Valentina Mira über ihre Vergewaltigung: „Auch mein Bruder hat geschwiegen“
Interview Valentina Mira erzählt in ihrem Debütroman „X“ von einer Vergewaltigung im Milieu römischer Postfaschisten. Und versucht zu verstehen, warum es ein Tabu ist, darüber zu reden – in der eigenen Familie und in der italienischen Gesellschaft
Valentina Mira über den Katholizismus ihrer Mutter – sie erzählt, dass „es nie einfach war, mit ihr über Sex zu sprechen“
Foto: Camillo Pasquarelli für der Freitag
Sie zögere ein wenig, das Interview zu geben, sagt Valentina Mira. Seit ihr Buch X 2021 in Italien erschienen ist, habe sie einige schlechte Erfahrungen gemacht. Die 32-Jährige erzählt in diesem Roman sehr direkt von ihrer Vergewaltigung durch einen Freund, der zu römischen Neofaschisten gehört. Sie wendet sich auch an ihren Bruder, der zu dem Freund hält. Mira, die auch als Journalistin für verschiedene Zeitungen arbeitet, schildert tief sitzende patriarchalische Strukturen in der Gesellschaft. Wir treffen uns an einem Vormittag per Video. Sie sitzt in ihrer Wohnung in Rom und redet schnell. X sei ein Befreiungsschlag gewesen.
der Freitag: Frau Mira, Sie sind in Appio-Latino, einem Viertel im Süden von Rom, aufgewachsen. Sommer 2010, Sie haben gerade
en von Rom, aufgewachsen. Sommer 2010, Sie haben gerade ein sehr gutes Abitur gemacht und wollen mit Freunden feiern. Auf der Party sind auch Postfaschisten, wie Ihr Freund G. Wie muss man sich diese Postfaschisten vorstellen?Valentina Mira: Sie hören Zetazeroalfa, eine faschistische Pseudorockband, trinken, koksen und zelebrieren das „Peitschenfest“, bei dem sie sich gegenseitig mit Ledergürteln schlagen.Ist faschistisches Auftreten etwas Normales in Ihrem Umfeld?Auch in unserer Nachbarschaft macht man Witze über den römischen Gruß. Es gibt sogar Bürgermeister, die ihn zeigen. Im Gegensatz zu Deutschland, das sich historisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt hat, hat Italien das nie wirklich aufgearbeitet. Giorgia Meloni will zum Beispiel „Il Presidente“ statt in der weiblichen Form „La Presidente“ genannt werden. Aber ich möchte nicht, dass mein Buch von Italien als Ausnahme spricht: Auch in der Schweiz ist gerade die Neonazi-Gruppe „Junge Tat“ im Tessin mit einem rassistischen Transparent aufgetaucht.Rom wird immerhin von einem Linken regiert.Ja, es hängt natürlich von der Gegend ab. Aber gerade mein Viertel war schon immer rechtsextrem. Dort gibt es ein keltisches Kreuz, das so groß ist, dass man es sogar auf Google Maps sehen kann. Es gibt den Acca-Larentia-Platz, wo in den 1970er Jahren zwei Faschisten getötet wurden. Jedes Jahr wird dort der römische Gruß gezeigt. Und die Carabinieri sagen: „Ach, die machen nur Spaß.“Am Abend auf der Party wollte Ihr Freund G. einen Kuss auf dem Balkon, Sie wollten das auch. Und danach wollte er mit Ihnen ins Bett. Sie sagten mehrmals: Nein, Sie wollen das nicht. Und Sie nennen das, was dann passiert ist, heute „die Banalität der Vergewaltigung“. Warum?Ich beziehe mich auf Hannah Arendt, weil ich gelesen habe, dass Vergewaltigungen meist von jemandem in der Familie oder von Freunden begangen werden. Von Menschen, denen man vertraut. Es klafft eine Riesenlücke zwischen der Art und Weise, wie Vergewaltigungen in den Medien geschildert werden, und dem, was sie in der Realität sind. Ich habe X auch geschrieben, um die Geschichte einer gewöhnlichen Vergewaltigung zu erzählen, nicht skandalös, nichts fürs Fernsehen. Meist sprechen wir nur dann von Vergewaltigung, wenn es eine Anzeige gibt. In Italien werden jedes Jahr mehr als 40.000 Frauen vergewaltigt, aber nur zehn Prozent von uns zeigen das an. Es bleibt also privat. Aber das sollte es nicht sein. „Ich habe Nein gesagt. Und du hast es trotzdem getan.