Warum Wolfgang Thierse Unrecht hat

Identitätspolitik Der ehemalige Bundestagspräsident glaubt, Minderheiteninteressen zu vertreten spalte die Gesellschaft. Damit macht er es sich zu einfach, meint Donat Blum
Ausgabe 11/2021

Thierse macht es sich zu einfach. Wie so viele in diesem Diskurs. Fragen müsste man vielmehr: Gefährdet die Bequemlichkeit von Mehrheitsvertreter*innen, sich nicht auf Minderheiten einzulassen, den gesellschaftlichen Zusammenhang? In der Schweiz, wo ich aufgewachsen bin, steht in der Präambel der Verfassung: „Die Stärke des Volkes (misst sich) am Wohl der Schwachen.“ Und beim Wandern habe ich gelernt, dass sich das Tempo der Gruppe an der schwächsten Person ausrichten soll. Die Schnelleren können langsamer gehen, die Langsameren nicht beliebig schneller. In einer Demokratie sind Minderheiten per definitionem die politisch Schwächeren. Gewinnen sie keine Verbündeten oder solidarisieren sie sich nicht untereinander, werden sie überstimmt.

Solidarität ist für Minderheiten wortwörtlich überlebenswichtig: Entscheidet sich eine Mehrheit dafür, lesbische, schwule, trans und non-binäre Menschen zu verfolgen, wie es in Ghana aktuell wieder in aller Öffentlichkeit verhandelt wird, kann ihr Existenzrecht von einem Tag auf den anderen erlöschen. So wie hier in Deutschland während des Nationalsozialismus gezielt auch Tausende Leben homosexueller Menschen ausgelöscht wurden. Als SPDler mit DDR-Hintergrund hat auch Thierse dazu beigetragen, dass die Gesellschaft nach 1945 (vorläufig) gerechter wurde. Die alltäglichen Diskriminierungen hingegen wirken weiterhin. Während sich ein heterosexueller, weißer cis Mann aus Westdeutschland im Verlauf seines Lebens nahezu nie die Frage stellen muss, ob er „hier“ erwünscht sei oder seine Sicht auf die Welt von Bedeutung, werden Angehörige von Minderheiten täglich mit dieser Frage konfrontiert: Du bist schwarz, du bist blind, du bist eine Frau und liebst keinen Mann: Merkwürdig! Bist du wirklich von hier? Wir hatten leider bereits vergangene Woche einen „queeren“ Text in unserer Zeitung. Sorry, kein Platz. Oder noch subtiler: dass diese Zeitung auch von non-binären Personen gelesen wird, dass auch schwarze Personen mit deutschem Pass geboren werden, dass ein*e Aldi-Kassierer*in queer sein kann oder dass jemand im Rollstuhl an einer Wahlfeier teilnehmen möchte – kurz: Die Existenz von uns Minderheiten – wird von althergebrachten Vertreter*innen der Dominanzkultur in aller Regel nicht einmal antizipiert.

Ich nenne Zahlen und konkrete Beispiele, weil es das ist, was diesem Diskurs fehlt: Realität. Wir leben längst in einer vielfältigen Gesellschaft und es funktioniert wesentlich besser, als es eine diffuse Verlustangst – auffällig oft – weißen, heterosexuellen cis Männern zu diktieren scheint.

Welche radikalen Forderungen sollen denn die Gesellschaft spalten? Die Forderung, das Gedicht einer schwarzen Dichterin von einer schwarzen Person übersetzen zu lassen? Die Umbenennung einer von 1,2 Millionen Straßen in Deutschland? Der Gender-Stern? Der Verzicht auf das N- oder M-Wort? Der Verzicht auf Blackfacing? Hinter den „radikalen Forderungen“ steht der Wunsch nach Anerkennung und Würde. Zugegeben: Manchmal wünschen wir laut. Aber das müssen Minderheiten tun, um von einer Mehrheit gehört zu werden. Nein, „Identitätspolitik von links“ spaltet nicht – zumindest dann nicht, wenn sie statt auf verschlossene Ohren auf offene Arme stößt.

Info

Lesen Sie hier das Pro-Argument des blinden Pfarrers i. R. Helmuth Zedlitz zu diesem Debattenbeitrag

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