Tod durch Polizeigewalt: Er hat gern gelebt, sagt die Mutter
Polizeigewalt Am 2. Mai 2022 stirbt der psychisch kranke Deutschkroate Ante P. bei einem Polizeieinsatz in Mannheim. Die beteiligten Beamten werden kaum bestraft. Die Angehörigen sind über das Urteil entsetzt
Wurde Ante P. vor knapp zwei Jahren auf dem Mannheimer Marktplatz von Polizisten bei einem Einsatz getötet? Nach fünf Prozesstagen, zwei Dutzend Zeugenaussagen, mehr als 100 Videos vom Tathergang und sich widersprechenden medizinischen Gutachten kommt das Landgericht Mannheim am vergangenen Freitag zu dem Urteil: Nein.
Der am Einsatz beteiligte Polizeihauptmeister Benjamin Z. wird mit dem Urteil vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Sein Einsatzkollege, Polizeioberkommissar Leon J., erhält eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 Euro für den Vorwurf der Körperverletzung im Amt.
Somit können beide Polizisten im Amt verbleiben. Den beiden Angeklagten und ihrer Verteidigung ist die Erleichterung im Gerichtssaal anzusehen. Die Neben
usehen. Die Nebenklage hatte drei Jahre Freiheitsstrafe für den Hauptbeschuldigten gefordert. Die Mutter und Schwester des verstorbenen Ante P. wirken als Nebenklägerinnen gefasst, während sie das Urteil hören. Nur einmal schlägt die Mutter ihre Hände vors Gesicht, als der Richter in seiner Urteilsverkündung noch einmal minutiös die letzten Minuten ihres Sohnes vor seinem Tod referiert.Der 47-Jährige Ante P. wurde am Tag des tötlichen Polizeieinsatzes wie jeden Tag von seiner Pflegerin aufgesucht. Seit drei Jahrzehnten war Ante P. psychisch krank, lebte aber selbstständig in einer eigenen Wohnung und arbeitete zeitweise in einer arbeitstherapeutischen Werkstätte. Die Pflegerin bemerkte eine Verschlechterung seines psychischen Zustands und fuhr mit ihm in das Zentralinstitut für seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim.Vier Faustschläge auf den KopfDort benachrichtigte sie den diensthabenden Psychiater, der ihn stationär aufnehmen wollte. Im Januar dieses Jahres wird der Arzt am zweiten Prozesstag vor Gericht aussagen, dass Ante P. an dem Tag „zerfahren“ gewirkt habe, aber er hätte ihn als ungefährlich eingestuft. Die Eigengefährdung sah er in einem Verfolgungswahn, der ihn in gefährliche Situationen hätte bringen können, wenn er sich in die Stadt begeben hätte. Ante P. habe gesagt, er wolle zur Polizeiwache, um dort etwas zu unterschreiben, so schilderte es der Arzt. Ante P. erbat sich Bedenkzeit, rauchte eine Zigarette vor der Kliniktür und verließ das Gelände. Der Arzt folgte ihm und verständigte die Polizei. Die beiden Polizeibeamten Benjamin Z. und Leon J. waren an diesem Tag im Dienst. Sie gingen Ante P. hinterher, fassten ihn am Arm, woraufhin er sich nach Aussagen des Arztes wegdrehte und mit den Armen um sich schlug.Ante P. lief weiter auf den nahe gelegenen Marktplatz, einem belebten Treffpunkt mit vielen Cafés, migrantisch geführten Geschäften und Restaurants. Der 2. Mai, ein Montag, war warm und sonnig, viele Menschen waren an diesem Tag unterwegs, auch weil an diesem Tag das muslimische Zuckerfest begann. Die Polizisten versuchten zunächst erfolglos, den Mann mit einem Körpergewicht von 137 Kilogramm zu stoppen, und sprühten ihm Pfefferspray ins Gesicht. Leon J. versuchte daraufhin, Ante P. niederzuringen und sprang ihm in den Rücken. Ante P. wehrte sich weiterhin, als beide Polizisten versuchten, ihn in die Bauchlage zu zwingen, um ihm Handschellen anzulegen. Einer der Beamten kniete auf seinem Oberkörper, während Ante P. sich aufbäumte und schrie. Laut Zeugenaussagen habe Ante P. gerufen: „Ich will einen Richter.