“ – Das ist es, was den meisten von uns passiert.Sie kamen gelähmt von der Party nach Hause. Und konnten Ihren Eltern nicht erklären, was gerade passiert war. Aus Scham?Meine Mutter ist zutiefst katholisch und empfindet schon einvernehmlichen Sex als falsch. Sie hat in mir schon lange vor der Vergewaltigung ein Schuldgefühl ausgelöst. Deshalb konnte ich mich ihr nicht anvertrauen. Es war für mich noch nie einfach, mit meiner Mutter über Sex zu sprechen. Die italienische Kultur ist immer noch sehr sexophob.Klingt paradox, nach mehr als 30 Jahren Berlusconi.Das ist krankhafte Heuchelei. Wir haben keinen Sexualkundeunterricht in den Schulen: Wir gehören zu den letzten fünf Ländern in Europa, die ihn nicht verpflichtend eingeführt haben.Das ist nicht an allen Schulen so.Aber man redet in der Schule nicht richtig über Sex oder Gefühle. Und dann wird Vergewaltigung oft als eine Form der Bestrafung gesehen. Es ist eine Form der Kontrolle, der Macht, wie im Krieg.Zuletzt gab es in Italien mehrere Gruppenvergewaltigungen, wie im Sommer in Palermo, dann in Neapel und in Caivano. Andrea Giambruno, Melonis Ex-Partner, sagte daraufhin in seiner Talkshow sinngemäß: Wenn eine Frau sich betrinkt, dann braucht sie sich auch nicht zu wundern, wenn der „Wolf“ kommt. Das Raubtier.Was er gesagt hat, ist beschämend. Es ist hart. Seine Rolle war es, der „erste Ehemann“ sein, und nicht, sich politisch zu äußern. Das Problem ist, dass seine Frau, jetzt Ex-Frau, genauso denkt wie er. Meloni unterstützt diese Kultur des Maskulismus, spielt sich als Mutter auf. Dabei repräsentiert sie den Staat. Der sollte Männern zurufen: Vergewaltigt nicht! Er sollte Anti-Gewalt-Zentren fördern, statt den wenigen, die es noch gibt, die Mittel zu entziehen.Stimmt es, dass der Polizist, der Ihre Anzeige aufgenommen hat, Fragen stellte wie: Was hatten Sie an? Einen Minirock? Wie viel haben Sie getrunken?Diese Stelle im Buch ist fiktiv. Ich habe nie eine Anzeige erstattet. Denn ich wusste genau, mit wem ich es zu tun haben würde. Aber ich bin vielen Frauen begegnet, die das durchgemacht haben. Im Jahr 2021 wurde Italien sogar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt, weil die Frauen, die Anzeige erstatten, von der Verteidigung des mutmaßlichen Täters retraumatisiert werden. Das Opfer wird zur Schuldigen gemacht.Ihrem Bruder haben Sie von der Vergewaltigung erzählt. Aber er glaubte Ihnen nicht, sondern er glaubte der Version seines Freundes, der auch Ihr Freund – und dann Ihr Vergewaltiger war. Können Sie sich das erklären?Es sind diese männlichen Rituale, Motorrad, Fußball, ein geschlossener Club. Eine Krankheit. Natürlich hatte er Angst, von seinem Fascho-Freund erschlagen zu werden. Also hat er beschlossen, zu schweigen. Dann verschwand mein Bruder.Sie wurden Jahre später noch einmal belästigt. Diesmal war es ein Journalist.Es war 2019. Ich hatte meinen ersten unbefristeten Vertrag bei einer Zeitung, nachdem ich jahrelang gratis geschrieben hatte. Dann wollte mein Chef mich küssen. Ich sagte Nein. Er: „Sie zwingen mich zur Selbstbefriedigung.