorpommern sind es 1,98 Prozent aller Schutzsuchenden, die nach Deutschland kommen. Und im Landkreis Vorpommern-Greifswald: 0,29 Prozent. Einige wird der CDU-Landrat nach Greifswald schicken. Fassbinder muss dann zusehen, wo sie unterkommen. Bezugsfertige Buden gibt es kaum.Placeholder image-1Die Wohnungsbaugesellschaft Greifswald hat eine Leerstandsquote von knapp einem Prozent. Die Stadt ist beliebt. Auch bei Studenten. Seit 199o hat sich die Zahl der Einschreibungen an der Uni mehr als verdreifacht. Wo sollen die Geflüchteten denn hin, jetzt, wo der Bürgerentscheid die Option weggefegt hat, Container auf städtische Flächen zu stellen? Am Ende könnten wieder Sporthallen belegt werden. Das sei „keine gute Option“, sagt Fassbinder, weil die Kinder dann nicht mehr turnen können. Außerdem bereiten die Unterstützer der „Nein“-Kampagne schon einen zweiten Bürgerentscheid vor. Sie fordern: „Finger weg von unseren Turnhallen!“Vorne dabei ist Thomas Kerl. Er steht vor einem blauen Van, der Slogan „keine Solidarität mit kriminellen Zuwanderern“ prangt darauf. Und irgendwas davon, dass der CO2-Ausstoß des Wagens gut für die Photosynthese von Pflanzen sei. Früher war Kerl in der AfD. Jetzt ist er dabei, eine „Alternative zur Alternative“ aufzubauen. Zwei Namen stehen zur Auswahl: „MV-Demokraten“ oder „Volksbewegung für Frieden und Freiheit“. Kerl ist der Strippenzieher hinter den Montagsdemos in Greifswald. Erst ging es gegen die Corona-Maßnahmen. Dann gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Und zuletzt gegen die Unterbringung von Geflüchteten. Kerl, 53, ist ein Aushängeschild der Nein-Sager: Als ehemaliger Autohändler kann er gut reden. Mit dem Rechtsextremen Andreas Kalbitz ist er befreundet. In der Landeshauptstadt Schwerin wird am Abend der SPD-Kandidat die Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt gegen den AfD-Kandidaten gewonnen haben, mit Hilfe einer Wahlempfehlung der CDU, nicht aber der FDP. In Greifswald paktieren beide mit Thomas Kerl.Ein Gebäude in der Brandteichstraße fungiert seit 2015 als Flüchtlingsunterkunft. Damals haben die Bewohner der angrenzenden „Stadtrandsiedlung“ dagegen protestiert. Es war dasselbe wie heute: Angst vor Geflüchteten. Doch ungewöhnlich viel Ärger gab es in den letzten acht Jahren nicht. Trotzdem wollen Thomas Kerl und seine Leute nicht nur die 730 Ukrainer loswerden, die in Greifswald Schutz suchen. Weil es in weiten Teilen des angegriffenen Landes schließlich friedlich sei. Wo kommt ihre Motivation her, 7.000 Unterschriften zu sammeln, obwohl man nur 4.000 gebraucht hätte, um den Bürgerentscheid zu initiieren? Vielleicht ist eine Antwort, dass Oberbürgermeister Stefan Fassbinder das Thema Migration anfänglich so anpackte, dass es Wasser auf die Mühlen der Rechten war.Placeholder image-2Im Ostseeviertel reiht sich ein Plattenbau an den nächsten, weniger in Anthrazit, eher grau in grau. Am Tag der Abstimmung sieht man hier nicht das hippe Greifswald zur Urne schreiten, sondern Männer in Fun-Shirts und Frauen mit herausgewachsenen Haartönungen. Ausgerechnet hier, wo viele Menschen von Bürgergeld leben und es schon genug Probleme gibt, wollte Fassbinder ein Containerdorf für „bis zu“ 500 Geflüchtete errichten. Im Februar eskalierte die Situation, als der OB die Ortsteilvertretung besuchte. Vor dem Gebäude hatten sich 500 Demonstranten versammelt, mindestens 20 davon waren Rechtsextreme. Als Fassbinder rauskam, wurde es gefährlich. Nur mit Polizeischutz kam er davon. Danach änderte er seine Politik: Über die Stadt verteilt sollten nun an drei verschiedenen Standorten jeweils maximal 100 Geflüchtete in Containern