Sexualstraftaten: Im Zweifel für den Angeklagten! Oder soll man es lassen?
Schuld Jeder gilt als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Zugleich fordert die MeToo-Bewegung: Glaubt den Opfern. Wie lässt sich der Widerspruch auflösen? Über eine Debatte, die alle Seiten überfordert – und doch geführt werden muss
Als der schöne Satz „in dubio pro reo iudicandum est“ zum ersten Mal niedergeschrieben wurde, gab es die deutsche Rockband Rammstein noch nicht. Oder die Rockmusik. Oder Deutschland. Im Zweifel ist für den Angeklagten zu entscheiden, schrieben Rechtsgelehrte im 16. Jahrhundert im damals üblichen Latein. Aus dem Zweifelssatz spricht die Unschuldsvermutung, er ist die prozessuale Konsequenz von „innocent until proven guilty“. Für ein rechtsstaatliches Verfahren sind diese Prinzipien unverzichtbar, sie stehen in der Menschenrechtskonvention, die Verfassung schützt sie. Mancher, der den Diskurs um Rammstein-Frontmann Till Lindemann verfolgt, hat den Eindruck, wir werfen sie gerade über Bord.
Lindemann, so die Anschuldigungen mehrerer junger
so die Anschuldigungen mehrerer junger Frauen, soll sie am Rande von Konzerten gezielt rekrutieren lassen, unter Drogen gesetzt und zu sexuellen Handlungen bis hin zu Geschlechtsverkehr genötigt haben. Beweise, die über Aussagen hinausgehen, gibt es wenige, ein Foto von Blessuren an der Hüfte einer mutmaßlich Betroffenen gehört dazu. Der Berliner Staatsanwaltschaft genügt das für einen Anfangsverdacht, seit drei Wochen laufen die Ermittlungen. Schwerster Tatvorwurf: Vergewaltigung.Über das Ergebnis der Beweisaufnahme, so steht es in der Strafprozessordnung, entscheidet das Gericht nach seiner freien Überzeugung. Steht am Ende Aussage gegen Aussage, wird das nicht selten zu einer reinen Frage der Plausibilität. Die Verurteilungsquote liegt unter zehn Prozent.Empirisch stehen die Chancen auf Freispruch nicht schlechtDie Berliner Rechtsanwältinnen Ronska Grimm und Anya Lean vertreten oft Frauen, die Männer der sexualisierten Gewalt bezichtigen. In einer Publikation des linken Republikanischen Anwaltsvereins listen sie Merkmale auf, die sich in vergangenen Verfahren schon „nachteilig auf die Erfolgsaussicht eines Strafverfahrens“ auswirkten. Mangelnde Deutschkenntnisse sind dort genannt, psychische Vorerkrankungen, Übergewicht, in der Kindheit erlebter Missbrauch. Und auch: freiwillig auf ein Hotelzimmer mitgegangen sein. Mit dem Beschuldigten Alkohol oder Drogen konsumiert haben. In eine Schockstarre verfallen sein. Schaut man sich die Berichte der mutmaßlichen Lindemann-Opfer an, muss man festhalten: Rein empirisch stehen die Chancen auf einen Freispruch nicht schlecht. Zu diesem Ergebnis kommt auch Ronen Steinke. Vielleicht, so der Jurist und Redakteur der Süddeutschen Zeitung, werde sich Lindemann „hinstellen und sagen können: Alle Vorwürfe verbotenen Verhaltens gegen mich sind fallengelassen worden; nichts davon war haltbar“. Momentan tourt Rammstein wie geplant durch Europa, Mitte Juli sind zwei Auftritte in Berlin geplant. Kim Hoss und Lise van Wersch wollen das verhindern. „Wir glauben euch“, schreiben die Aktivistinnen, die sich The Sirens Collective nennen, in einer Onlinepetition. Gemeint sind die Frauen, die die Vorwürfe erheben. Man dürfe den „Tätern“ nicht länger die „Sicherheit des Schweigens“ geben. Woher wissen sie, wer Täter ist?„Wir wissen es genauso wenig wie alle anderen“ räumt Lise van Wersch im Gespräch ein. „Was wir wollen, ist weder, dass man Lindemann cancelt, noch, dass man die Band oder die Konzerte auf Lebenszeit verbietet.