Seit etwa drei Monaten erheben etliche Frauen schwere Vorwürfe gegen den Sänger der bekannten deutschen Band Rammstein, Till Lindemann. Systematisch sollen ihm die Frauen für sexuelle Handlungen zugeführt worden sein. Es gilt bis zu einer Verurteilung weiterhin die Unschuldsvermutung. In dieser Woche hat die Berliner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Till Lindemann „wegen des Verdachts der Begehung von Sexualdelikten wie auch Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz“ eingestellt. Daniel Drepper hat als Investigativjournalist mit vielen mutmaßlich betroffenen Frauen gesprochen.
der Freitag: Herr Drepper, das Verfahren gegen Till Lindemann wurde eingestellt. Sein Anwalt Björn Gercke wertet das in einem Interview mit dem Focus als Erfolg: „Zum Glück entscheidet am Ende der Rechtsstaat über die Schuldfrage und keine Journalisten.“ Würden Sie diese Aussage so stehen lassen?
Daniel Drepper: Das sind zwei unterschiedliche Sachverhalte. Es gibt auf der einen Seite strafrechtliche Ermittlungen und auf der anderen Seite sind es journalistische Recherchen und Veröffentlichungen. Ich finde es wenig sinnvoll, beides zu vermischen. Wir sind ja nicht die Pressestelle der Staatsanwaltschaft und berichten darüber, was die strafrechtlichen Ermittlungen ergeben haben, sondern recherchieren unabhängig davon und haben auch ganz andere Vorgaben dafür, was wir veröffentlichen können und was nicht. Es geht hierbei ums Presserecht und nicht ums Strafrecht. Deshalb können die Anwälte von Till Lindemann und Lindemann selbst gern die strafrechtlichen Ermittlungen bewerten, aber mit unserer Berichterstattung hat das nichts zu tun.
Sie und ihre Kolleg*innen von NDR und Süddeutscher Zeitung haben als erste Redaktionen die Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger, die im Raum standen, veröffentlicht. Sie berichteten über ein System, wo Frauen bereits vor den Konzerten kontaktiert, ausgewählt und zugeführt worden sein sollen. Mit wie vielen mutmaßlich betroffenen Frauen haben Sie bisher gesprochen?
Wir haben im Laufe der Recherche mit mittlerweile Dutzenden Menschen gesprochen. Darunter waren mehr als ein Dutzend Frauen, die über ihre eigenen Erfahrungen im Umfeld von Veranstaltungen berichtet haben. Und wir haben ganz konkret die Erfahrungen von vier Frauen veröffentlicht, die ihre mutmaßlichen Erlebnisse im Nachhinein als Übergriff bezeichnen. Mittlerweile wird zumindest das Rekrutierungssystem zum Sex mit Till Lindemann gar nicht mehr bestritten. Das Landgericht Hamburg hat bestätigt, dass es das so gegeben hat. Und auch, dass es die sogenannte Suckbox gegeben hat, in der während Konzerten Oralverkehr mit Till Lindemann stattgefunden hat. Es gibt zudem einen Hinweis eines Berliner Gerichts, der besagt, dass es als zulässige Meinungsäußerung gelte, wenn man das Ganze als sexuellen Missbrauch bezeichnet.
„Mutmaßliche Geschädigte haben sich bislang nicht an die Strafverfolgungsbehörden gewandt, sondern ausschließlich – auch nach Bekanntwerden des Ermittlungsverfahrens – an Journalistinnen und Journalisten, die sich ihrerseits auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen haben“, ist in der Presseerklärung der Berliner Staatsanwaltschaft zu lesen. Man fragt sich ja schon, warum sich die mutmaßlichen Betroffenen nicht bei der Berliner Staatsanwaltschaft gemeldet haben.
Das ist für jede Frau eine individuelle und persönliche Entscheidung. Ich habe mit den Frauen, mit denen wir Kontakt hatten, auch darüber gesprochen. Es ist, glaube ich, eine Mischung aus Gründen. Es ist sicherlich so, dass die Frauen sagen: Ich weiß, dass in solchen strafrechtlichen Ermittlungen selten etwas rauskommt. Es gibt eine sehr geringe Quote von Verurteilungen. Gleichzeitig müssen sich die Frauen in einem solchen Strafverfahren stärker exponieren. Sie haben Angst, nicht kontrollieren zu können, wer Zugriff auf eine solche Ermittlungsakte hat. Dazu kommt, dass wir uns als Journalist*innen große Mühe geben, auch niedrigschwellig erreichbar zu sein. Aus Gesprächen mit den Frauen weiß ich, dass das bei der Staatsanwaltschaft nicht so ist. Das sind viele verschiedene Aspekte, die dazu beitragen, dass die Frauen am Ende eher den Kontakt zu uns gesucht haben und zur Staatsanwaltschaft eher nicht.
Dem Social-Media-Auftritt von Till Lindemann konnte man entnehmen, dass er sehr erleichtert über die Einstellung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen schien. Aber das kommt ja keinem Freispruch gleich. Es kam weder zur Anklage noch zu einem Gerichtsverfahren. Könnte es denn sein, dass die Ermittlungen erneut aufgenommen werden, wenn sich nun weitere Betroffene melden?
Es ist möglich, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren wieder aufnimmt, sollten sich etwa mutmaßlich Betroffene bei der Staatsanwaltschaft melden und über ihre Erfahrungen berichten. Ob das passiert, kann ich natürlich überhaupt nicht einschätzen. Was ich sagen kann: Wir werden weiter recherchieren. Wir sprechen weiterhin mit Frauen und auch Menschen aus dem Umfeld der Band über ihre Erfahrungen. Und wir versuchen, der Wahrheit möglichst nahezukommen – unabhängig von strafrechtlichen Ermittlungen.
