Die Politik der Zukunft

Agiles Krisenmanagement Kommende Politikergenerationen werden sich ein Beispiel an Angela Merkel nehmen müssen, um die bevorstehenden Krisen zu meistern

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Sind – angesichts von Trump, Johnson, Bolsanaro und Salvini – Technokratinnen wie Angela Merkel nicht sogar die Heilsbringerinnen unserer Zeit?
Sind – angesichts von Trump, Johnson, Bolsanaro und Salvini – Technokratinnen wie Angela Merkel nicht sogar die Heilsbringerinnen unserer Zeit?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Die Informationslage zum neuartigen Coronavirus ändert sich in raschem Rhythmus. Mit ihr verändert und verfeinert sich auch unser Verständnis der Situation und der Gegenmaßnamen. Dieser nicht versiegende Nachschub an neuen Erkenntnissen und die damit laufend aktualisierte Wahrheit fordert unsere Aufmerksamkeit und Geduld. Manchmal überfordert sie uns auch. Dann will oder kann man diesen immer neuen Entwicklungen gar nicht mehr folgen.

Unsere Politiker dürfen sich dieser Herausforderung nicht entziehen. Sie stellt sich ihnen sogar noch dringlicher. Stets aufmerksam und geduldig die neusten Informationen verarbeiten, ist allein aber nicht ausreichend. Es bedarf auch besondere Fähigkeiten und Methoden, um die sich ständig verändernde Nachrichtenlage zu bewältigen. Das sind andere Skills, als sie die Führungspersönlichkeiten der Vergangenheit unter Beweis stellen mussten. An den Krisen von heute würden die politischen Idole des letzten Jahrhunderts womöglich scheitern – so wie die rückwärtsgewandten Populisten der Jetztzeit.

In den Krisen der Gegenwart sind mitreißende Reden und große Visionen weniger entscheidend für erfolgreiche Politikarbeit als früher. Mitunter sind sie sogar hinderlicher. Wer sich heute auf langfristige Pläne und Ziele festlegt, läuft bestenfalls Gefahr irgendwann von diesen abrücken zu müssen. Schlimmstenfalls wird an diesen Plänen festgehalten, obwohl sie nicht mehr zu den veränderten Rahmenbedingungen passen.

Die Komplexität unserer (Um-)Welt hat sich in den letzten drei Jahrzehnten rasant erhöht. Die Folgen unseres Handelns und des Handelns der anderen sind weniger abschätzbar geworden. Auch weil wechselseitigen Abhängigkeiten zugenommen haben, ebenso wie die Geschwindigkeit, in der kommuniziert und gehandelt wird. Diese Verflechtungen und Unwägbarkeiten potenzieren sich und machen Planungen, bei denen mehrere Jahre voraus gedacht werden soll, geradezu unmöglich.

Im letzten Jahrhundert konnte man noch Strategien formulieren, die viele Legislaturperioden Bestand hatten. Als Reaktion auf die Kuba-Krise und den Mauerbau formulierten Willy Brandt und Egon Bahr Anfang der sechziger Jahre die Idee vom „Wandel durch Annäherung“. Dieser Ansatz prägte die Ostpolitik der BRD für rund zwei Jahrzehnte. Die Herausforderungen waren stetig und klar. Das hat sich geändert.

Schauen wir, wie sich die Situation allein in den letzten fünf Jahren grundlegend verändert hat. Im Herbst 2015 war unsere größte Sorge, dass der Islamische Staat, der weite Landstriche im Nahen Osten beherrschte, uns mit Attentaten auf Konzerten und Weihnachtsmärkten heimsucht. Im Herbst 2020 sieht die Welt ganz anders aus. Die demokratiegefährdende Polarisierung unserer Gesellschaften, die Auswirkungen des Klimawandels und eine globale Pandemie bedrängen uns. Dabei zählen wir nicht mehr auf die USA als globale Ordnungsmacht. Im Gegenteil, dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump (16%) vertraut man heute weniger als Putin (23%) und Xi (19%), wie eine Umfrage zeigt, die kürzlich in den größten EU-Staaten, Japan und Südkorea durchgeführt wurde.