untergebracht werden. Doch das Kind war da schon in den Brunnen gefallen.Ich frage einen pensionierten Polizisten, der aus einem Abstimmungslokal im Ostseeviertel kommt, wie er gewählt hat. „Mit ,Nein‘“, antwortet er. Es könne doch nicht wahr sein, dass Fassbinder selbst im herausgeputzten Ortsteil Wieck wohnt, wo keine Unterkünfte geplant sind, er aber hier 500 Flüchtlinge auf einmal unterbringen wollte. „Bald haben wir südafrikanische Verhältnisse“, warnt der Mann: Politiker würden in abgesicherten Wohnsiedlungen leben und der Rest der Bevölkerung müsste sehen, wie er klarkommt. Wenn man die „Ja“-Kampagne fragt, warum es in Fassbinders Nachbarschaft keine Unterkünfte geben wird, heißt es, in Wieck wären die Wiesen zu sumpfig, um Container aufzustellen. Die Pressesprecherin der Stadtverwaltung betont, man habe „mehrere Grundstücke nach ganz unterschiedlichen Kriterien geprüft“: Größe, wie schnell Baurecht geschaffen werden kann, Anbindung. Schon möglich, dass Wieck nicht infrage kommt. Aber irgendwie hat es in den Köpfen der Menschen im Ostseeviertel das Abgehobene-Politiker-Vorurteil befeuert.In der Hansestadt liegt der Flüchtlingsanteil bei 3,9 Prozent. Thomas Kerl vertraut dieser „offiziellen Zahl“ nicht. „Wenn wir beide heute Abend über den Marktplatz gehen“, sagt er, „dann kommen Sie sich vor wie in Istanbul.“ Ich antworte: „Sie können mir später ja eine Stadtführung geben?“ Dann halte ich ihm meine Hand hin. Kerl schlägt ein. Als ich ihm gegen 21 Uhr eine Whatsapp-Nachricht schicke, antwortet er nicht. Also gehe ich alleine – und genieße ein sehr beschauliches Greifswald.Hingehen, wo es nicht wehtutAnne Wolf hat in Venezuela eines ihrer Kinder zur Welt gebracht. Das Krankenhaus entsprach nicht deutschen Standards. Na und? Hat doch geklappt! So denkt Wolf. Wir Europäer hätten 500 Jahre Kolonialismus zu verantworten, Grenzen willkürlich gezogen, Zwietracht gesät, mit unserem exorbitanten Wohlstand den Planeten erwärmt. Da dürften wir die Schotten nicht dichtmachen, wenn Menschen vor Krieg, Armut und Hitze hierherfliehen. Mit ihrem Partner wohnt sie in einer 120-Quadratmeter-Altbauwohnung im Zentrum. Ein Bild an der Wand zeigt die blau-gelben Farben der Ukraine. Sie deutet auf die Tür hinter sich: „Da hat mal ein Syrer gewohnt, der hieß Khaled Jabr.“ Ihm gaben sie Unterschlupf. An der Waldorfschule unterrichtet Wolf Englisch und Spanisch. Auch Menschen im Kirchenasyl, die die staatliche Schule nicht besuchen konnten, hat sie als Lehrerin betreut. Einer davon wurde Friseur, eine andere macht eine Ausbildung zur Erzieherin. Wolf ist eine Integrationsmaschine. Wieso aber ist der Bürgerentscheid dann so krachend gescheitert, wenn hier Profis am Werk sind?Placeholder image-3Hört man Fassbinder und seinen Unterstützern zu, klingt es, als hätte Greifswald seinen Brexit-Moment erlebt: Die Mehrheit der Leute sei tolerant. Aber nur knapp 46 Prozent der Wahlberechtigten gingen zum Bürgerentscheid. Hat die schweigende Mehrheit den Tag am Strand verbracht und schlug am Morgen danach fassungslos die Zeitung auf? Vielleicht. Andererseits scheinen die Grünen nicht dorthin gegangen zu sein, wo es wehtut, wo Leute anders denken als sie. Am Tag vor der Abstimmung zieht ein junges Parteimitglied, 22, durch das Zentrum. Sie trägt ein Kraftklub-Shirt, auf ihrem Jutebeutel steht „Europa-Freund*in“. Sie macht Haustürwahlkampf. Aber nur in „linken Hochburgen“, sagt sie, „sonst erinnern wir die anderen noch daran, dass morgen Abstimmung ist.“ Aufgegangen ist diese Rechnung nicht. In einem Wahllokal im Ostseeviertel etwa beteiligten sich 41 Prozent. Sie stimmten zu 90 Prozent mit „Nein“.