“ Er hörte nicht auf, zu fragen. Schließlich gab ich nach. Ich wollte den Job nicht verlieren, musste Essen und die Miete bezahlen. Aber ich habe mich schlecht gefühlt und gekündigt. Es kam heraus, dass er auch andere Kolleginnen belästigt hat.Auf Ihrer Journalistenschule gab es einen Fall von „MeToo“, aber der wurde nicht öffentlich, oder?Ich bin schon früher aus der Schule abgehauen, deren Direktor musste Jahre später gehen. Denn Studentinnen hatten einen Brief verschickt, und es kam heraus, dass er auch andere sexuell belästigt hatte. Es gab keinen Aufschrei, es war wie beim Vatikan: Sie haben ihn in aller Stille versetzt.Eine Studie des italienischen Presseverbandes besagt, dass 85 Prozent der Frauen, die fest bei einer Zeitung angestellt sind, sofort belästigt werden.Diese Zahl ist alarmierend. Von den Prekären brauchen wir gar nicht zu reden. Ich arbeite seit 14 Jahren in dieser Branche – und kann das alles bestätigen.Sie sind als Millennial in der Krise erwachsen geworden und schlagen sich mit Minijobs durch, etwa als „Rider“ bei Pony Pizza oder als Hostess bei Campari.Wir sind die ärmste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg, und das spürt man. Ich habe Jura studiert, auch als Konsequenz aus der Vergewaltigung. Um nicht wieder bei meinen Eltern einziehen zu müssen, mache ich drei Jobs zur gleichen Zeit.Warum ist der Widerstand gegen diese Zustände so schwach?In den letzten Jahrzehnten wurden Protestformen kriminalisiert. Wie beim G8-Gipfel in Genua 2001. Es ist schwer, sich neu zu formieren, neue Protestformen zu finden. Wie zum Beispiel im Jahr 2020, als die Statue von Indro Montanelli attackiert wurde. Montanelli war ein Mussolini-Anhänger und Kolonialist, der eine junge Frau in Eritrea vergewaltigt hatte. Aber er gilt als großer italienischer Journalist. Feministinnen haben das Denkmal in einem Mailänder Park dann mit rosa Farbe bemalt.Sie haben ein Graffito an die Wand des Hauses von G. gesprayt, mit seinem Namen und dem Schriftzug „Vergewaltiger“.Ja, und nach einem Tag war es weg. Sie haben es wirklich innerhalb von 24 Stunden verschwinden lassen, wo mein Viertel doch voller Hakenkreuze an Wänden ist, die schon seit Jahren da sind.Ihr Buch handelt von einer sehr persönlichen Erfahrung. Und ist gleichzeitig ein Manifest gegen das Schweigen?Ich wollte einen Teil der Welt ansprechen, zu der auch mein Bruder gehört hat. Diejenigen, die den Mund halten. Die, im Sinne Kierkegaards, eine falsche Wahl treffen, indem sie sich raushalten, statt Verantwortung zu übernehmen.Haben Sie Ihren Bruder wiedergesehen?Ja. Das war schön, aber auch kompliziert. Mittlerweile können wir besser miteinander reden. Mein Bruder muss einen Weg dafür finden, seine toxische Männlichkeit abzulegen. Er war sogar beim Psychologen. Meine Familie ist jetzt bereit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.Zerocalcare, der linke römische Zeichner, hat eine Netflix-Serie: „Diese Welt wird mich nicht zum Bösewicht machen“. Und Sie?Mir machen die gleichen Dinge Hoffnung, an die auch Zerocalcare glaubt: kollektiver Widerstand. Der Gedanke, dass der G8-Gipfel in Genua nicht das letzte Mal war, dass wir unsere Köpfe erhoben haben. Wir werden den Neofaschisten nicht ewig den Boden bereiten, den sie gerade haben.Und was bedeutet das „X“, das Sie als Tattoo auf dem Ringfinger tragen – und das der Titel Ihres Buches ist?Das X ist wie ein Nein. Und ein Versprechen, meine Neins für immer gelten zu lassen, auch wenn es auf der anderen Seite jemanden gibt, der sie vernichten oder ignorieren will. Wie Malcolm X, der sich mit Widerstand auskannte, zu sagen pflegte: „mit allen notwendigen Mitteln“.Placeholder infobox-1
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