“ Vielmehr ginge es um eine „faire Chance, zuzuhören“. Eine der Erstunterzeichnerinnen ist Reyhan Şahin, Feministin und politische Aktivistin. Die Unschuldsvermutung hält sie zwar für ein „unantastbares Gut des demokratischen Rechtsstaats“. Gleichzeitig beobachte sie eine Instrumentalisierung dieser Idee. Manchen ginge es darum, „die Perspektive von Opfern unsichtbar oder sie gar mundtot zu machen“. Für sie ist die Justiz gefragt: „Mehr Gehör für Opfer zu verschaffen und ihnen mehr Vertrauen zu schenken und ihnen zu glauben, wäre eine juristische Herausforderung. Es müsste irgendwie einen geschützten, vertraulichen und professionellen juristischen Raum für die Opfer geben.“„Das Leben ist kein Gerichtshof, sondern ein menschliches Miteinander“Zuhören, das sei nur möglich, wenn man die Konzerte erst einmal aussetzt, findet Lise van Wersch vom Sirens Collective. „Sinn dieser Petition ist, Pause zu drücken und zu gucken: Ist da was dran? Oder ist bei Till Lindemann einfach alles paletti? Und dann können wir das wieder im vollen Umfang genießen.“Auf die Frage, wie sie auf einen Freispruch wegen Mangels an Beweisen reagieren würden, kommen aber doch andere Antworten als „alles paletti“. „Dann raste ich aus“, sagt Aktivistin Kim Hoss. „Mir geht es gar nicht darum, ob jemand schuldig ist oder nicht. Wir müssen mal ausrasten. Wir müssen jetzt mal laut sagen, was uns seit Jahrhunderten schon beschäftigt.“ Till Lindemann, so scheint es, ist für die Aktivistinnen vor allem ein System. Über den Menschen müsse jeder für sich urteilen. Da sei es auch legitim, die Aussage Einzelner entscheiden zu lassen. „Das mag total harsch klingen“, sagt Lise van Wersch, „aber ich kann ja andersherum genauso fragen: Wieso sollte man Lindemann glauben? Das Leben ist kein Gerichtshof, sondern ein menschliches Miteinander, in dem Empathie zählt und in dem ich entscheiden darf, wer in meinen Kreis der guten Menschen gehört und wer nicht.“„Am Ende glauben sie meinem Mandanten, oder sie glauben ihm nicht“Es fällt schwer, den Gedanken an Fackeln und Mistgabeln beiseitezuschieben. Dabei wird vor Gericht im Grunde nichts anderes entschieden. Nur, dass da noch jemand ein Wörtchen mitzureden hat – die Verteidigung. Über Anwälte, die Menschen vertreten, denen Sexualstraftaten vorgeworfen werden, kursieren zahlreiche Annahmen. Die wenigsten davon sind schmeichelhaft. Unter linken Juristen herrscht veritabler Streit, ob die Verteidigung in Sexualstrafsachen mit feministischen Werten überhaupt in Einklang zu bringen ist. Kanzleien, die von Linken betrieben werden, erkennt man oft an dem Satz: Bei Tatvorwürfen sexualisierter Gewalt übernehmen wir keine Mandate.„Für mich spielt es bei Vorwürfen, denen ein gesellschaftliches Machtgefälle zugrunde liegt, eine Rolle, ob ich hinter dem ‚bestmöglichen Ergebnis‘ für meine Mandant*in auch politisch stehen kann“, sagt etwa Ronska Grimm vom Anwaltsverein in einem öffentlichen Streitgespräch. „Nicht weil ich finde, dass diese Menschen nicht verteidigt werden sollen, sondern weil ich keine Lust habe, meine Lebenszeit und mein Wissen dafür zur Verfügung zu stellen.“Daniel Brunkhorst gehört zu den Verteidigern, die es anders sehen. Er ist Fachanwalt für Strafrecht in Hannover. Sexualdelikte gehören zu seinen Schwerpunkten, „von beiden Seiten“, wie er sagt, also als Vertreter von Geschädigten und von Beschuldigten. Einer wie Till Lindemann könnte durchaus sein Mandant sein. Für Brunkhorst ist die Wahrheit in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen alles andere als klar. Juristisch muss der Täter den fehlenden Willen des Opfers erkannt haben, andernfalls handelt er ohne Vorsatz. Es gebe Situationen, so Brunkhorst, da sei sich die Frau zu hundert Prozent sicher, dass der Mann ihren Widerstand mitbekommen habe – der aber beteure glaubhaft das Gegenteil. „Am Ende sitzen da vorne drei bis fünf Richterinnen, und die glauben meinem Mandanten, oder sie glauben ihm nicht. Das ist so im Rechtsstaat, das ist das Spiel der Kräfte.