Justizdrama „Prima Facie“ über eine Vergewaltigung: Dann entgleiste die Nacht
Theater Suzie Millers „Prima Facie“ ist international erfolgreich und nun auch in Deutschland zu sehen. Über den Erfolg des Justizdramas, in dem eine auf Sexualstrafrecht spezialisierte Anwältin nach einer Vergewaltigung selbst zur Klägerin wird
Dissoziation ist ein Grund für die oft ungenaue Erinnerung an Gewalterfahrungen: Caroline Junghanns in „Prima Facie“ am Staatstheater Hannover
Foto: Sinje Hasheider
Vollblüter sind sie, edel und teuer. „Jeder Muskel aufgepumpt, trainiert und bereit für den Sprint.“ Pferde im Rennstall? Nein, Strafrechtsanwälte in einer Kanzlei. Hochbezahlte Verteidiger, die Zeugen ins unerbittliche Kreuzverhör nehmen, um ihre Mandanten frei zu bekommen. Zehn Gedankengänge gleichzeitig im Kopf. Die Nerven gespannt, das Blut kurz vor dem Siedepunkt, auf den richtigen Moment lauernd, um loszusprinten.
Wie (Raub)-Tiere beschreibt Tessa Ensler ihre Kollegen. Kein ganz neues Bild für diese Berufsgruppe, aber aus ihrer Erzählperspektive doch ungewöhnlich: ist sie doch selbst Strafverteidigerin. Aber dem Feld fühlt sie sich nicht zugehörig, obwohl sie ihr Jurastudium in Cambridge als eine der Besten ihres Jahrgangs
Jahrgangs abgeschlossen hat. Tessa entstammt keiner Juristen-Dynastie, und sie hat auch keine Privatschule besucht. Sie kommt aus der Arbeiterklasse. Aus einem Milieu, in dem sich Mütter eine „Fluppe“ anzünden, Brüder in Kneipen schlägern, Fanta das Lieblingsgetränk ist – und das Distinktionspotenzial gering. Dennoch hat sie es geschafft, hat einen Top-Job und ist auf Augenhöhe mit ihren Kollegen.Ihre Fallhöhe: demnach hoch. Aus der siegreichen Verteidigerin, die insbesondere bei sexuellen Übergriffen hinzugezogen wird – weil sie als Frau „besser rüberkommt“ –, wird ein Opfer, eine Überlebende, eine Anklagende. Bei ihrem Date mit dem Kanzleikollegen Julian kommt es zu nicht-einvernehmlichem Sex: aus Tessas Sicht eine Vergewaltigung, für Julian bestenfalls ein Missverständnis. Tessa findet sich nun auf der anderen Seite des Systems wieder.„Es tut schrecklich weh“Suzie Miller, preisgekrönte australische Autorin, hat Tessa Ensler als Hauptfigur ihres neuesten Stückes erfunden. Der Monolog Prima Facie ist ein knallhartes Justizdrama, ein hervorragend konstruiertes well-made-play mit allen Bestandteilen, die ein süffiges Theaterstück ausmachen. Spannung herrscht im Gerichtssaal, wenn die Anwälte aus der Box preschen und dem Sieg zustreben. Informationen aus dem Inneren der Macht teilt Suzie Miller, als ehemalige Menschenrechtsanwältin und Strafverteidigerin in der juristischen Materie bestens beschlagen. Aus Anwaltsserien wie L. A. Law oder Suits kennt man die Motive, an einer Stelle macht sich Tessa gar lustig darüber, wie sehr sie dem Klischee einer Top-Anwältin entspricht. Ein wenig Ally McBeal und Sex and the City hat Miller ihrem Text beigemischt: Erotik knistert, wenn Tessa auf Julian trifft. Sex auf dem Sofa in seinem Büro, Sake beim teuren Japaner, ein Uber zu ihr nach Hause, wo sie nach viel Alkohol und Eiscreme miteinander ins Bett gehen.Und dann entgleist die Nacht. Jeglicher Glamour schwindet, die brutale Realität bricht ins bislang so perfekte Leben von Tessa ein. Nachdem sie sich, heillos betrunken, mehrfach übergeben musste, trägt Julian sie aus dem Badezimmer zurück ins Bett – und schläft wider ihren Willen erneut mit ihr. Detailreich wird die Vergewaltigung geschildert. Wie Julian Tessas Arme festhält, sie eine Hand auf ihrem Mund spürt, keine Luft mehr bekommt. „Er ist in mir. Grob und schmerzhaft. Es tut schrecklich weh.“ Das zu lesen ist unangenehm, sich die Situation körperlich vorzustellen, ist furchtbar. Und doch will Suzie Miller mitnichten schockieren, sondern entwickelt mithilfe dieser Details, ihrem früheren Beruf gemäß, eine Verteidigungsstrategie. Oder vielmehr: eine Rechtskritik.„Ich spüre, wie ich meinen Körper verlasse“, denkt Tessa in der Vergewaltigungsszene. Dissoziation, das Abtrennen traumatischer Erlebnisse aus dem Bewusstsein, ist ein Grund für die oft ungenaue Erinnerung an Gewalterfahrungen. Doch vor Gericht müssen Opfer sexueller Übergriffe jede Einzelheit des „Vorgangs“ schildern. „Wo genau waren Ihre Arme und Beine?“, wird der Staatsanwalt Tessa fragen. Und: „Haben Sie Mr. Brookes gegenüber deutlich zu verstehen gegeben, dass Sie dem Geschlechtsverkehr nicht zustimmen?