Rechtsextremismus Zwischen kultureller Grundversorgung und Schutzraum für Demokratie: Welche Rolle spielen Theater in kleinen ostdeutschen Städten? Ein Besuch im Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau
„Das gute und erfolgreiche Stadttheater muss porös sein, sodass wir hier ganz viele Partner haben, mit denen wir andocken“, sagt Daniel Morgenroth, Intendant am Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau
Foto: SimoneN/iStock
Nicht nur in den Metropolen Deutschlands wird derzeit gegen Rechtsextremismus demonstriert. Im Superwahljahr 2024 gehen nach den Correctiv-Recherchen zum Geheimtreffen in Potsdam auch in kleineren ostdeutschen Städten zahlreiche Menschen auf die Straße. In Cottbus, Dresden und Jena waren es Tausende. Hunderte trafen sich in Freiberg, Meißen, Pirna und Zittau. Je kleiner die Stadt, desto größer das Wagnis, Gesicht zu zeigen, wird der Chemnitzer Protestforscher Piotr Kocyba im Spiegel zitiert. Vor Ort kennt man sich. Und wenn die Neue Rechte „sportlich“ unterwegs ist, wie es einer der Redner beim Potsdamer Treffen nannte, kann das handfeste Folgen haben. Dazu gehören aufgeschlitzte Autoreifen, das eigene Foto samt Adresse in rechten Internetforen, An
im Spiegel zitiert. Vor Ort kennt man sich. Und wenn die Neue Rechte „sportlich“ unterwegs ist, wie es einer der Redner beim Potsdamer Treffen nannte, kann das handfeste Folgen haben. Dazu gehören aufgeschlitzte Autoreifen, das eigene Foto samt Adresse in rechten Internetforen, Angespucktwerden im Restaurant oder andere Tätlichkeiten.Eine Chronik von Übergriffen auf Kulturinstitutionen und ihre Mitarbeiter*innen hat der Journalist Peter Laudenbach mit seinem Buch Volkstheater. Der rechte Angriff auf die Kunstfreiheit vorgelegt. Kulturinstitutionen gelten gemeinhin als „links“. Und oft sind sie es, die abseits der Großstädte an der Seite zivilgesellschaftlicher Akteur*innen stehen. Das Museum, die Bibliothek und das Theater sind öffentlich gefördert und somit der freiheitlich demokratischen Grundordnung verpflichtet. Eine Ausrichtung, die in diesen Tagen nicht mehr selbstverständlich erscheint. Gerade an den Theatern sitzen Dialogspezialist*innen, die an dramatischen Konflikten geschult sind – und mit ihrer Vermittlungskunst in die Stadtgesellschaft hineinwirken möchten.Das Vermittelnde als Grundhaltung kann man bei einer Reise zum Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau erleben. Daniel Morgenroth ist dort Intendant, zum Gespräch kommt auch sein Kollege André Nicke von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt nach Zittau. Eisig verschneit ist die ehemalige Bergbaustadt in der Lausitz. Der Ort im Dreiländereck Deutschland/Polen/Tschechien bietet einen hohen Freizeitwert, ist jedoch ziemlich abgelegen. Knapp 25.000 Menschen leben hier. Am Sonntagmorgen ist kaum jemand auf der Straße. Morgenroth öffnet die Pforten zu seinem Theater. Am gestrigen Abend fand eine Premiere statt. Im großzügigen Foyer trifft klassische Moderne auf Art-déco-Anmutung. Nachdem das 1802 eröffnete Theater 1932 niederbrannte, wurde es 1936 neu aufgebaut. In jenen Jahren ergriffen die Nationalsozialisten die Macht. Den Verlauf der Gleichschaltung in Zittau seit 1933 zeigt aktuell eine Ausstellung im Stadtmuseum. Mit der Kultur fing es erst an, dann ging alles ganz schnell. Dieses Warnzeichen gibt sich die Zivilgesellschaft vor Ort selbst.Gastgeber Daniel Morgenroth ist eine dynamische Erscheinung. Er ist Ende 30 und strahlt Unternehmergeist aus. André Nicke wurde 1966 geboren und ist in Bautzen aufgewachsen. Während der Wende hat er an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin studiert und den Systemwandel im Theaterbetrieb miterlebt. Seit 2019 ist er Intendant der Uckermärkischen Bühnen in Schwedt, wo nicht die