“Um 12.11 Uhr schlug der Polizeibeamte Leon B. mit zwei schnellen Faustschlägen auf den Kopf des am Boden Liegenden; wenige Sekunden später schlug er Ante P. erneut mit zwei Faustschlägen ins Gesicht. Der Mann blutete daraufhin aus der Nase. Die Beamten wurden dabei von den Menschen auf dem Marktplatz gefilmt. Über 120 Handyvideos wurden so im Rahmen des Prozesses ausgewertet. Eine Bäckereibesitzerin reichte den Polizisten Flaschen mit Wasser für die blutende Nase von Ante P. Über fünf Minuten lang lag der Mann reglos auf dem Gehweg. Der Polizist Benjamin Z. habe versucht, die sich bildende Menschenmenge zurückzudrängen und die Menschen aufgefordert, weiterzugehen und nicht zu filmen. Laut Zeugenaussagen vor Gericht hätten einige Menschen aus der Menge gerufen: „Hört auf“ und „Er atmet nicht mehr“.Um 12.16 Uhr trat der Arzt, der Ante P. gefolgt war und die Polizisten um Hilfe gebeten hatte, aus der Menschenmenge. Um 12.18 Uhr ließ sich der Arzt Handschuhe reichen, um den immer noch am Boden liegenden Mann zu untersuchen, und stellte fest, dass Ante P. nicht mehr atmete. Rund eine Viertelstunde später erreichte ein hinzugerufener Notarzt den Marktplatz, in der Klinik wurde später der Tod von Ante P. festgestellt.Vor Gericht landen wenige FälleWarum der Arzt fünf quälend lange Minuten nicht eingriff, erklärte er später vor Gericht damit, dass er versucht habe, die Einweisung telefonisch vorzubereiten. Noch vor Prozessbeginn gegen die beiden Polizisten wurde gegen den Arzt wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Er zahlte eine Geldstrafe von 8.000 Euro, im Gegenzug wurde die Klage fallen gelassen.Nach dem Tod von Ante P. stand die Stadt unter Schock. Mannheimer*innen legten am Marktplatz Blumen nieder, stellten Kerzen auf und Plakate, auf denen Polizeigewalt angeprangert wurde. Freunde, Angehörige und Aktivist*innen gründeten die „Initiative 2. Mai“, die in den Tagen und Monaten danach Demonstrationen organisierte, bei denen auch weitere Fälle von Polizeieinsätzen mit Todesfolge angeprangert wurden.Denn nicht von der Hand zu weisen sind die Häufung der Fälle, sowohl in Mannheim als auch bundesweit. Neun Tage nach dem Tod von Ante P. wurde ein 31-jähriger Mann in Mannheim-Waldhof in einem psychischen Ausnahmezustand durch Polizeibeamte getötet. Und kurz vor den Weihnachtsfeiertagen im letzten Jahr erschoss die Mannheimer Polizei den psychisch erkrankten Ertekin Ö. vor den Augen seiner Kinder. Landesweit bekannt wurde zuletzt der Fall des 16-jährigen Mouhamed Dramé, der ebenfalls in einem psychischen Ausnahmezustand von fünf Polizist*innen vor zwei Jahren erschossen wurde. Dafür stehen die Beamt*innen in Dortmund vor Gericht, ein Urteil wird im April dieses Jahres erwartet.Strafrechtlich geahndet werden Fälle von Polizeigewalt eher selten, wie aus einer Studie unter Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein von der Ruhr-Universität Bochum hervorgeht. In Deutschland gebe es pro Jahr mindestens 2.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte. Weniger als zwei Prozent der Fälle kämen vor Gericht, weniger als ein Prozent endeten mit einer Verurteilung. Grund für diese niedrige Aufklärungsquote seien vor allem die Staatsanwaltschaften, die ihr Verhältnis zur Polizei nicht belasten wollten, so Singelnstein. Besonders frappierend ist der Umgang der Polizeikräfte mit psychisch erkrankten Menschen in Ausnahmezuständen. Der Jurist und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes forscht vermehrt zum Umgang der Polizei mit psychisch erkrankten Menschen. Er fällt ein vernichtendes Urteil: Drei von vier Menschen, die von der Polizei getötet wurden, waren psychisch beeinträchtigt, sagt Feltes.Gegensätzliche GutachtenIm Fall