Die unübersichtliche Gleichzeitigkeit von geopolitischen, ökologischen, gesellschaftlichen Entwicklungen bedarf eine moderne Politikarbeit und einen neuen Politikertypus. Mindestens für die häufiger auftretenden Krisenlagen. Tragende und inspirierende Narrative sind zwar unverändert wichtig, um Menschen zu mobilisieren. Allerdings sollten diese im Kern vage bleiben, damit sie laufend an die sich verändernden Umweltbedingungen angepasst und somit weiterentwickelt werden können.

Deutschlands bekanntester Physikerin sind chaotische Wechselwirkungen selbstverständlich geläufig. Als Bundeskanzlerin hat sie ihr Handeln diesem Welt- und Politikverständnis angepasst. Kritiker werfen ihr regelmäßig vor, dass sie statt visionäre Reformen eine Politik der kleinen Schritte verfolgt und nur auf Sicht fährt. Tagesschau und Spiegel haben ihr deshalb das Etikett „Gegenwartskanzlerin“ angeheftet. Die Folge ist ein Mangel an Weitblick und Fantasie, der Deutschland bei der digitalen und sozio-ökologischen Transformation Jahre hat verlieren lassen.

Allerdings hat sie von ihrem vorsichtigen, iterativen Vorgehen auch sehr profitiert; vor allem dann, wenn die ohnehin schon wechselhaften Entwicklungen noch einmal an zusätzlicher Dynamik gewannen. So konnte sie mit Ihrem Ansatz des kontinuierlichen Reflektierens und Reagierens zum Beispiel in der Eurokrise glänzen, als sie sich langsam vortastete, um stets aufs Neue zu überprüfen, ob die bisherigen Maßnahmen die Abwärtsspirale stoppen konnten. So hat sie mit ihren zögerlichen Zugeständnissen an den Euro-Rettungsschirm die Gemeinschaftswährung gerettet und gleichzeitig sichergestellt, dass die Kritik von Austeritätsanhängern nicht so groß geworden ist, dass sie ihr oder der Währungsgemeinschaft hätten gefährlich werden können.

Dass dieser agile Gestaltungsansatz zunehmend nicht nur in Krisensituationen, sondern zudem vermehrt im Normalbetrieb der Politik angewendet wird, hat auch Richard David Precht beobachtet und kritisiert dies in seiner Utopie für die digitale Gesellschaft. Moderne Politik sei von „Ethosverzicht zugunsten taktischer Klugheit“ gekennzeichnet. Gerne möchte man ihm beipflichten, dass die Politik sich stärker am „Imaginationsschatz der akademischen Kultur“ bedienen solle. Fraglich ist dabei jedoch zweierlei. Einerseits, ob großgedachte Langzeitstrategien noch zeitgemäß sind und erfolgreich sein können? Und zweitens, ob angesichts von Trump, Johnson, Bolsanaro und Salvini, Technokratinnen wie Angela Merkel nicht sogar die Heilsbringerinnen unserer Zeit sind?

Selbstverständlich gilt es auch weiterhin Bilder und Narrative für die Zukunft unserer Gesellschaft zu entwerfen und diese im demokratischen Diskurs miteinander konkurrieren zu lassen. Verschiedene Szenarien davon zum Beispiel, wie wir miteinander leben wollen, wenn mehr und mehr Tätigkeiten automatisiert werden und die meistens unserer Handlungen als Datenpunkte nicht nur erfasst sondern auch gehandelt werden.

Aber wer kann schon voraussagen, wie genau sich die Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz tatsächlich auf den Arbeitsmarkt auswirken werden? Ein positives Zukunftsszenario und Gestaltungswille sind wichtig, auch um dem Klimawandel zu begegnen, aber man darf man nicht dem Glauben anheimfallen, jetzt schon den Fortgang der nächsten 20 Jahre antizipieren und regeln zu können.