Kohle, sondern das Öl aus der deutsch-russischen Pipeline Druschba lange die wichtigste Ressource war. Auch er ist ein engagierter Streiter für die offene Gesellschaft. Seine historischen Erfahrungen eines Systemzusammenbruchs lassen ihn etwas verhaltener wirken, was Zukunftsprognosen betrifft.Monopol in Randlage„Wir haben eine Monopolstellung in den Städten, wir sind der Grundanbieter“, erklärt André Nicke die Grundlagen der Theaterarbeit in der ostdeutschen Provinz. Entscheidend sei der Angebotsmix im Spielplan: „Von den zwölf Inszenierungen, die das Schauspielensemble im Jahr herausbringen kann, sind neun bis zehn feste Markenprodukte – die Komödie, das Weihnachtsmärchen, Kinder- und Jugendtheater, der eine Klassiker. Und dann bleibt relativ wenig Platz“, so Nicke. „Ich bestehe auf einer osteuropäischen Ur- oder Erstaufführung im Jahr. Das ist in Grenznähe gelebte Friedensarbeit.“Was er für künstlerisch, ästhetisch und gesellschaftlich relevant hält, läuft allerdings oft in der kleineren Spielstätte in Schwedt mit 100 Plätzen. Die True-Crime-Lesung, Stand-up-Comedy oder das Klassikkonzert werden auf der großen Bühne für 800 Personen angeboten. Zwar seien jene Veranstaltungen wichtig, aber Nicke liegen die kleinen Formate besonders am Herzen. Sie allein machten es für ihn klar, „dass Theater an dem Standort einfach sein muss“. Davon ist auch Morgenroth überzeugt. Sein Gerhart-Hauptmann-Theater, das der „gelernte Wessi“, wie er selbst sagt, an den zwei Spielorten Görlitz und Zittau leitet, ist eines der nach der Wende fusionierten und immer hart an der Finanzierungsgrenze geförderten Ost-Theater. Rund 40 Autominuten liegen die beiden Städte voneinander entfernt. Der sächsische Landkreis, den sie kulturell mitversorgen, erstreckt sich entlang der polnischen Grenze. Eine Randlage in der Republik. Vor Ort ist das Theater aber zentral.Daniel Morgenroth: „Gibt es in Berlin ein Theater weniger, kann die Stadt noch existieren. Ohne Theater gibt es hier nichts mehr“„Als Stadttheater haben wir eine Funktion, die weit darüber hinausgeht, einfach nur schöne Kunst zu machen, und das ist Teil unserer Relevanz“, erklärt Morgenroth. „Wenn es in Berlin ein Theater weniger gäbe, könnte die Stadt noch existieren. Wenn es hier kein Theater mehr gibt, dann gibt es nichts mehr.“ Seine Spielstätten sind Versammlungsorte für die Stadtgesellschaft. „Die Podiumsdiskussion zur Oberbürgermeisterwahl in Zittau fand bei uns im Theater statt. Preisverleihungen, Jugendweihe, Diskussionen, Lesungen, das ist alles hier.“ André Nicke hat das Theater-Foyer geöffnet, als die Sanktionen gegen Russland wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine in Kraft traten und aus der Pipeline Druschba, Russisch für „Freundschaft“, kein Erdöl mehr floss. In der Stadt mit der ohnehin hohen Arbeitslosigkeit ging die Angst um, einmal mehr nach der Wende mit einer Industrie auch die Zukunftsperspektiven zu verlieren. Das Theater bot Raum für Debatten und Austausch.Wenn die ganze Stadt zu verschiedenen Anlässen ins Theater kommt, sind im Publikum (und unter den Mitarbeiter*innen) auch solche, die die AfD wählen. Eine Partei, deren sächsischer Landesverband vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingeordnet wurde. Der Landesverband liegt bei Prognosen für die Landtagswahlen 2024 derzeit mit knapp 34 Prozentpunkten vor der CDU. Im September entscheidet sich, ob die AfD in Sachsen regieren könnte. Auch in Brandenburg, wo André Nickes Uckermärkische Bühnen angesiedelt sind, und in Thüringen stehen ihre Chancen gut.Wie agieren die Intendanzen vor Ort, wenn die AfD in den Stadtverordnetenversammlungen und Kreistagen sitzt und über Finanzierungen und Anträge mitentscheidet? Im thüringischen Altenburg rief die AfD zum Boykott des Stadttheaters auf, nachdem