Politologe Özgür Özvatan über die AfD und TikTok: „Die AfD lockt in einen Kaninchenbau“
Wählerfang Die demokratischen Parteien müssen mehr auf TikTok für ihre politischen Inhalte werben, sagt Özgür Özvatan. Vor allem die rechtsextremistische AfD versuche, dort Zustimmung zu erlangen, seit Neuestem auch bei migrantischen Menschen
Die AfD hat auf Tiktok Content mit Coolness-Faktor und wird damit attraktiv für junge Menschen
Foto: Revierfoto/Imago Images
Knallharte Hetzvideos statt Kochrezepte und lustige Tanzeinlagen: Die chinesische Plattform TikTok ist das neue Medium für rechte Inhalte. Auch Parteien wie die AfD setzen vor allem auf dieses schnelle Sprachrohr, um vor den kommenden Europa- und Landtagswahlen Stimmen zu bekommen. Der Berliner Politikwissenschaftler Özgür Özvatan untersucht die politischen Folgen wachsender Radikalisierung auf der Plattform Tiktok. Mittlerweile werbe die Partei auch um Menschen mit migrantischer Herkunft.
Der Freitag: Herr Özvatan, Sie untersuchen die Folgen der Radikalisierung auf TikTok. In welche Bereiche schauen Sie genauer?
Özgür Özvatan: Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Humboldt-Universität in Berlin schauen wir, wie die Top 50 der muslimischen Tik
ekts an der Humboldt-Universität in Berlin schauen wir, wie die Top 50 der muslimischen TikTok Content Creator, also derjenigen, die die Inhalte erstellen, in diesem Jahr kommunizierten. Hier ging es darum, die Vielfalt der TikTok-Kommunikation von Influencern abzubilden, die ihre Inhalte aus einer islamischen Motivation heraus produzieren. In der Agentur Transformakers, einer Agentur für strategische Kommunikation, untersuchen wir, wie sich die Tradwife-Szene formiert – allgemein, aber auch mit Blick auf migrantische Content Creator für Tradwife-Inhalte. Wir untersuchen aber auch laufend die Aktivitäten prodemokratischer, junger, migrantischer Content Creator und wie die AfD Migrant:innen anspricht.Weshalb versucht die AfD Wähler*innen mit Migrationsgeschichte zu erreichen?Die Zustimmungswerte für die AfD sind in den letzten Monaten nach der Formierung des Bündnis Sahra Wagenknecht und den Massendemonstrationen gegen Rechtsextremismus gesunken. Davor hatte sie ihr Limit von 20 bis 25 Prozent bei nicht-migrantischen Wähler:innen ausgeschöpft. Seit dem Spätsommer 2023 findet eine gezielte Ansprache von neuen Wähler:innen-Gruppen mit Migrationshintergrund statt. Für bestimmte Milieus unter Russlanddeutschen war sie ohnehin attraktiv. Mit verschiedenen anti-woken und nationalistischen Positionen wird nun gezielt versucht, türkeistämmige und auch muslimische Wählerschaften anzusprechen. Die Strategie wird sein, mit diesen Stimmen auf die 30-Prozent-Marke zu gehen. Aktuell scheint das nicht möglich, im letzten Quartal 2023 sah das anders aus.Türkeistämmige wollten noch vor wenigen Jahren die AfD nicht unterstützen. Hat sich dieser Umstand verändert?Ja, die Datenlage und Situation auf TikTok deutet darauf hin, dass insbesondere erzkonservative, nationalistische und wirtschaftsliberale Milieus unter Türkeistämmigen erfolgreich angesprochen wurden.Gibt es Influencer mit Migrationsbezug, die derzeit auf Stimmenfang für die AfD sind? Erreichen Sie so die jüngeren Wähler*innen?Im letzten Quartal 2023 waren es auch migrantische Influencer:innen, die programmatische Inhalte der AfD auf TikTok vermittelt haben. Jedoch ganz selten unter Benennung der AfD. Sie verbreiten sicherlich oftmals unbewusst die Inhalte der AfD. Ein Grund dafür kann sein, dass die AfD mit 73 Prozent die höchsten Marktanteile zwischen politischen Parteien auf TikTok hat. Content Creator, also die Ersteller der Videos, sind nicht davor geschützt, von programmatischen Inhalten der Drittaccounts in der Peripherie der AfD beeinflusst zu werden. Migrantische Influencer präsentieren auf der Plattform migrationsfeindliche, antifeministische und anti-grüne Inhalte. Dieser Content legitimiert die AfD nicht nur, sie macht sie auch mit einem Coolness-Faktor attraktiv für junge migrantische und nicht-migrantische Menschen. Und die Wirkung lautet: Es ist cool, rechts zu sein?Die AfD verspricht nicht nur die Abschottung nach außen, sondern mindestens eine ethnische Hierarchisierung im Inneren. Unterm Strich in jedem Fall zulasten von verschiedenen Migrant:innengruppen. Der Coolness-Faktor kommt einerseits durch migrantische Influencer, andererseits durch anti-woke Positionen. Das Zelebrieren von reaktionären Männlichkeiten, aber auch von entsprechenden Weiblichkeiten durch Strömungen wie die Tradwife-Bewegung.Welche Motive haben Sie untersuchen können, dass Menschen - trotz Remigrationsplänen und rassistischen Aussagen ihrer Politiker - die AfD