“Die Petition zur Absage der Konzerte sieht er trotzdem positiv. Juristisch helfe sie zwar nicht, aber es sei immer gut, „wenn Leute sagen, ich möchte mich mit Opfern solidarisieren“. Für ihn ist klar, dass die Gesellschaft nach einem Freispruch von dem ehemaligen Angeklagten abzulassen hat – bei Lindemann wie bei jedem anderen. „Was sonst?“Was sonst, skizzieren die Rechtsanwältinnen Grimm und Lean in ihrer Publikation zu Vergewaltigungsprozessen. Es gibt alternative Konzepte zur Strafjustiz, die nicht ahnden und vergelten wollen, sondern aufarbeiten und wiedergutmachen. Transformative Gerechtigkeit ist eines davon. Wer Gewalt ausgeübt hat, soll vom unmittelbaren sozialen Umfeld zur Verantwortungsübernahme bewogen werden, zum Zuhören und Reflektieren, zum Entschuldigen. Das Problem: Alles basiert auf Freiwilligkeit. Schwierig in einem Deliktsbereich, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Beschuldigten die Taten meist vehement abstreiten. Entsprechend nüchtern fällt das Fazit aus: „Noch fehlt es gesamtgesellschaftlich an Wissen zu alternativen Modellen“, schreiben die Juristinnen. „Wenn wir uns aber das stigmatisierende und potentiell re-traumatisierende Strafverfahren als derzeit einzige Alternative vor Augen halten, sollten wir als Gesellschaft schleunigst alles daransetzen, die transformative Gerechtigkeit in unseren Alltag zu integrieren.“Strafrecht ist mit gesellschaftlichen Problemen überfordertOb ein Freispruch aus Mangel an Beweisen reichen darf, um Lindemann zu rehabilitieren – nicht nur diese Frage scheidet die Geister. Die Justiz müsse zugunsten der Opfer etwas ändern, findet Reyhan Şahin. „Ich kann gar nicht sagen, was genau, aber die Unschuldsvermutung müsste parallel irgendwie auch die Opfer schützen.“Auch bei den „Sirens“ bleiben die Vorstellungen inkonkret. Dem Justizsystem wohne ein Widerspruch inne, meint Lise van Wersch. „Wir müssen uns mit menschlichem Verhalten auseinandersetzen und gleichzeitig haben wir starre Regeln und Strukturen. Diese beiden Sachen passen unendlich schwer übereinander.“ Richterin sein, über mutmaßliche Vergewaltiger urteilen, die womöglich selbst mal Opfer waren, die noch nie jemand umarmt hat, das kann sie sich nicht vorstellen. „Ich würde daran zerbrechen.“Fragt man Daniel Brunkhorst, was sich ändern muss, klingt er fast bescheiden. „Die Frage ist doch, was das Strafrecht in diesem Bereich überhaupt leisten kann.“ Es sei ein Problem, wenn Aktivisten von der Justiz die Lösung eines gesellschaftlichen Problems erwarten. „Im Strafrecht geht es darum, festzustellen, ob der Staat eine Schuld feststellen kann, also die persönliche Vorwerfbarkeit eines strafbaren Verhaltens. Und da kommt es zwingend vor, dass das zwar stattgefunden hat, aber nicht festgestellt werden kann.“ In andere Deliktsfeldern – „Steuerhinterziehung, Betäubungsmitteldelikte, Betrugsdelikte“ – sei das nicht anders. „Dann bedeutet das, dass der Staat mit diesen Mitteln nichts weiter machen kann.“ Der Staat sei deshalb aber nicht machtlos.Und dann tritt einer der wenigen Punkte zum Vorschein, in denen sich der Strafverteidiger und die Aktivistinnen einig sind. Womöglich ist diese Einigkeit der Schlüssel. Lise van Wersch und Kim Hoss hatten von Prävention gesprochen, von einem gesellschaftlichen Diskurs um Intimität und persönliche Grenzen. Wie Einvernehmen aussehe, wie Widerwillen, was eine Handlung eigentlich zum Übergriff mache, all das sei zu vielen Männern einfach nicht klar. Daniel Brunkhorst hat ein anderes Vokabular. „Ich sehe noch keine geilen Konzepte, wie man allen Jungs mal mit zwölf beibringt, dass Nein Nein heißt, ganz im Gegenteil. Es gibt Ecken dieser Republik, wo Leute Politik machen, die Sexualkundeunterricht am liebsten komplett auf Bienen und Blumen reduzieren wollen. Wie Reproduktion funktioniert, ist aber nicht halb so wichtig wie die Frage: Wie zur Hölle bin ich eigentlich als Mann kein Vollarsch?“