Entscheidungsträger sind heute besser beraten, konkrete Handlungen nur für die kurze Frist anzukündigen und die Pläne für die Mittelfrist lediglich skizzenhaft an den Horizont zu projizieren. Den Großplan expliziert man besser gar nicht, zumindest nicht per Lautsprecher, sondern behält ihn im Hinterkopf, bespricht ihn im kleinen Kreis, und webt, wann immer möglich, einzelne Elemente in die Kurz- und Mittelfristplanung ein.

Damit verfährt modernes politisches Handeln wie agile Softwareentwicklung. Beide fußen auf dem gleichen Grundverständnis, dass es unermesslich ist, wie sich unsere komplexe und volatile Umwelt weiterentwickeln wird und wie unsere Mitmenschen auf die Veränderungen reagieren werden.

Moderne Politikgestaltung wie agiles Softwaremanagement haben verstanden, dass das Idealergebnis nicht vorhergesehen werden kann. Im Gegensatz zur klassischen Herangehensweise, legt man sich also nicht im Vorhinein auf das Ergebnis fest und arbeitet dann einfach stur darauf zu. Stattdessen nähert man sich diesem an, indem man sein Verständnis kontinuierlich aktualisiert und entsprechend reagiert.

Als Mark Zuckerberg begann Facebook zu programmieren, konnte er nicht ahnen, dass sein College-Internetportal mal weltumspannend genutzt werden würde, ebenso wenig, wie er wissen konnte, welche Funktionen es braucht, um für zukünftige Nutzer attraktiv zu sein. All das wurde sukzessiv entwickelt. Wer hätte am Anfang der Eurokrise gewusst, welche Maßnahmen es braucht, um der Unsicherheit an den Finanzmärkten zu begegnen? Gleichsam konnte auch niemand zu Beginn der Coronakrise abschätzen, wie wir uns verhalten müssen, um das Infektionsrisiko zu minimieren.

Agiles Projektmanagement findet außerhalb der Softwareentwicklung mittlerweile in vielen Bereichen Anwendung, zum Beispiel in der Wirtschaft. Schon vor zwei Jahren hat die Mehrheit der deutschen Großunternehmen (65%) angegeben, bei agilen Projekten qualitativ bessere Ergebnisse zu erzielen. Auch die politischen ThinkTanks sehen großes Potenzial. Die OECD empfiehlt in einem 2019 erschienen Report einen responsiven und agilen Politikansatz, um schnell ausprobieren und Handlungen je nach Feedback anpassen zu können. Dass dieses Konzept aber noch lange nicht in der praktischen Politik angekommen sind, unterstreicht Professor Dietmar Harhoff letztes Jahr in seiner Eröffnungsrede beim deutschen Forschungsgipfel als er fragte „wie die Forschungs- und Wirtschaftspolitik in Zukunft dynamischer und agiler werden kann, [um] schneller und präziser Impulse aufzunehmen und zu reagieren?“

Das bekannteste Konzept für agiles Projektmanagement wurde Mitte der Achtziger entwickelt. Es heißt SCRUM und betont das iterative Moment. Iterativ bedeutet dabei nicht, dass man kein Ziel haben darf. Das Ziel sollte definiert werden. Im Coronakontext könnte es heißen, Erkrankungen und Todesopfer zu minimieren. Die Mittel zur Zweckerfüllung und der Zeitpunkt ihrer Anwendung bleiben bei der agilen Entwicklung jedoch kontingent. Es wird also nicht von Anfang an festgelegt, was getan werden soll und wann es getan werden soll. Wie sonst auch, erarbeitet man als erste eine Liste mit den Maßnahmen, die uns dem Ziel näherbringen können (das sogenannte Backlog). Dann priorisiert man diese Maßnahmen, im Coronakontext geschah dies zum Beispiel im Krisenstab, und anschließend beginnt man, diese Maßnahmen von der Spitze her abzuarbeiten, die drängendsten zuerst. Das waren im Februar und März Einschränkungen von Einreisen aus Wuhan, das Identifizieren von Kontaktpersonen der Infizierten, und der Hinweis in die Armbeuge zu husten bzw. zu nießen.

