„Gegen Frauenhass“ von Christina Clemm: Jede kann jederzeit betroffen sein
Rezension Während die Empörung über unterdrückte, misshandelte Frauen im Iran groß ist, zuckt die Gesellschaft bei Femiziden hierzulande nur bedauernd die Achseln. Mit dem Buch „Gegen Frauenhass“ will die Rechtsanwältin Christina Clemm das ändern
Als Zeichen der Reue sollen dann Ferrero-Küsschen und langstielige Rosen dienen
Foto: plainpicture/Bildhuset
Ein Buch gegen Frauenhass – warum? Sind doch sowieso alle dagegen! – Irrtum. Christina Clemm beschreibt, wie geschlechtsbezogene Gewalt strukturell verankert ist, auch die scheinbar private „ausgerutschte Hand“ ist keineswegs ein „Ausrutscher“. Damit verwirft die Autorin das beliebte romantisierende Erklärungsmuster, in dem zu viel von schief gegangener Liebe und zu wenig von Macht die Rede ist, und entlarvt das Patriarchat als Paten für Frauenhass. An vielen Stellen liest sich das spannend wie ein Krimi.
Als Anwältin für Straf- und Familienrecht vertritt Clemm seit mehr als 25 Jahren Opfer von sexualisierter Gewalt und deren Angehörige – sie weiß also, wovon sie spricht. Zwar kenne sie als Strafverteidigerin beide Seit
und deren Angehörige – sie weiß also, wovon sie spricht. Zwar kenne sie als Strafverteidigerin beide Seiten und halte rechtsstaatliche Prinzipien wie Unschuldsvermutung oder den Zweifelsgrundsatz für unabdingbar. Mit dem Buch stellt sie sich aber uneingeschränkt an die Seite der Opfer – und den „unbändigen Hass auf Frauen“ ins Zentrum. Wie er wirkt, wen er trifft und weshalb nicht ernsthaft etwas gegen ihn getan wird. Ihre bittere Antwort: „Weil nur die Unversehrtheit weiblicher Körper und Seelen auf dem Spiel steht.“ Und weil wirksame Bekämpfung einen Umbau von Gesellschaft und Familienbildern erfordert, der Männern Verfügungsgewalt entzieht.„Zutiefst sexistische Grundstimmung“Das erste Kapitel heißt: „Kein Ort, nirgends“, angelehnt an ein Buch der Schriftstellerin Christa Wolf. Da für Gewalt gegen Frauen jeder Ort geeignet ist, gibt es nirgends dauerhafte Sicherheit. Am wenigsten – auch die Rezensentin weiß es gut und verdrängt es noch besser – in der Liebe, Ehe, Partnerschaft. Und wo keine sicher ist, ist keine frei.Das Nichtfreisein wird zur zweiten Haut, zur zweiten Seele, Frauenhass, als „emotionale Gewohnheit“, im wahrsten Sinne des Wortes „eingebettet in eine zutiefst sexistische Grundstimmung“. Tödliche Gewalt erscheint da nur als Spitze des Eisberges. Der Hass betrifft alle Frauen, betont Clemm. Wobei sie unter Frauen alle weiblich gelesenen Personen versteht, unter Männern jedoch nur cis Männer. (Warum diese dennoch als „Täter*innen“ erscheinen, wirkt deshalb unlogisch.) Die Perspektive der Täter – „warum sie es tun“ – interessiert ausdrücklich nicht. Clemm will nur wissen, warum sie es nicht lassen. Und weshalb sie nicht daran gehindert werden. Es gebe zwar ein paar neue Gesetze, „ein wenig Presse, Beileids- und Betroffenheitsbekundungen“, aber nicht weniger Gewalt gegen Frauen – im Gegenteil.Gewalt gegen Frauen in jeder dritten BeziehungVon den vielen Gequälten im sogenannten Dunkelfeld nicht zu schweigen, die sich allein herumschlagen mit dem Geschlagenwerden, mit anerzogener Scham und einem gewaltreproduktiven Frauen- und Familienbild. Clemm bringt Licht in dieses Dunkel mit dem ehrgeizigen Ziel, dass es keine ermordeten und misshandelten Frauen, keine sexualisierte Gewalt mehr gibt. Dafür sei es nicht zuletzt nötig, ein Männlichkeitsbild zu hinterfragen, das Gewalt mit Stärke gleichsetzt.Die „Engstirnigkeit