Was macht die derzeitige öffentliche Aufmerksamkeit mit ihrem Arbeitsalltag?
Zum einen führen verschiedene Anwälte, die die Band und Till Lindemann vertreten, derzeit ein halbes Dutzend presserechtliche Verfahren gegen uns. Das ist noch lange nicht abgeschlossen und wird sich sicher noch ziehen. Zum anderen ist da diese extreme öffentliche Reaktion auf jede Wendung in dieser Recherche, das habe ich in der Form auch noch nicht erlebt. Die Recherche, das Handwerk, das ist nicht anders als in all den anderen Recherchen auch, die wir in den vergangenen Jahren gemacht haben. Aber dass die Recherche so im öffentlichen Fokus steht und sich daraus eine Art Kulturkampf entwickelt, ist eine neue Dimension. Das finde ich extrem und das ist sicher auch für die mutmaßlich betroffenen Frauen nicht einfach. Das sagen Sie uns auch: Dass sie das beobachten und davor einen großen Respekt haben. Zum Teil sind sie auch deshalb zögerlich, zur Staatsanwaltschaft zu gehen. Wir merken aber auch, dass das in beide Richtungen ausschlägt.
Inwiefern?
Dass die mutmaßlich Betroffenen sehr enttäuscht sind von der Staatsanwaltschaft und ihnen die ganze Diskussion ein Ohnmachtsgefühl gibt. Dass sich auf der anderen Seite aber auch Menschen bei uns melden und sagen: Ich habe gesehen, das wurde eingestellt, wie kann das sein? Ich würde jetzt gern mit Euch reden.
Wie steht es denn eigentlich um die Verdachtsberichterstattung in Deutschland?
Ich habe die letzten Wochen festgestellt, dass es relativ wenig Wissen zur Verdachtsberichterstattung gibt. In der Öffentlichkeit, zum Teil aber auch unter Journalist*innen. In jedem Berichtsgebiet findet Verdachtsberichterstattung statt, aber natürlich ist sie am sichtbarsten in den Gebieten, in denen es relativ wenig schwarz auf weiß dokumentierte Belege gibt. Also Bereiche, in denen es um menschliche Interaktionen geht: Wenn also zum Beispiel nur zwei Menschen in einem Raum sind und der eine den anderen missbraucht. Klassisches MeToo. Und diese Berichterstattung gab es vor zehn oder 20 Jahren so gut wie gar nicht. Deswegen ist das ein relativ neues Phänomen, das sowohl presserechtlich von Gerichten, als auch in der Öffentlichkeit derzeit neu verhandelt wird.
In welcher Form?
Das Ringen darum, was möglich ist in einer Berichterstattung und was möglich sein sollte, das ist im Moment sehr intensiv. Da merke ich, dass viel Erklärungsarbeit nötig ist darüber, wie funktioniert diese Art von Berichterstattung? Wie funktioniert unser Handwerk? Dass wir eben nicht einfach irgendwas ins Internet geschmissen haben, sondern dass wir spezifische Vorwürfe sehr aufwendig auf Plausibilität prüfen. Und dass es zahlreiche Hinweise geben muss, bevor wir etwas veröffentlichen. Und dass dann wiederum die Recherche nicht falsch ist, nur weil ein Gericht in der ersten Instanz eines Eilverfahrens einen kleinen Teil des Textes vorläufig als nicht zulässig betrachtet. Das heißt nicht, dass der Text falsch war, die Frauen lügen würden oder wir schlecht gearbeitet hätten. Sondern einfach, dass der Richter den Teil des Textes anderes bewertet hat als wir und unsere Juristen. Das Feld der Verdachtsberichterstattung ist ein Feld, in dem sich derzeit sehr viel entwickelt.
Wird sich die derzeitige Debatte auf künftige Metoo-Debatten auswirken?
Meine Hoffnung ist, dass durch diese extreme öffentliche Diskussion deutlich geworden ist, dass Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt ein wichtiges Thema ist. Und dass wir noch genauer hinschauen und über diese Missstände intensiv berichten sollten. Ich hoffe sehr, dass diese Debatte nicht dazu führt, dass alle die Hände in die Luft werfen und sagen: Da kann man jetzt nicht darüber berichten, das ist alles schwierig. Denn das ist sehr wichtig: Dass man Menschen, in diesem Fall insbesondere Frauen, zuhört und ihre Vorwürfe prüft, gerade auch dann, wenn sie nicht mit der Staatsanwaltschaft sprechen wollen.
Gab es während Ihrer Recherche Hinweise darüber, dass das systematische Ausüben von Macht, um es neutral zu formulieren, ein Problem der ganzen deutschen Musikszene ist?
Es haben sich jedenfalls eine ganze Reihe von Menschen gemeldet, die sich über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der Musikindustrie mit uns austauschen wollen, auf allen Ebenen. Da geht es sowohl um die Beziehung vom Künstler zum weiblichen Fan als auch die Beziehung vom Arbeitgeber zur Mitarbeiterin, als auch um die Beziehung von Firmen zu Künstlerinnen. Da gibt es immer wieder Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, die zu problematischen Situationen führen können. Wir freuen uns über jede und jeden, die oder der sich bei uns vertraulich dazu meldet, weil wir auf jeden Fall in diesem Bereich weiter recherchieren wollen.

Foto: Bernd von Jutrczenka/picture alliance/dpa
Daniel Drepper, 1986 in Münster geboren, ist investigativer Reporter und leitet seit 2022 die Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Zuvor war er Chefredakteur von Buzzfeed News Deutschland und ist Vorsitzender des Vereins Netzwerk Recherche.
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