wählen?Es gibt dafür drei Erklärungen. Die erste ist eine technische. Der Empfehlungsalgorithmus von TikTok erlaubt es, zielgruppenspezifisch zu kommunizieren. Wenn ein TikTok-Video für die Zielgruppe „Türkeistämmige“ gebaut wird, dann ist es technisch möglich, dass exakt diese Zielgruppen auch erreicht werden. Das liegt daran, dass der Follower-Faktor geringer gewichtet ist als auf anderen Plattformen. Heißt, mir werden eher Einzelvideos nach meinen Interessen auf meine Startseite gespielt, als Videos von Accounts, denen ich folge. Dieser algorithmische Faktor ermöglicht, dass migrantische Nutzer:innen rassistische Inhalte der AfD nicht unbedingt zu sehen bekommen, sie aber mit höherer Wahrscheinlichkeit die spezifisch für sie gebaute AfD-Ansprache zu sehen bekommen. Die zweite ist ideologisch. Es gibt, wie gesagt, auch migrantische Milieus, die sich durch eine anti-woke Rhetorik ansprechen lassen. Dazu zählen ablehnende Einstellungen gegenüber liberalen gender- und umweltpolitischen Positionen, im Übrigen auch eine migrationsfeindliche oder -kritische Position. Nicht alle Migrant:innen befürworten eine offene Migrationspolitik. Diese Milieus versucht die AfD nicht nur anzusprechen, sondern durch ihre Ansprache in einen Kaninchenbau zu locken und dort reaktionär zu radikalisieren.Die dritte ist der Wettbewerb. Die AfD nutzt die Potenziale von TikTok für den parteipolitischen Wettbewerb besser als die anderen demokratischen Parteien. Für die wehrhafte Demokratie sind das schlechte Nachrichten. Die Frage lautet: was machen demokratische Parteien falsch, sodass eine Partei eine wählbare Option für soziale Gruppen wird, obwohl sie programmatisch eine Politik gegen diese verspricht.Was wäre die Antwort?Die demokratischen Parteien sprechen Migrant:innen nicht proaktiv, selbstbewusst und zielgruppenspezifisch an. Im Gegenteil, die politische Kommunikation demokratischer Parteien verprellt Migrant:innen eher, als dass sie sie anspricht. Etwa 42 Prozent der Unter-Zwanzigjährigen hat Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Wie lange kann das demokratische Spektrum noch an diesen Wähler:innen vorbeikommunizieren?Können und sollen also die demokratischen Parteien in die sozialen Medien investieren, um eben auch Nichtwähler*innen zu mobilisieren?Sie müssen es sogar im Sinne der Wehrhaften Demokratie, möchte ich behaupten. Ich kann nachvollziehen, dass die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, in ihrer Rolle eine skeptische Position hegt und zum Beispiel den TikTok-Auftritt von Bundeskanzler Olaf Scholz kritisch sieht. Denn, ja, TikTok ist eine Plattform, auf der massiv menschenfeindlicher Hass und Gewalt verbreitet wird, insbesondere vom rechten Rand. Weil die Moderation von Inhalten willkürlich erfolgt. Gleichzeitig zeigt die Shell-Jugendstudie, dass die politische Sozialisation junger Menschen mehrheitlich auf Social Media, vor allem TikTok, stattfindet. Wenn politische Einordnungen auf solch einer relevanten Plattform nur von Rechtsextremen erfolgen, dann ist das schlecht für die Resilienz der Demokratie. Die antidemokratischen Effekte der digitalen Welt übertragen sich dann auch in die analoge.Werden auch Nutzer:innen fernab des Jugendalters erreicht?Die Nutzer:innen von Social Media werden in den Altersgruppen immer diverser. Klar, TikTok nutzen eher jüngere Menschen, aber die Nutzungszahlen der Älteren nehmen auch zu. Der Algorithmus von TikTok wird von den anderen Plattformen immer stärker imitiert. Die demokratischen Parteien sollten TikTok mit massivem Ressourceneinsatz bespielen. Wenn das Ergebnis lautet, dass die von der Plattform ausgehende Gefahr für die wehrhafte Demokratie neutralisiert wird, dann ist das ein wichtiger Mehrwert für die Demokratie. Um Mehrwerte mit parteipolitischer Färbung zu erzielen, braucht es professionelle, plattform- und communityspezifische Strategien. Die demokratischen Parteien und ihre peripheren Strukturen sind aktuell weit davon entfernt. Sie sind ebenfalls auf TikTok und erstellen politische Videos. Ist das Teil Ihrer Arbeit oder Privatvergnügen?Das ist mein gesellschaftspolitischer Einsatz für die wehrhafte Demokratie, allerdings vornehmlich in meiner Rolle als sozialer Unternehmer in der Agentur Transformakers. Es gibt unterschiedliche Modi, sich als Wissenschaftler zu verstehen. Die Präsidentin der Humboldt-Universität in Berlin, Julia von Blumenthal, hat im Herbst 2023 öffentlich gesagt, dass wir es uns als Wissenschaftler:innen nicht leisten können, nicht politisch zu sein. Ich sehe mich in der Verantwortung, mein Wissen über Gesellschaft in die Gesellschaft einzubringen.
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