Journalismus Nach der Hetze ist Solidarität mit der stellvertretenden Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung gefragt. Und volle Solidarität heißt auch, uns zu fragen: Müssen wir über unsere journalistischen Standards reden?
Textbausteine zu einem neuen Text zusammenführen? Diese Art des Copy-Paste-Journalismus ist weit verbreitet
Foto: scyther5/iStock
Ein Zeitungstext ist nicht ein Zeitungstext. Es gibt Meldungen und Reportagen, Interviews und Analysen. Nachrichten erreichen uns meist als Meldungen, etwa: „Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagt: 'Die Nato kann kein Militärbündnis à la carte sein'“. Das liest man am 12. Februar nachmittags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Man liest es in der Süddeutschen Zeitung. Man liest es im Spiegel als Überschrift: „Borrell kritisiert Trump: 'Die Nato kann kein Militärbündnis à la carte sein'“. Man liest es auf Zeit Online, und ich könnte so weitermachen: Auf tagesschau.de liest man es, auch im Handelsblatt, im Deutschlandfunk – einfach überall, und zwar gleichzeitig.
Warum? Weil die Mainstream-Medien alle
im Spiegel als Überschrift: „Borrell kritisiert Trump: 'Die Nato kann kein Militärbündnis à la carte sein'“. Man liest es auf Zeit Online, und ich könnte so weitermachen: Auf tagesschau.de liest man es, auch im Handelsblatt, im Deutschlandfunk – einfach überall, und zwar gleichzeitig.Warum? Weil die Mainstream-Medien alle gleichgeschaltet sind? Gelenkt von Bill Gates oder einer anderen geheimen Macht? Nein, es ist viel einfacher: Weil die Borrell-Äußerung von der Deutschen Presseagentur gemeldet wurde, schön ausformuliert, mit Kontext, und noch dazu faktengecheckt. Die dpa vermeldete am Vormittag des 12. Februar die Reaktion Josep Borrells auf die Äußerungen Donald Trumps, der seinerseits sagte, unter ihm als Präsidenten würden die USA kein Nato-Mitglied verteidigen, das seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkomme. Alle großen Nachrichtenredaktionen in Deutschland haben die dpa abonniert, und wenn eine wichtige Meldung kommt, dann veröffentlichen sie sie – mal kopieren sie daraus nur Textbausteine und schreiben selbst etwas dazu, und mal nehmen sie einfach die ganze Meldung, kippen das Ding schlicht in ihr Content Management System und schreiben nur eine eigene Überschrift dazu. Manchmal nicht einmal das, manchmal wird nur die dpa-Überschrift übernommen, und raus damit. „Kippst du die Meldung zu Borell noch eben rein?“, solche Anweisungen hört man dann in Online-Nachrichtenredaktionen, oder: „haust du die dpa zu Borell raus?“Online-Journalismus: Aus dem Internet abschreibenDieser copy-and-Paste-Journalismus ist tägliche Praxis, und das wird übrigens auch keineswegs vertuscht. Manche Verträge mit den Nachrichtenagenturen lassen es rechtlich sogar zu, die Meldungen unerwähnt zu übernehmen – aber in den meisten Redaktionen ist wenigstens die Nennung als Quelle gängig. Dann findet sich in winzigen Buchstaben über oder unter den Texten, die aus den Agenturen gecopied und gepastet wurden, die Agenturkürzel: dpa, AP, AFP, Reuters. Bei der Süddeutschen steht etwa unter dem Borrell-Text: Quelle: SZ/dpa/rtr/dta/nta/fued, das bedeutet: In die Meldung sind Textbausteine und Informationen von der dpa und von Reuters eingeflossen, die anderen Kürzel stehen für die Namen jener schnell-schnell-online-kloppenden Redakteure, die das alles kompilieren.„Aus dem Internet abschreiben“, so haben wir es in einer Online-Redaktion manchmal genannt, wenn wir eine schnelle Meldung aus den Agenturen oder aus anderen Artikeln anderer Zeitung zusammenschrieben. Bei der FAZ steht unter dem Borell-Artikel schlicht: dpa/AFP, also: Deutsche Presseagentur und Agence France Presse. Bei Zeit Online findet man diese Kürzel über dem Artikel: ZEIT ONLINE, AFP, dpa, Reuters, jsp, isd. Eigentlich schreiben also die Agenturen täglich alle Zeitungen online voll, von der FAZ bis zum nd. In Österreich kenne ich eine Journalistin, die dpa-auf österreichisch umschreiben muss: aus