Der entscheidende Unterschied zum klassischen Projektmanagement ist, dass man sich in der ersten Arbeitsphase nicht schon auf die absehbaren nächsten Aufgaben vorbereitet (eine Arbeitsphase nennt man übrigens einen Sprint). Während die ersten Maßnahmen umgesetzt werden, schaut man stattdessen, ob sich die gewünschten Ergebnisse einstellen oder ob nachjustiert werden muss, und, ob es neue Erkenntnisse gibt und damit neuen Handlungsbedarf. Mögliche Reformen und neue Maßnahmen werden anschließend dem Backlog hinzugefügt. Sobald alles notwendige in dieser erneuerten Gesamtliste aufgeführt ist priorisiert man wieder neu. Anschließend beginnt man wieder die Maßnahmen von der Spitze der Liste her abzuarbeiten, also sich derer anzunehmen, die nach neuem Kenntnisstand am drängendsten sind, wie zum Beispiel die Einführung einer Maskenpflicht oder die Ausweitung von Testkapazitäten.

Mit diesem iterativen Prozedere wird genauso weiter verfahren, ohne, dass es einen offensichtlichen Endpunkt gibt. Das Ziel ist erreicht, wenn alles notwendige oder mögliche getan ist, also wenn die Bedürfnisse der Basis zufriedengestellt sind, wenn das Budget aufgebraucht ist, oder wenn sich die Prioritäten verschieben, also das Ziel geändert wird. Das heißt also nicht zwangsläufig, dass alle potenziellen Maßnahmen, die man im Backlog gesammelt hatte, auch durchgeführt wurden. Was fortlaufend als nicht notwendig oder unwichtig bewertet wurde, mag schließlich nicht umgesetzt worden sein. So hat man vielerorts von einer Maskenpflicht im Freien abgesehen, was gut ist, weil stattdessen zielführendere Mittel ergriffen wurden, wie Abstand halten.

Angela Merkels Arbeit fokussiert sich ebenfalls nur auf die jeweils drängendsten Probleme, nicht zwangsläufig die wichtigsten. Selbst vermeintlich bahnbrechende Weichenstellungen folgten keiner vorausschauenden Agenda. Die Ehe-für-alle, ebenso wie zum Beispiel der Atomausstieg nach Fukushima oder das Ende der Wehrpflicht sind nicht Kind einer Modernisierungsvision. Es war die Manifestation einer neu erstarkten, lauten Mehrheitsmeinung.

Vieles spricht dafür, dass dieser inkrementelle Politikstil kein Auslaufmodell ist und nicht mit Angela Merkel verschwinden wird. Im Gegenteil, zukünftige Politikergenerationen werden diesen Ansatz und die dazugehörigen Fähigkeiten adaptiert müssen, um sicherzustellen, dass demokratische Regierungen mit dem krisenhaften Weltgeschehen Schritt halten können.

Das heißt nicht, dass es nicht auch eine Zeit für Visionen und für proaktive Gestaltung gibt, vor allem in der Zwischenkrisenzeit, aber ohne eine agile Reaktion auf die Krisen der Zukunft wird es nicht mehr funktionieren. Das ist nicht zuletzt auch eine Herausforderung für die Bevölkerung, die Verständnis für die zunehmend dynamischere Politik aufbringen muss.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. Michael Strautmann

Der Autor arbeitet als Digital Transformation Analyst bei den Vereinten Nationen. Zudem lehrt er Organisationsdesign an der Cologne Business School.

Dr. Michael Strautmann

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