Der Clown-Prophet der Post-Demokratie: Zum Abschied von Silvio Berlusconi
Nachruf Von Toten soll man nichts Schlechtes sagen. Aber gestorben ist mit Silvio Berlusconi ja nur der Maskenträger. Der Berlusconismus, die neoliberale Art der Faschisierung einer Gesellschaft, setzt ihr Zerstörungswerk fort
Silvio Berlusconi machte zur Politik, was vordem die Aufgabe von Kabarettisten, Filmstars und Clowns gewesen war – und schuf ein Übergangsprojekt. Aus dem Spiel mit der Macht ist heute das Machtspiel geworden.
Foto: Luca Santese/CESURA
Von Toten soll man nun ja nichts Schlechtes sagen, und das meiste von dem, was man über Silvio Berlusconi sagen konnte, ohne einen Gerichtstermin oder tödliche Feindschaften in der Familie oder der Nachbarschaft zu riskieren, war auch schon gesagt: Die Ära Berlusconi war, wenn man denn noch etwas Gutes von ihr sagen mag, die letzte, in der sich Kultur und Politik noch einmal zu einem verzweifelten Abwehrkampf gegen den Verfall von Demokratie und gutem Geschmack zusammen gefunden haben.
Der Widerstand gegen den um sich greifenden Berlusconismus, die Verwandlung der in ihrer Instabilität verlässlichen italienischen Nachkriegsdemokratie in einen stil- und distanzlosen Medienpopulismus, brachte noch einmal die post-linke und liberale Fraktion mit ehrlichen Konservativen
servativen zusammen. Berlusconi, das war, vielleicht, was geschehen musste, wo die beiden Pole der praktischen Italienischkeit, die kommunistische Partei und die katholische Kirche, widersprüchlich genug und doch in ihrer Don Camillo und Peppone-Haftigkeit auch wieder verbunden, verschwunden oder irgendwie in Glamour und Neoliberalismus aufgelöst waren.Das Wunder der Post-ModernisierungBerlusconi entsprach der allgemeinen Hysterisierung des zweiten italienischen Wirtschaftswunders. Es war nicht mehr das Wunder der Modernisierung, es war, nun eben, das Wunder der Post-Modernisierung. Tatsächlich stimmte die alte politische Klasse und das Parteiensystem mit dem Übergang der gestockten Moderne zum apokalyptischen Karneval des Neoliberalismus nicht mehr überein. In der Verfassung hatte es noch geheißen, dass die Nation auf der Arbeit aufgebaut war, und der innere Geist dieser Gesellschaft war aus dem anti-faschistischen Versprechen entstanden. Sandro Pertini war noch Objekt eines Liedes, das zwischendurch wie eine temporäre Hymne auf Italien klang, und das Toto Cutugno mit so viel lakonischer Überzeugung sang: „Un partigiano come presidente“. Die Hoffnungen auf die (Würde der) Arbeit schwanden ebenso wie der Stolz auf die antifaschistische Vergangenheit. Nicht an die Arbeit, sondern ans Geld war zu glauben, nicht an den Antifaschismus, sondern an die Show von Erfolg und Popularität. Berlusconi bot weder eine Lösung noch eine Erklärung für die Krisen, er drückte nur auf die perfekteste Weise den Umgang mit ihnen aus. Fort mit der Vergangenheit, und was die Zukunft anbelangt, an nichts als Wachstum und Vergnügen denken: Die pure Gegenwärtigkeit. Sehen, wo man bleibt.Silvio Berlusconi war die Gestalt, die allen Italienerinnen und Italienern ihre Sünden vergab, er machte öffentlich, was vordem verborgen war, er machte zur Tugend, was vorher noch Schande schien. Nicht so sehr zwischen rechts und links und kaum auch zwischen den Generationen verlief die Trennlinie zwischen Berlusconicsmus und Anti-Berlusconismus, sondern zwischen Ideal und Wirklichkeit. Berlusconis Schamlosigkeit wirkte auch wie eine Befreiung, das Verborgene war mit einem Schlag zur Außenseite geworden, etwas Unterdrücktes und Verdrängtes kam zum Vorschein: Aber dieser Umschlag hatte sich vorbereitet in den populären Medien; in kaum einem anderen Land fantasierten Filme, Kriminalroman, Comics so sehr von Zynismus, Korruption und Gewalt.Korruption und HedonismusItalien war nicht zufällig Experimentierfeld der politischen Postmoderne und damit der Post-Demokratie: Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen, zwischen Stadt und Land, zwischen Ökonomie und