Man reibt sich die Augen: Es geht um Carles Puigdemont, 2017 abgesetzter Präsident von Katalonien, seit sechs Jahren im belgischen Exil, per Haftbefehl gesucht und der Gewissheit ausgesetzt, festgenommen zu werden, sobald er spanischen Boden betritt. Ausgerechnet der Protagonist katalanischer Souveränität ist zur Schlüsselfigur der spanischen Politik geworden. Puigdemont empfängt Mitglieder der amtierenden Linksregierung in Brüssel. Und selbst Alberto Nuñez Feijóo, Kandidat der Rechtspartei Partido Popular (PP) für den Posten eines neuen Regierungschefs, sucht – wenn auch diskret – den Kontakt mit dem auf Fahndungsfotos Gesuchten. Das hat schon etwas Surrealistisches: der Staatsfeind Nr. 1 wird zum gesuchten Gesprächspartner des
des ihn verfolgenden Staates.„Skandal“ in BrüsselWas ist passiert? Die Parlamentswahl vom 23. Juni führte statt zu einem Erdrutschsieg des Partido Popular im Bündnis mit der faschistischen Partei Vox zu einer Pattsituation. Dem PP-Spitzenmann Feijóo fehlen sechs Stimmen zur absoluten Mehrheit, um zusammen mit den Rechtsaußen eine Regierung zu bilden, womit ihn der König beauftragt hat. Feijóos Rettung wären Stimmenthaltungen unter den kleinen Parteien, darunter die sieben Abgeordneten von Junts per Catalunya, bei denen Puigdemont nach wie vor das Sagen hat. Aber diese Parteien weigern sich, einem Feijóo, der mit den Faschisten paktiert, auch nur durch eine Stimmenthaltung beizustehen.Ohnehin hat der PP-Chef diese Option inzwischen aufgegeben: Nach einer missglückten Rhetorik der Distanzierung gegenüber der Partei Vox traf er sich gerade mit Santiago Abascal, deren Vorsitzenden, um Zusammenarbeit auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene zu bekräftigen. Die Volkspartei führt in sechs von 17 autonomen Regionen Regierungen im Verbund mit Vox. Auf kommunaler Ebene sind es gar 135 Verwaltungen, in denen das geschieht. Angesichts der so gut wie sicheren Niederlage bei seiner für den 23. September angesetzten Investitur im Parlament unternahm Feijóo einen letzten verzweifelten Versuch: Die Sozialisten sollten ihn doch durch Stimmenthaltung wenigstens für zwei Jahre regieren lassen – danach könne man Neuwahlen ausrufen. Das Angebot wurde umgehend abgelehnt.Das Linksbündnis der amtierenden Regierung verhandelt indes mit Puigdemont um die sieben Stimmen seiner Partei für eine Wiederwahl von Pedro Sánchez zum Ministerpräsidenten – Stimmenthaltung würde dafür nicht ausreichen. Diese Sondierungen finden in einer Art Schattentheater statt. Der sozialistische PSOE bleibt im Hintergrund und lässt der Chefin der alternativen Linkspartei Sumar (Nachfolger von Podemos), der Vizepremierministerin Yolanda Díaz, den Vortritt. Der „Skandal“, den die rechten Medien erwartungsgemäß daraus machten, wurde von Pedro Sánchez mit dem Hinweis entschärft, Yolanda Díaz hätte sich mit Puigdemont in Brüssel im Namen ihrer Partei Sumar und nicht als Regierungsmitglied getroffen.Amnesie für 45 Polizisten im GesprächSie kehrte von dort mit einer schwer verhandelbaren Forderung von Puigdemont zurück: Amnestie für alle Angeklagten und Verurteilten, denen das nicht rechtskonforme Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 zur Last gelegt wird. Überraschenderweise scheint dies für das Linksbündnis in Madrid kein völlig unüberwindbares Hindernis zu sein: Als Lösung wird jetzt erwogen, eine mögliche Amnestie auf die wegen Gewaltexzessen während des Referendums angeklagten 45 Polizisten auszuweiten. Puigdemont und seine Partei wären damit einverstanden.Allerdings könnte das für die Sozialisten eine Zerreißprobe bedeuten. Die alte Garde – Felipe González vorneweg – verkündete umgehend, eine solche Maßnahme wäre verfassungswidrig. Im Übrigen wird gewiss die Justiz bei einem Amnestiegesetz ein Wörtchen mitreden wollen, besonders der Ermittlungsrichter Pablo Llarena. Sein Herzenswunsch ist es seit sechs Jahren, Puigdemont hinter Gitter zu bringen.Für einen Erfolg der Verhandlungen mit Puigdemont bleibt als Kernfrage: Wird das von den nationalistischen Parteien Kataloniens beanspruchte Selbstbestimmungsrecht erneut zu einem Referendum führen? Puigdemont deutete nach dem Treffen mit Yolanda Díaz bei einer Pressekonferenz an, man könne dies abschwächen, indem die Forderung als langfristiges Projekt behandelt werde. Um die Investitur von Pedro Sánchez zu unterstützen, könnte es reichen, Katalonien als Nation innerhalb des spanischen Staats anzuerkennen, wie es seinerzeit im Autonomiestatut von 2006 vorgesehen war. Darüber wurde mit dem Plazet der PSOE-Regierung unter José Luis Zapatero bei einem Referendum abgestimmt. Ergebnis: 74 Prozent der Katalanen waren dafür.Neuwahltermin wäre der 14. JanuarNur zog der rechte Partido Popular unter Mariano Rajoy daraufhin vor das Verfassungsgericht, das 2010 mit einer Mehrheit rechter Richter essenzielle Artikel des Autonomiestatuts, vorrangig die Anerkennung Kataloniens als Nation innerhalb eines multinationalen spanischen Staates, für verfassungswidrig erklärte. Puigdemont signalisiert mittlerweile, er wolle zu dieser Basis zurückkehren und das Verlangen nach einer Unabhängigkeit als eine Art „historischen Kompromiss“ in die Zukunft verschieben.Doch werden konkrete Verhandlungen über Bedingungen für eine Wahl von Pedro Sánchez auf sich warten lassen. Der König muss erst den an PP-Chef Feijóo ergangenen Auftrag zur Regierungsbildung zurückziehen, wenn der im Parlament gescheitert ist. Bis sich dann klärt, ob es zu einer Einigung mit Carles Puigdemont und seiner Partei Junts kommt, können Monate vergehen. Noch steht das alles in den Sternen. Sollten auch die „delikatesten“ Zugeständnisse des Linksbündnisses keine Regierungsbildung ermöglichen, würden am 14. Januar 2024 Neuwahlen stattfinden. Dann wird sich herausstellen, was größer ist: die Angst vor den Faschisten in Regierungsverantwortung oder die Angst der vielen „patriotischen“ Wähler vor einer Bedrohung der nationalen Einheit.