dem „Jungen“ wird dann „Bub“, sonst bleibt alles copy-paste.Der Kollegin Alexandra Föderl-Schmid von der Süddeutschen Zeitung wird von dem Plagiatsjäger Stefan Weber nun vorgeworfen, sie habe in ihren zahlreichen Texten Textbausteine aus Agenturen übernommen, ohne diese zu kennzeichnen. Aber nicht nur das, dazu fand Weber auch immer wieder Copy- und Pasts aus anderen Zeitungsartikeln, etwa aus der Welt oder dem Spiegel. Einmal soll sie für eine kurze Definition des jüdischen Feiertags Simchat Tora am 8. Oktober nach dem Massaker der Hamas den Text fast ganz von der Internetseite des Jüdischen Museums Berlin übernommen haben, ohne auf diese Quelle zu verweisen. Dafür soll sie sich laut der Zeit in der SZ-Redaktion inzwischen entschuldigt haben. „Echt?! Das ist bei mir gängige Praxis! Zumindest für Definitionen, oder für Kurzbiografien“, so reagierte ein Kollege, als ich den Fall mit ihm diskutierte.Plagiat? Unsaubere Arbeit? Gängige Praxis?Nun heißt gängige Praxis nicht: Journalistinnen schreiben alles den ganzen Tag nur ab. Aber es heißt: Journalistinnen schreiben sehr viel, und manchmal bedienen sie sich, wenn es sich um einfache Informationen handelt, in jener Arbeit, die dazu bereits geleistet wurde – dort, wie sie verlässlich ist, wie etwa die Bundeszentrale für politische Bildung, oder das Jüdische Museum. Es ist eine gängige Praxis, die von dem Plagiatsfindungsbeauftragten Weber allerdings anders bezeichnet wird: „Nach einer Analyse der ersten 69 von ca. 8.000 Seiten ist fast jeder Artikel problematisch“, so schreibt Weber über die journalistische Arbeit Föderl-Schmids. „Unsauber gearbeitet“ so wird das in den ersten Texten über die Sache gerne genannt.Schnelle Texte hat Föderl-Schmid geliefert. Wie die Zeit schreibt, war sie seit vergangenem Oktober zweimal für mehrere Wochen in Israel berichtet und verfasste in dieser Zeit rund 40 Texte – „eine schier unglaubliche Zahl in so kurzer Zeit“, wie die Zeit schreibt. Sie schrieb viel, sie wollte viel – also ähnlich wie Annalena Baerbock, der Weber auch unsauberes Arbeiten bis Plagiieren nachweisen konnte? Werden diese Frauen etwa deshalb so kontrolliert, weil sie sich erdreisten, hoch hinaus zu wollen? Zu hoch hinaus? Dieses misogyne Ärgernis vermutet man bei den rechten Auftraggebern des Plagiatsjägers Weber. Wieso fliegt denn kein Julian Reichelt auf, kein Friedrich Merz? Weil diese Herren nie auch nur einen Satz oder Gedankengang herauskopiert und in ihren Texten und Reden genutzt haben? Wohl kaum. Es laufen vermutlich noch viele unentdeckte Karl-Theodor zu Guttenbergs herum, die tatsächlich ganze Texte geklaut haben und nicht nur kleine Textbausteine für ihre Analyse nutzten. Die Vermutung liegt nahe: Es sind eher mächtige linke und liberale Frauen, die in diesen Zeiten des Kulturkampfs gezielt angegriffen werden.Erinnerung: Der Fall Claas RelotiusWer sich jetzt jedoch blind mit Alexandra Föderl-Schmid solidarisiert, weil sie von rechts angegriffen wurde, erweist weder ihr noch der Verteidigung der Demokratie einen Dienst. Die Solidarität muss tiefer gehen: Der online-getriebene Journalismus muss sich ehrlich machen und sich eingestehen, dass er in eine gewisse Schieflage geraten ist. Es ist die Schieflage eines journalistischen und publizistischen Arbeitens, das unter finanziellen Zwängen und enormem Konkurrenzdruck ächzt, und zwar seit Jahrzehnten. Redaktionen wurden verkleinert, Redakteursgehälter schrumpften, Zeitungen stehen immer wieder vor der Pleite. Das hat Folgen, auch für die journalistische Arbeit.So lieferte der angebliche Reporter Claas Relotius etliche Reportagen ab, in denen Teile erfunden waren, über mindestens zwei Jahre, bis der Fall ans Licht kam. Übrigens wurde der preisgekrönte und gefeierte Relotius von keinem Plagiatsjäger entlarvt, und auch von keinem betreuenden Redakteur, sondern von einem Co-Autor, der bei seinem Anfangsverdacht keineswegs Unterstützung aus den Redaktionen erhielt. Während die Arbeit von Claas Relotius und Alexandra Föderl-Schmid in absolut