Kultur, zwischen sozialer und medialer Repräsentation, zwischen Glanz und Elend, zwischen Arm und Reich, hatten bereits in den 1980er Jahren einen Status erreicht, in dem sie mit den Mitteln der liberalen Demokratie nicht mehr zu bewältigen waren, zum einen, wie erwähnt, weil alte Strukturen der Ordnung nicht mehr funktionierten (nicht einmal die Mafia war noch sie selbst geblieben) und das Projekt einer allgemeinen Solidarisierung von Arbeit und Intelligenz gescheitert war (Pasolinis Tod als traumatischer Rest, eine Wunde, die nie verheilte), zum anderen aber auch, weil eine allgemeine Europäisierung neue Spannungen aufbaute.Der Berlusconismus war kein KrisenphänomenBerlusconi machte zur Politik, was vordem die Aufgabe von Kabarettisten, Filmstars und Clowns gewesen war. Seine Skandale waren nicht die Fehler, sie waren das Wesen seines Systems, und er wurde nicht etwa trotz ihrer, sondern gerade wegen ihnen gewählt und verehrt. Berlusconi errichtete ein Regime nach Prinzipien, an die man sich im Alltagsleben schon gewöhnt hatte. Erpressungen, Vertuschungen, Korruption und eine Beimischung von kleinbürgerlichem Hedonismus. Berlusconi machte klar, dass die kulturelle Hegemonie des „alten“ Bürgertums vorbei war, wie dann bei Donald Trump wurde auch bei Silvio Berlusconi der fundamentale Mangel an „gutem Geschmack“ zur politischen Botschaft. Seine Partei, „Forza Italia“, war nicht umsonst nach dem Schlachtruf auf dem Fußballplatz benannt. Berlusconi hat ihn nicht erfunden, aber er hat ihn perfekt ausgedrückt, den Diskursbrei von Geld, Sport und Politik. Erfunden vielleicht hat er den Interventionismus in den von ihm kontrollierten Medien, die frivole Vorahnung des Meloni-TV von heute, dessen Endprodukt im russischen Putinismus zu bestaunen ist: Es geht weniger um ausgefeilte Narrative und Begrifflichkeit, als um die Allgegenwart des einen und das Verschwinden-Lassen des anderen.Schon in der Blütezeit des Berlusconismus und in seinen vier Amtszeiten als Ministerpräsident war klar, dass der Berlusconismus ein – wenn zwar ausgesprochen zählebiges – Übergangsprojekt war. Die einen hofften, dass es sich um ein Krisenphänomen handelte, das sich früher oder später selbst erledigen würde (so wie auch heute noch Vertreter der italienischen Intelligenz allen Ernstes glauben, das Regime der Giorgia Meloni sei ein vorübergehender Anfall einer sich in glücklichem Chaos regenerierenden politischen Kultur), die anderen warteten auf ihre Chance. Auf den Clown-Propheten, so ließen schon damals Vertreter der extremen Rechten verlauten, könne nur eine wahre Autorität des (Post-) Faschismus folgen, und auf ein frivoles Spiel mit den Wünschen und den Sprachen des Volkes könne nur eine echte Umgestaltung von Staat und Gesellschaft folgen. Melonis Fratelli d’Italia sind beides zugleich: die Erben und die „Überwinder“ des Berlusconismus. Bis zuletzt begriff sich Berlusconi selbst als „Königsmacher“, als einer, der auch mit seinen Nachfolgern noch „spielen“ kann, so wie er in modischen Social-Media-Kanälen immer noch Anzüglichkeiten postete, ein ferkelnder alter Onkel, der sich bei einem Familienfest durch schmierige Witze hervortut. Dass das noch immer funktionierte – was sagt uns das?Der Widerspruch von Demokratie und KapitalismusDie öffentliche Trauer der politischen Klasse in Italien, nach dem Tod von Silvio Berlusconi, ist – da wir gerade bei Familienfesten sind – tatsächlich eine solche Mischung aus Heuchelei, Bigotterie und echtem Erschrecken über die Unausweichlichkeit des Todes selbst für einen solchen Überlebens- und Selbstschöpfungstyp, wie man sie in bösen Satiren bei der Schilderung bürgerlicher Begräbnisse findet. Meint Romano Prodi das wirklich ernst, dass sich die politische Rivalität zwischen ihm und dem Cavalliere „nie in Feindschaft verwandelt“ habe? Dann muss man den so angelegentlich Trauernden eine postume Komplizenschaft mit einem Politiker, Unternehmer und Medienmogul unterstellen, der nichts ausgelassen hat, von den dubiosen