Wer zuletzt das Handtuch wirft

Krisenroman Enno Stahl erzählt in „Winkler, Werber“ vom Ende eines Selfmade-Erfolgsmenschen und der Welt, wie Männer wie er sie kennen
Enno Stahl liest aus Winkler, Werber
Enno Stahl liest aus Winkler, Werber

Screenshot: Der Freitag

Die Isländer haben im vergangenen Jahr auf der Frankfurter Buchmesse vorgemacht, welches literarische Potenzial in der Finanzkrise steckt. Deutsche Krisenromane gab es bisher kaum, nun legt der 50-jährige Rheinländer Enno Stahl mit Winkler, Werber ein genial erzähltes Sittengemälde des bundesrepublikanischen Neoliberalismus vor – inklusive seines Scheiterns. Die Fallhöhe für die Hauptperson ist dabei beträchtlich.

Jo Winkler ist 50 Jahre alt, erfolgreicher Werbefachmann und lebt in Köln. Schon seit den achtziger Jahren ist er in der Werbung tätig. Damals war die Branche noch eine Goldgrube und Jo Winkler, der Ich-Erzähler in Enno Stahls Roman, einer ihrer Pioniere. Mit viel Zynismus und beißendem Spott erklärt der Erfolgsmann, der für die Inhalte der Agentur „Gold Reklame“ und für einige Mythen der Werbeindustrie verantwortlich zeichnet, wie das Leben so funktioniert und wer in der berühmten Firma eigentlich das Sagen hat. Winkler kommt aus der Mitte der Gesellschaft, ist aber ebenso Rassist, überzeugter Frauenhasser und außerdem ein autoritärer Vollidiot. Er geht auch gerne mit seiner linken Vergangenheit in den siebziger Jahren hausieren, die ihm beruflich den Weg ebnete. Die damaligen Zeiten und die Freunde von einst macht er aber ebenso zynisch runter wie alles andere auch. Seine Ehe ist kaputt, und wie es um Winklers berufliche Zukunft in der legendären Werbefirma wirklich steht, wird im Laufe eines mehrtägigen Betriebsausfluges klar.

Den verbringt die knapp zehnköpfige Gruppe – der Chef und gleichzeitig Jugendfreund Winklers, die neue aufstrebende Agentur-Partnerin, eine peinliche Sekretärin, der schwabbelige Computer-Nerd sowie die Praktikanten – auf einem Ausflugsschiff den Rhein hinunter. Später wird nach einer historischen Kegelbahn noch ein Casino aufgesucht und lustig gezockt.

Machos zu Networkern

Innerhalb von zwei Tagen eskaliert die Lage komplett. Angefangen mit einem Schiffsunglück am Loreley-Felsen über unterirdische Gastronomie-Erlebnisse, sexuelle Eskapaden Winklers mit der Praktikantin und Geheimverhandlungen einzelner Mitarbeiter mit Konkurrenzagenturen im benachbarten Kurort bis hin zur Schlägerei zwischen einem Mitarbeiter und dem stets freundlichen Chef. Dabei wird die Truppe immer weiter dezimiert, bis ganz am Ende auch Jo Winkler resigniert das Handtuch wirft und geschlagen nach Hause fährt.

Enno Stahls Roman ist ein Abgesang auf den Mythos des leistungsorientierten, mittelständischen Selfmade-Erfolgsmenschen der achtziger Jahre, der mit biografischen Brüchen und keinerlei Fachausbildung als genialer Ein- und Aufsteiger gilt. Während am letzten Abend des Ausflugs beim Casinobesuch am Roulette-Tisch die Wahrheit über den krisenbedingt katastrophalen Zustand der Firma herauskommt, erfährt Winkler, dass er gar nicht das Zugpferd des Betriebs ist, sondern eine Altlast, die entsorgt werden soll. Egoistisches und rücksichtsloses Networking zählt nun mehr, als machohaft mit ominösen Leistungen vergangener Zeiten prahlen zu können.

Enno Stahl schreibt sich mit Bravour ins Innere der Krise hinein und legt mit Winkler, Werber stilistisch wie dramaturgisch ein fulminantes Gesellschaftspanorama vor, in dem die Krise ganz langsam auftaucht, um schließlich mit aller Wucht in die Biografien der einzelnen Beteiligten einzubrechen. Hier wird jedoch nicht moralisiert oder über den schlimmen Zustand der Welt gejammert. Die Krise wird zum kollektiven Identifikationspunkt und tritt als logische Folge der sozialen und kulturellen Verfassung der einzelnen Figuren in Erscheinung.

Freundschaft, Zusammenhalt oder Respekt wird man in diesem Buch vergebens suchen. Konsum und Selbstverwirklichung haben jede Art von Solidarität längst abgelöst. Am Ende erlebt die Eskalation noch eine letzte Steigerung. Denn wenn die Krise erst einmal zugeschlagen hat, bleibt nur noch der alles verschlingende Abgrund. Und an dem steht Jo Winkler zum Schluss im wahrsten Sinne des Wortes.

Winkler, Werber Enno Stahl Verbrecher 2012, 320 S., 22 €

Florian Schmid schrieb im Freitag zuletzt über ein anderes hochaktuelles Thema: Piraten

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