Wann gab es in Ihrer Stadt zuletzt eine Prügelei? In der Eckkneipe vielleicht, oder vor der Dorfdisko? Wie, das wissen Sie nicht? Dann leben Sie wohl nicht in Berlin-Neukölln. Denn wenn in meiner Heimat ein Junge einem anderen auf die Nase schlägt, dann erfährt davon gleich die ganze Republik. Schon klar, es ist Sommerpause, und wie nach Silvester eignet sich die neueste Folge der Soap „Multikulti-Chaos in Neukölln“ in dieser Flaute super für die nächste Runde Kulturkampf. Damit lassen sich in Berlin sogar Wahlen gewinnen!
Und gute Umfragewerte kann die CDU gebrauchen. Also überschlägt sie sich mit Forderungen, wie man sich um die Kids kümmern sollte, die in den Freibädern Neuköllns und Kreuzbergs herumpöbeln und p
beln und prügeln. Ausweiskontrollen führt Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner ein. Schnellverfahren fordert der kommissarische CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann: „Wer mittags im Freibad Menschen angreift, muss abends vor dem Richter sitzen und abgeurteilt werden. Auch am Wochenende.“ Hören Sie das Gelächter? Das sind die Neuköllnerinnen bei der Vorstellung, dass ihre völlig personalverarmte Justiz etwas innerhalb eines Tages hinbekommen soll. Am Wochenende! Witzig.Schade, dass Wegner und Linnemann, wie die meisten in dieser Republik, so gar keine Ahnung haben, wie es sich in Neukölln und Kreuzberg lebt. Wegner war vergangene Woche zum ersten Mal im Prinzenbad! Wir hier sind da ständig, also ich und die bis zu 9000 Menschen, die an heißen Tagen dort zusammenkommen. Aber natürlich wagte sich Wegner nicht mit uns ins Wasser, nicht mal durch das Fußbad watete er, stand bloß vor den Duschen und sagte: „Wir werden nicht dulden, dass die Freibäder zu rechtsfreien Räumen werden.“ Rechtsfrei? So langsam bekommen wir Neuköllnerinnen ein Bild davon, was für ein Bild der Rest der Republik von uns hat. Ausnahmezustand! Chaos und Anarchie!Wir Neuköllnerinnen sind einander ausgeliefertEin Blick in die Statistik erzählt etwas anderes: 2018 gab es 25 Hausverbote wegen (versuchter) Körperverletzung in Berliner Freibädern, 2019 waren es 42, 2022 waren es 7. Warum es 2019 so viele waren? Rekord von vier Millionen Badegästen! Das ist zweimal die Bevölkerung von Thüringen. Und wie viele Prügeleien passieren pro Sommer in Thüringen?Wir sind einfach sehr viele Menschen in Neukölln und Kreuzberg. Wir leben eng. Arm an Arm in der U-Bahn. Ferse an Ferse auf dem Hermannplatz. Stuhl an Stuhl im Wartezimmer der Arztpraxis. Burkini an Bikini im Freibad. Schade, dass Kai Wegner und Carsten Linnemann das Prinzenbad meiden, sonst könnten sie noch Bewundernswertes entdecken: Hier liegen queere Frauen mit nackten Brüsten neben Familienmüttern, die ihr gemeinsames Picknick aufbauen, und deren Töchter im Burkini planschen gehen. So viel Unterschiedlichkeit halten die Menschen hier auf engstem Raum aus. Ohne Rückzugsmöglichkeit in abschirmende SUVs, Gärten oder Eigenheime. Wir Neuköllnerinnen sind einander ausgeliefert. Ja, das funktioniert. Für viele.Aber es gibt auch jene, für die es nicht funktioniert. Für die Neukölln tatsächlich einen fortdauernden Ausnahmezustand darstellt. Das sind die Kids, die nie aus der stickig-heißen Menschendichte herauskommen. Die Kids, die mit ihrer Familie auf engstem Raum in der zu-wenig-Zimmer-Neubauwohnung eingepfercht sind. Deren Lehrerinnen völlig überfordert sind mit zu großen Klassen und ganz unterschiedlichen Sprachniveaus. Die vom Bürgergeld leben müssen und sich den Freibadbesuch für 5,50 Euro nicht an jedem heißen Tag leisten können. Die nicht an den Wochenenden mit ihren Familie ins Grüne fahren, um Luft zu holen. Die das ganze Jahr über aufeinanderhängen und sich einen Spaß daraus machen, ihren Frust an überforderten Freibad-Mitarbeiterinnen auszulassen, die nicht das lebenslange-Strafe-Instrument der schlechten Schulnote in der Hinterhand halten.Unsichtbar, so will die CDU die Kids in NeuköllnNormalerweise sehen wir diese Kids nie. Die gesellschaftliche Spaltung ist so weit vorangeschritten, dass ich von einer Prügelei im Prinzenbad so wenig mitbekomme wie Sie von Prenzlauer Berg, von Cloppenburg oder Würzburg aus. Die Welt dieser Kids ist nicht meine Welt, selbst wenn wir eine Wiese teilen. So wie Sie die Welt der armutsgefährdeten Kids Ihrer Stadt vermutlich auch nicht mitbekommen. Deren Sorgen. Nöte. Oder Prügeleien.Nur wenn es eine Prügelei in Neukölln gibt, dann ja! Dann sieht die Republik sie plötzlich, die Kids. Weil sie zur Chiffre werden für ein Zusammenleben, das so nicht funktionieren soll. Dabei braucht gerade enges Zusammenleben eine gute Infrastruktur. Genug Lehrerinnen, Ärzte, Freizeit-Orte. Aber Neukölln ruft um Hilfe: Aufgrund der Sparpolitik des Berliner Senats fehlen dem Bezirk 22,8 Millionen Euro im Jahr, weshalb der Wachschutz an 12 Schulen gestrichen, die Obdachlosenhilfe reduziert, die aufsuchende Suchthilfe abgeschafft, die Reparatur kaputter Spielplätze gestrichen, Jugendfreizeit- und Familieneinrichtungen geschlossen werden sollen.Um die Neuköllner Kids kümmert sich jetzt die CDU: mit Ausweiskontrollen und Polizei vor ihrem Sommerbad. Vielleicht bekommt man sie auf diese Weise wieder angenehm unsichtbar für die kühlen Pools der Republik.