Geschäften und Verwurzelungen im mafiösen Untergrund, mit denen sein Imperium entstand, über die windigen Praktiken seiner Ausweitungen, der Flucht in die Politik, in der er nie aufgehört hat, seine persönlichen Interessen über alles andere zu stellen, die Lügen, die er seinen Landsleuten auftischte – okay, sie wollten sie offenbar hören –, die Aufweichung der demokratischen Institution, Politik als Entertainment, und Entertainment als Politik, von Steuerhinterziehungen, Korruption und Bunga Bunga gar nicht zu sprechen. Berlusconi einen „Macho“ zu nennen, bedeutet zu viel der Ehre; für ihn war alles käuflich, letztendlich auch die eigene Erscheinung, die zunehmend Maske wurde. Jemandem, der keine Feindschaft zu Silvio Berlusconi und seinem System hegt, ist gewiss an der Verteidigung der Demokratie wenig gelegen.Denn niemand, nicht einmal Trump, hat so perfekt den Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus ausgedrückt; in Berlusconi entlud sich gewissermaßen die Spannung zwischen beidem, und der Berlusconismus (als Vor-Form der Faschisierung der westlichen Gesellschaften) wurde zum Erfolgsmodell: Donald Trump, Boris Johnson, Markus Söder (einschließlich Mini-Me Hubert Aiwanger), Victor Orban, Marine Le Pen – sie alle haben von Berlusconi gelernt, und sie alle bereiten darauf vor, dass die Clownsmaske zur rechten Zeit abgenommen wird.Silvio Berlusconi hat die Politik und die Gesellschaft eher dispositiv und „ästhetisch“ verändert. Es veränderte sich die Sprache, es veränderte sich der Kanon der Werte, es veränderten sich Stil und Medien der Auseinandersetzungen. Aber es blieb bei ihm das narzisstische Spiel, und das bedeutete für seine Wähler*innen, Unterstützer*innen, Kompliz*innen die Illusion, man könne jederzeit umkehren, wenn man seinen Spaß gehabt, sein Schäfchen ins Trockene gebracht, sein Mütchen gekühlt habe. Als wäre Berlusconismus ein entlastender Rülpser, ein Ausrutscher der Demokratiegeschichte und nicht das Vorzeichen des Endes. Die grenzenlose Selbstverliebtheit, das fundamental Unerwachsene, die programmatische Beschränkung – all das macht den Berlusconi-Typus erst aus, und wie bei Donald Trump oder Boris Johnson, wird seine Bösartigkeit gerade da sichtbar, wo man glaubt, er sei zu „überwinden“. Doch Italien hat sich vom Berlusconismus so wenig erholt, wie sich US-Amerika vom Trumpismus erholen wird, auch wenn kurze Phasen scheinbarer Rückkehr zu demokratischen Gepflogenheiten trügerische Ruhe suggerieren. Der rechte Medienpopulismus kann die Geister, die er aus der Flasche lässt, nicht wieder einfangen, selbst wenn er es wollte.Und jetzt regiert Giorgia MeloniHat Silvio Berlusconi das post-demokratische Italien hervorgebracht, oder war er, umgekehrt, nur die richtige Figur für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der hier seine erste dramatische Öffentlichkeit erfuhr? Heute muss man Silvio Berlusconi nicht nur als Propheten des Populismus ansehen; sein Ende ist wohl auch das Ende der „Übergangszeit“. Denn schon zu seinen Regierungszeiten wussten es die italienischen Neo- oder „Post-Faschisten“: Nach ihm wird das authentische, das wahre Potenzial der italienischen Rechten sich entfalten können. Und Italien wird das Modell abgeben für andere europäische Gesellschaften.Auf den politischen Clown, der immer vor allem auch Geschmacksfragen stellte – die Vulgarität Berlusconis wurde dann nur von Donald Trump übertroffen, der in so vielem sein gelehriger Schüler schien – folgte die No-Nonsense-Rechte der Giorgia Meloni. Und während man bei jemandem wie Berlusconi immer ein klammheimliches Erstauen über das, was er sich immer wieder leisten konnte, zumindest als negatives Entertainment genießen konnte, ist, was auf ihn folgte, dabei, aus dem Spiel mit der Macht das Machtspiel zu machen.Von Toten soll man nichts Schlechtes sagen. Aber gestorben ist ja nur der Maskenträger. Der Berlusconismus, die neoliberale Art der Faschisierung einer Gesellschaft, setzt ihr Zerstörungswerk fort.