“ Deutlich, das bedeutete im deutschen Sexualstrafrecht bis zu dessen Reform 2016, dass Opfer körperlich Widerstand leisten und den Täter quasi ihrerseits verletzen mussten. Die Wunden des Mannes und nicht die der Frau als letztgültiger Beweis: Ist die Rechtsprechung hier sexistisch verzerrt? Im reformierten Gesetz gilt nun die Einvernehmlichkeit als oberstes Prinzip – viel wahrscheinlicher macht das eine Verurteilung von Tätern allerdings nicht. Die Beweisaufnahme bei Sexualdelikten ist schwierig, meist steht Aussage gegen Aussage, und der Rechtsgrundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ führt in den meisten Fällen zu einem Freispruch auch mutmaßlicher Täter.In Zahlen: fünf bis 15 Prozent aller begangenen Vergewaltigungen werden angezeigt, so der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland. Pro Jahr sind das, dem Bundesamt für Justiz zufolge, etwa 8.000 Anzeigen. Von diesen endeten 2012 nur rund acht Prozent mit einer Verurteilung des Täters. Wer es als Vergewaltigungsopfer wagt, sich einem Gerichtsverfahren auszusetzen, hat schlechte Chancen auf Gerechtigkeit, so der Schluss, den auch Suzie Miller zieht.Tessa läuft vor Gericht denn auch in all die Fallen, die sie selbst als Anwältin aufzustellen pflegte: Sie erinnert den Tathergang nicht lückenlos, verstrickt sich in einen Widerspruch – wie kann es Julians Hand auf ihrem Mund gewesen sein, wenn er doch ihre Handgelenke festhielt? – und wird mit einem gängigen Argument ausgekontert: dem der Falschbeschuldigung. Angeblich wollte Tessa Julian mit der Anzeige im Rennen um einen besseren Job ausstechen, obwohl ihr diese Stelle angeboten wurde und sie, wie sie glaubhaft versichert, von Julians Bewerbung nichts wusste. „Ich habe die Stelle gewechselt, um von Julian wegzukommen, um ohne Angst zur Arbeit gehen zu können“, sagt sie vor Gericht. Doch in der Prozessordnung ist eine Wortmeldung der Zeugin nicht vorgesehen: „Das ist für die Beantwortung meiner Frage irrelevant, Ms Ensler, bitte unterlassen Sie weitere Ausführungen“, unterbricht sie Julians Verteidiger.Frauen, so schreibt die australische Jura-Professorin Karen O’Connell in ihrem Nachwort zu Millers Stücktext, werden vor Gericht oft zum Schweigen gebracht. Aber das soll so nicht bleiben: Prima Facie entstand zeitgleich mit der #Metoo-Bewegung, die wiederum als Verstärker für Suzie Millers Anliegen wirkte.Die Autorin griff 2019 ein Thema auf, das feministische Juristinnen seit den 1970er- Jahren beschäftigt: Das von Männern gemachte Rechtssystem schützt die Frauen wenig. Ihre Geschichten werden „aus dem System gefiltert“, wie es Karen O’Connell formuliert. Also müssten sich die Gesetze ändern – und das können sie, schreibt die Juristin, sind sie doch menschgemacht und sollen unsere Alltagserfahrungen widerspiegeln. Mit diesem Plädoyer der Rechtskritikerinnen endet auch Tessa, die sich im Gerichtssaal zunehmend unerschrocken das Wort nimmt. Sie erhebt ihre Stimme stellvertretend für alle Frauen, die Ungerechtigkeit erfahren haben: „Ich weiß nicht, woran ich mich festhalten, wie ich aufstehen soll“, sind ihre Gedanken. „Ich weiß nur, irgendwo. Irgendwann. Irgendwie. Irgendwas muss sich ändern.“Am Broadway ausgezeichnetDieses Gefühl, das auf juristischen Tatsachen und statistischen Daten beruht, soll die Gesetzgebung prägen – das ist der aktivistische Anteil von Prima Facie. Das Stück verleiht den Stimmen der Ungehörten Nachdruck. Und eroberte so von Australien aus die Bühnen. Uraufgeführt 2019 am Griffin Theatre in Sydney, ist es in der Türkei, in Spanien, Island und Neuseeland inszeniert worden. Die Broadway-Version wurde 2023 mit dem Laurence Olivier Award für das beste neue Stück ausgezeichnet, und die Schauspielerin Jodie Comer erhielt einen Tony Award als Beste Schauspielerin. Suzie Miller hat Prima Facie in diesem Jahr als Roman adaptiert, eine Verfilmung ist in Planung. Und im deutschsprachigen Raum kam das Stück seit September bereits in Berlin, Linz, Hannover, Düsseldorf und Heilbronn zur Aufführung – welch ein Erfolg.Zu Recht: Selten vermitteln Stücke, die so eingängig in der Durchführung sind, so klar eine komplexe Botschaft. Die Zeit ist reif für eine Änderung, legt Suzie Miller in Prima Facie dar. Der Titel ihres Textes ist ein juristischer Begriff, der „Anscheinsbeweis“ – eine auf den ersten Blick plausible Erklärung, gültig bis auf Widerruf. Der Augenschein kann aber trügen, ist unabhängig von Kategorien wie Wahrheit oder Gerechtigkeit. Wer hat recht?, ist nicht selten eine Frage von Verfahrensregeln oder der besseren anwaltlichen Taktik. Ihren Prozess für eine bessere Einbeziehung der Opferperspektiven hat Suzie Miller theatral bestens vorbereitet. Wer wird dieses Langstreckenrennen gewinnen?Placeholder infobox-1
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