nichts zu vergleichen ist – Relotius verließ das Feld des Journalismus komplett, indem er Geschichten erfand, und zwar aus reiner Eitelkeit und der Angst, zu versagen, während Alexandra Föderl-Schmid eine verbreitete journalistische Praxis umsetzte und womöglich zu sehr ausreizte, die bei genauerem Hinsehen einer kritischen Diskussion bedarf. Und doch ähneln sich die Debatten zumindest in der Selbstbefragung, die sich der Journalismus angesichts ihrer Dramatik unterziehen sollte: Arbeiten wir Journalist*innen wirklich so sauber, wie wir könnten?Denn auch Relotius war nicht so eine Absurdität, wie manch ein Reporter es gerne hätte. Natürlich hat sich seither etwas geändert in den Redaktionen, inzwischen muss jede Reporterin Quellen und Fotos zeigen, die nachweisen, dass die beschriebenen Protagonistinnen wirklich existieren. Özlem Gezer hat mit ihrer Reportage der Jugendlichen in der Neuköllner Highdeck-Siedlung im Spiegel tatsächlich einen Text hingelegt, der zeigt, was Reportage kann, wenn eine Reporterin an einen Ort geht und sagt, was ist. Doch gibt es sie noch immer: Die Hollywood-Reportagen mit platten Klischee-Figuren statt Protagonisten, mit Spannungsbogen und Hollywood-Pointe. Lag das Problem des Falls Relotius wirklich nur in einem eitlen Reporter, der das Verbiegen der Realität zugunsten des spannenden Dramas so auf die Spitze getrieben hat, dass es zum Supergau des Journalismus kam: zur Lüge? Fing es nicht früher an, nämich in einer journalistischen Praxis, die das, was sie vor Ort vorfand, gerne in jenen spannenden Pitch presste, den sie an die Redaktion verkauft hat? Und in Redaktionen, die Dramen verkaufen statt Reportagen?Wir sind alle Alexandra Föderl-SchmidWas die Redaktionen brauchen, um sauber zu arbeiten, liegt auf der Hand: Es ist mehr Zeit. Und auch da könnte sich etwas tun, im Positiven. Denn wer nachschaut, welche Texte auf den Seiten die meistgelesenen sind, der findet gut recherchierte, selbstverständlich durchgehend selbst formulierte und durchdachte Analysen, Reportagen, Essays. Es sind gute journalistische Texte, für die die Leser*innen inzwischen auch online Geld zahlen. Am besten gegen schnell-schnell-Texte hilft nicht die Plagiatsjagd und Hetze, sondern diese Entwicklung, durch die Zeitungen mit gut recherchierten und redaktionell überprüften und durchgearbeiteten Texten wieder Geld verdienen können.Es stimmt: Es gibt ein Problem in der Süddeutschen Zeitung. Und zwar so, wie es ein Problem in jeder Zeitung gibt, auch in schnell veröffentlichten Büchern – in unserem ganzen Veröffentlichungswesen. Dieses Problem liegt nicht darin, dass die Journalisten-Kollegin Föderl-Schmid ihr Arbeiten dort, wo es aus Gründen der Geschwindigkeit zum copy-paste-Arbeiten wurde, nicht ausreichend kennzeichnete. Wenn dies ein Vergehen ist, dann können wir vermutlich die Hälfte aller Nachrichtenredaktionen entlassen. Das Problem liegt tiefer: Es gibt eine journalistische Praxis, die äußerlich einer Form der „Gleichschaltung“ ähnelt.Es gibt also eine Menge, über die der Journalismus in Deutschland nachzudenken hat, seit die Journalistenkollegin Alexandra Föderl-Schmidt unterkühlt am Ufer des eiskalten Inns gerettet wurde. Über Hetzjagden muss diskutiert werden, über lautere und unlautere Mittel im Kulturkampf, über den Schutz vor Shitstorms und gezielten Angriffen, über Sexismus und Würde. Doch der rechte Kulturkampf, der offenbar beinahe eine gestandene Journalistin in den Selbstmord getrieben hätte, hat nicht nur die Brutalität offen gelegt, mit der die Rechten ihn zu führen willig sind. Er hat auch eine Schwachstelle jenes Journalismus offen gelegt, den Rechtsextreme um jeden Preis desavouieren wollen. Es ist die Schwäche jenes gehetzten Journalismus, den Rechte als „gleichgeschaltet“ diffamieren, es ist der Journalismus des Schnell-schnell, des Copy-Pasts, der permanenten Selbstwiederholung und Selbstbespiegelung, des nicht-genug-Nachdenkens. Wir sind alle Alexandra Föderl-Schmid.
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