einer auf ein binäres Geschlechterverhältnis reduzierten patriarchalen Gesellschaft“ gehöre abgeschafft. Der queere Bezug wirkt hier ein wenig pflichtschuldig und nicht ganz konsistent und das Patriarchat als pauschal-monokausaler Übeltäter zu einfach. Doch die Zahlen sind eindeutig: Rund 135 Femizide „passieren“ jährlich in Deutschland. Alle drei Minuten misshandelt ein Mann Freundin, Frau oder Ex. Jeden Tag versucht er, eine zu töten, was an mindestens jedem dritten Tag gelingt.Geschlechtsspezifische Gewalt kommt in jeder dritten Beziehung vor. Die Justiz, beklagt Clemm, weigere sich, das Problem zu verstehen, sich fortzubilden, Strukturen zu ändern. Und die Politik investiere nicht ausreichend in Prävention, Kampagnen, Betroffenenunterstützung und Täterarbeit. Während der Kampf gegen „Clankriminalität“ viele Ressourcen bindet, wartet man auf die bundesweite Sonderkommission „Frauenhass“ bislang vergebens.Jede kann überall betroffen seinStatt glaubhaft gegen den alltäglichen Terror anzugehen, verharre die Gesellschaft in einem Klima, in dem frauenfeindliche Grenzverletzungen als normal gelten: unangenehm, aber nicht zu ändern. Noch unangenehmer: Sie sind die Saat für strafbare Gewaltakte. Wie bei Lisa M., die in einem jener Familiendramen mitspielt, das keines ist, da ihr Fall kein Einzelfall, kein Unfall, kein Zufall ist, sondern Folge der üblichen Verharmlosung. Tatsächlich kann jede jederzeit betroffen sein.So auch ich, die Rezensentin. Als Kind habe ich die putzig klingende häusliche Gewalt selbst erlebt. Auch damals gab es, wie bei Lisa M., niemanden, der etwas dagegen tat: „Einige Personen in ihrem sozialen Umfeld müssen die Gewalt mitbekommen haben, aber sie haben nicht interveniert.“ Ich hatte gehofft, darüber hinweg zu sein und professionell distanziert darüber schreiben zu können. Aber ich komme nicht drum herum, das Ganze persönlich zu nehmen – und „ich“ zu sagen.Die Geschichte von Lisa M. könnte meine sein oder die meiner Mutter oder die meiner Töchter. Gewalt bleibt in einer stecken, auch wenn sie vorbei ist. „Unser“ Täter wurde damals nicht angezeigt – man versuchte, wenn man überhaupt davon sprach, zu erklären, warum er brutal war, der Arme, mit seiner schweren Kindheit. Ich durfte ihn nicht mal hassen. Und machte dann in eigenen Beziehungen ähnliche Erfahrungen wie Lisa M.: herabsetzende Sprüche, aggressives Korrigieren, Ärger über weibliche Intelligenz, Wutanfälle aus heiterem Himmel, Grauzonen-Geschlechtsverkehr, Schubsen. Ich bin früh genug gegangen, aber das ist kein Verdienst. Und dass Lisa M. weniger Glück hatte, ist nicht ihre Schuld. „Warum bist du bei ihm geblieben?“, lautet immer wieder die vorwurfsvolle Frage des eigenen Umfelds, ein weiterer Schlag ins Gesicht der Misshandelten. „Warum hat niemand interveniert?“, wäre angemessener.Frauen lernen AngstLisa M. ist die Hauptfigur in Clemms Buch – wir alle sind die Hauptfigur –, und deshalb kommen mir beim Lesen immer wieder die Tränen. Weil das einfach nicht aufhört und ich aber dringend will, dass das endlich aufhört.Stattdessen müssen auch die Töchter sich blöde Anmachen gefallen lassen, überlegen, ob sie ohne BH zu freizügig wirken und ob im nächsten Bewerbungsgespräch, bei der Wohnungsbesichtigung oder wo auch immer Gefahr droht. Wie alle Mädchen und Frauen dieser Welt werden wir zu Vorsicht und Selbstmisstrauen genötigt: An uns sollen wir etwas ändern, nicht an der gewaltduldenden Gesellschaft. Nicht die Ursachen der Gefahr sollen wir bekämpfen, sondern uns wegducken, auf