dort die NS-Vergangenheit der Stadt thematisiert wurde, berichtet Peter Laudenbach in seiner Volkstheater-Chronik. Und die AfD Sachsen-Anhalt verankerte 2016 in ihrem Wahlprogramm für Museen, Orchester und Theater die „Pflicht, einen positiven Bezug zur eigenen Heimat zu fördern“. Mit der im Grundgesetz verbrieften Kunstfreiheit hat das nichts zu tun. Sind Theater also der Rückhalt der Zivilgesellschaft, die Brandmauer gegen Rechts, Bollwerke der Demokratie? „Theater sind keine Bollwerke, das ist so abgeschlossen, so trotzend“, antwortet Daniel Morgenroth und ergänzt: „Theater sind Orte, die Lust machen und locken sollen. Orte, die die Stadt in all ihrer Vielfalt reinholen, mit allen Problemen und allen Stärken. Das gute und erfolgreiche Stadttheater muss porös sein, sodass wir hier ganz viele Partner haben, mit denen wir andocken.“Blühende Leere„Sich vernetzen ist das Allerwichtigste“, sagt auch André Nicke. „Sprechen, sprechen, sprechen. Vernetzungen in die Politik, Vernetzungen in die Vereine oder beim Bäcker. Ich suche immer das Gespräch. Was macht die Stadt überhaupt aus? Wie tickt sie?“ In die Stadt hineinzuhören, offen und vorurteilsfrei zu bleiben – das ist eine Haltung, die sich die Theatermacher auch von den Medien und in der überregionalen Wahrnehmung wünschen.„Das Interesse ist da, sobald es wieder mal um den ‚rechten Osten‘ geht“, sagt Daniel Morgenroth. „Das ärgert mich, weil hier überall wirklich tolles Theater stattfindet.“ Auch bei der Verleihung des Theaterpreises „Der Faust“ regte er sich auf: „Da wurde eine Deutschlandkarte abgedruckt. Und wenn Sie auf den Osten Deutschlands guckten, dann sahen Sie blühende Leere. Da ist nichts. Keine Nominierung außer dem Nationaltheater Weimar mit einer Inszenierung!“ Überrepräsentiert auf der Karte: die westdeutschen Metropolen. Diesen Fokus der Elitenbildung auf die alten BRD-Bundesländer 35 Jahre nach der Wiedervereinigung hat auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ermittelt. Es gibt weniger ostdeutsche Intendant*innen an Stadt- und Staatstheatern, als es dem Anteil der Gesamtbevölkerung entspricht. Und wenn, sind sie an den kleinen Häusern im Osten tätig. Keines der großen Häuser im Westen mit über 1.000 Plätzen hat eine ostdeutsche Leitung. Dieses Ungleichgewicht kündet von einem Strukturproblem, selbst wenn man es mit der zahlenmäßigen Repräsentation nicht übertreiben möchte. Erneut wird deutlich, dass das Gefühl der Ostdeutschen, nicht angemessen wahrgenommen zu werden, durchaus begründet ist.Den Blick auf ostdeutsche Mentalitäten hat das Theater in Zittau gerade in einer Uraufführung gewagt. Der Görlitzer Bestseller-Autor Lukas Rietzschel hat Das beispielhafte Leben des Samuel W. geschrieben. 100 Interviews hat er dazu geführt, den aktuellen Befindlichkeiten und Erinnerungen aus den letzten 40 Jahren gelauscht. Samuel W. wächst in der DDR auf, erlebt den Mauerfall, radikalisiert sich und wird AfD-Kandidat. Eine fiktive Figur, aber durchaus erkennbar als der AfD-Politiker Sebastian Wippel, gegen den 2019 in Görlitz der CDU-Kandidat Octavian Ursu nur knapp die Stichwahl zum Bürgermeister gewann.Wie man Reflexe überwindet und dadurch Menschen zusammenführt, leben Daniel Morgenroth und André Nicke in ihrer Arbeit vor. Was, wenn die AfD die Wahlen gewinnt und in den Kommunen noch mehr zu sagen haben wird? „Wir müssen flexibel und agil bleiben“, erwidert André Nicke, der sich als gebürtiger Bautzener noch an repressive Zeiten erinnern kann. „Und wenn es Angriffe von gesellschaftlichen Gruppen gibt, denen das nicht passt: aushalten, mutig bleiben, auf dem Boden des Grundgesetzes.“ Für ihn ist zivilgesellschaftliches Engagement eine Lebensaufgabe: „Mut macht Mut. Einer muss vorangehen.“
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