Ante P. war der Einsatz gut dokumentiert durch mehrere Dutzend Augenzeug*innen und über hundert Videoaufnahmen. Etliche Puzzleteile also, die man vor Gericht nur zusammenfügen musste, um zu erfahren, ob die Polizisten am 2. Mai 2022 gerechtfertigt oder ungerechtfertigt gehandelt und so den Tod des psychisch Kranken herbeigeführt hatten. Die Fragestellung war klar: Wäre Ante P. noch am Leben, wenn er vorzeitig in die Seitenlage gedreht worden wäre, wie es die Angehörigen mutmaßen? Ist er an dem Blut, welches in seinen Rachen lief, erstickt? Hätten die Beamten dies viel früher erkennen und handeln müssen?Ein erstes Gutachten ergibt genau das. Nach Auffassung von Kathrin Yen, ärztliche Direktorin der Heidelberger Rechtsmedizin, waren die letzten Minuten von Ante P. und das Aufbäumen in der Fixierung ein „Todeskampf“. Die Beamten werteten dies damals als Widerstand. Ante P. sei an den Folgen einer lage- und fixationsbedingten Atembehinderung mit darauffolgender Stoffwechselentgleisung in Kombination mit „Ersticken durch eine Blutung in die oberen Atemwege“ gestorben.Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes sieht das ähnlich. Er untersuchte bereits in den 1990er-Jahren mit Daten aus den USA den sogenannten „lagebedingten Erstickungstod“. In die Ausbildung der bayerischen und baden-württembergischen Polizei seien diese Erkenntnisse schon damals eingeflossen. Klar sei, so Feltes, dass „fixierte Menschen höchstens zehn Sekunden am Boden auf dem Bauch liegen dürfen, danach muss der Polizeibeamte die Person aufsetzen oder hinstellen“. Und nicht nur das: Bereits der Pfeffersprayeinsatz gegen Ante P. sei laut Thomas Feltes kritisch zu sehen: „Meiner Einschätzung nach ist die Verwendung von Pfefferspray bei psychisch erkrankten Menschen absolut dysfunktional, kontraproduktiv und führt zu aggressivem Verhalten.“Doch die Verteidigung der beiden angeklagten Polizisten beauftragte während des Prozesses mehrere Gegengutachten, die eine Herzschwäche von Ante P. als Todesursache angeben. Aufgrund der gegensätzlichen rechtsmedizinischen Gutachten rückte die Staatsanwaltschaft schließlich von ihrer Anklage ab.„50 Euro für ein Leben?“Eine ältere Frau ruft aus dem Zuschauerraum: „50 Euro für ein Menschenleben?“, während der Vorsitzende Richter Gerd Rackwitz das Urteil verkündet. Er verliert kurz die Fassung und droht ihr mit erhobener Stimme, sie bei einer weiteren Störung aus dem Gerichtssaal entfernen zu lassen. Danach bleibt es still. Nach der Urteilsverkündung im Landgericht Mannheim spricht die Schwester des Toten in Kameras und Mikrofone: „Ich bin erschüttert. Ich bin sprachlos. Ich kann dieses Urteil nicht akzeptieren.“ Ihr Anwalt, Ekrem Sanli, kündigt an, vor dem Bundesgerichtshof in Revision gehen zu wollen. Ante P.s Familie ist sich sicher, dass dort der Richterspruch kassiert werden wird.Die Eltern von Ante P. kamen als sogenannte Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland, die Mutter arbeitete als Schneiderin, um die vierköpfige Familie zu ernähren. Nach dem Gerichtsurteil zeigt die Mutter auf ihrem Handy Fotos von ihrem toten Sohn. Wie er lacht, wie er glücklich ist, aber auch, wie er in sich gekehrt auf einem Mauervorsprung sitzt. „Für meinen Sohn war die Polizei immer Freund und Helfer“, erzählt sie. Er sei fröhlich und gesellig gewesen. Ihre Tochter und sie hätten sich um Ante gekümmert, werden sie später erzählen, aber er wäre sehr selbstständig gewesen. „Er hat gern gelebt“, sagt sie, während sie die Todesanzeige aus den Unterlagen hervorzieht, mit einem schwarz-weißen Foto von Ante P., das ein schmales, lächelndes Gesicht zeigt.
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