die Rocklänge achten, die Knie zusammenpressen, Straßenseiten wechseln, gewappnet mit Pfefferspray und fingierten Telefonaten, das Schlüsselbund in der zur zittrigen Faust geballten Hand.Ich sitze im Zug, während ich in Gegen Frauenhass am liebsten jeden zweiten Satz unterstreichen und dann an jede Häuserwand sprühen möchte, wische mir an den Augen herum, registriere den Mann neben mir, der seinen Arm über meine Rückenlehne legt. Er döst, aber döst er wirklich? Ist er nur unachtsam oder lauert er auf eine Berührung? Ich sage nicht: „Könnten Sie sich bitte nicht so breit machen“ oder „Ihr Arm stört mich“. Wer weiß, wie er reagieren würde. Ich stehe auf und suche mir im ziemlich vollen Abteil einen Platz auf der fleckigen Treppe. Und frage mich: Bin ich feige oder vernünftig? Begünstige ich mit meinem Ausweichen Männergewalt oder schütze ich mich selbst? Während Männer sich die Fingernägel lackieren, ohne rot zu werden, überlegen wir, an gewissen Orten zu gewissen Zeiten nur ja kein Rot auf die Lippen zu legen.Ihn nur ja nicht reizenFrauenhass sei ein Männerthema, betont Clemm. Leider interessierten sich diese jedoch kaum dafür. Die Freundlichen beschränken sich auf freundliches Schweigen und ritterliches Nachhausebegleiten. Und Frauen lernen weiter von klein auf, bereit zu sein für die Angst, da sie potenzielle Opfer sind: nicht nur zu Hause, auch auf Festen, im Büro, bei ehrenamtlichen Tätigkeiten oder einfach zur falschen Uhrzeit in der falschen Straße. Manche Merkmale – sehr jung, sehr alt, trans, erkennbar nicht biodeutsch, körperlich behindert – und Arbeitsfelder wie Begleitservice, Pflege, Putzen oder Prostitution erhöhen die Gefahr.Lisa M. gehört zu keiner dieser Risikogruppen. Sie ist eine normale Frau mit einer ganz normalen Familie, in die der ganz normale Frauenhass eingebaut ist wie in ihr Handy die Tracking-App des Ehemanns. Dessen wachsende Gewalttätigkeit wird ihr zum Alltag: Lisa hat sich daran gewöhnt. Auch an die dramatischen Szenen seiner Reue – besonders beliebt sind Ferrero-Küsschen und langstielige Rosen. Und daran, sich klein zu machen, vorsorglich auf das Niveau des Partners zu schrumpfen, ihn nur ja nicht zu reizen mit dem eigenen Ich-Sein. Bei sich sucht sie die Schuld – und findet den Tod.„Wir wollen uns lebend!“Nach sieben Messerstichen wird Lisa M., wenig beachtet und rasch vergessen, in der Opferstatistik begraben. Mangels Beweisen – die einzige Zeugin ist ja tot – geht das Gericht von einer Verzweiflungstat aus. Der Täter erhält eine Gefängnisstrafe von knapp vier Jahren. Wegen guter Führung wird er vorzeitig entlassen und nimmt die Kinder zu sich. „Die Großmutter kümmert sich rührend um sie.“ So endet das Kapitel, und jetzt muss ich wirklich weinen. Für Lisa M. Für uns alle.Sie bleibt die Schutzpatronin der folgenden Kapitel: „Wir wollen uns lebend!“, „Verlorene Ehren“, „Macht, nicht Sex“, „Smash the patriarchy“ – was ärgerlich macht, denn warum englisch? Im letzten Kapitel, „Solidarität ist unsere Waffe“, stellt Christina Clemm im Fall von Lisa M. ein für allemal klar: Sie wurde nicht aus Versehen getötet, weil sie „labil“ war, das falsche Kleid trug oder den falschen Mann um sich hatte, sondern weil sie eine Frau war. Immer wieder wird beim Lesen deutlich: es gibt keine äußere Sicherheit ohne die innere Freiheit. Wie wir beides schaffen und damit verhindern, dass immer mehr Lisa M.s als unabänderliche Einzelschicksale enden, steht im Buch. Bitte lesen!Placeholder infobox-1
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