Sozialmedizinerin im Gespräch: „Psychisch kranke und arme Menschen sind nicht faul“
Interview 37 Prozent der Empfänger:innen von Hartz IV sind depressiv oder suchtkrank. Eine Sozialmedizinerin erklärt, warum das kein Zufall ist – und wie die Gesellschaft damit umgehen kann
Wie schwierig es ist, einen Alltag zu bewältigen, wenn Inflation und Armut zusammentreffen, twittern Betroffene unter #IchBinArmutsbetroffen. Viele berichten über ein Problem, das noch dazukommt: den Kampf gegen die Depression. Steffi Riedel-Heller forscht und arbeitet dazu.
der Freitag: Frau Riedel-Heller, von Armut betroffene Menschen berichten häufig auch von psychischen Problemen. Ist das Zufall?
Steffi Riedel-Heller: Nein, kein Zufall. Armut und Krankheit hängen ganz klar zusammen, das ist längst erforscht: Menschen mit gutem Einkommen, hohem Bildungsabschluss, mit einem Beruf mit hohem Status haben regelhaft eine bessere Gesundheit als Menschen mit wenig Einkommen, wenig Bildung, prekärem Beruf. Gesundheit ist sozial ungleich verteilt.
Arme Menschen sind kr
ng, prekärem Beruf. Gesundheit ist sozial ungleich verteilt.Arme Menschen sind kränker als reiche Menschen.Nicht nur das: Menschen mit niedrigem Sozialstatus sterben auch früher. Laut Robert-Koch-Institut beträgt die Differenz in der Lebenserwartung zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe für Frauen 4,4 Jahre und für Männer 8,6 Jahre. Es geht hier um viele Lebensjahre, die Armut den Menschen raubt.Aber wenn man auf psychische Krankheiten schaut, sind diese in der Gesellschaft ohnehin sehr verbreitet: Jeder Dritte leidet oder litt einmal an Depression, Angststörungen oder Sucht. Sind arme Menschen hier wirklich stärker betroffen?Ja. Nahezu jeder messbare Aspekt von Gesundheit und Krankheit ist sozial ungleich verteilt: Krebs, Herzinfarkt – und psychische Störungen. Stark betroffen sind etwa Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund und Langzeitarbeitslose. 37 Prozent der Menschen, die ALG II beziehen, leiden unter chronischen psychischen Krankheiten.Da fragt man sich: Was war zuerst da? Arbeitslosigkeit und die soziale Situation, die auf die Psyche schlägt, oder die depressive Psyche, die dazu führt, dass man nicht mehr arbeiten kann?Die Frage nach Henne und Ei wird bei psychischer Krankheit und Armut häufig gestellt. Beide Wege spielen eine Rolle: Wer psychisch krank ist, hat ein höheres Risiko, erwerbsunfähig zu werden, und wer durch Erwerbslosigkeit im Leben ökonomisch wie sozial stark eingeschränkt wird, hat ein erhöhtes Risiko, psychisch zu erkranken.Versuchen wir mal, uns das ein bisschen konkreter vorzustellen. Dass eine Alleinerziehende, die halbtags in der Pflege arbeitet und ein vierjähriges Kind versorgen muss, irgendwann nicht mehr aus dem Bett kommt, kann ich mir vorstellen. Wieso kann ihre Depression aber weniger gut behandelt werden als das Burnout einer Doktorandin mit halber Stelle an der Universität?In beiden Fällen, die Sie nennen, entsteht sozialer und ökonomischer Stress. Aber wer mehr Ressourcen hat, um mit diesem Stress umzugehen, hat weniger Risiko, in Armut und längerfristiger Krankheit zu landen. Ist die Mutter allein verantwortlich für das Kind? Oder gibt es da Familie im Hintergrund, die unterstützen kann? Mit Sicherheit kann sie nicht zur Arbeit gehen und längerfristig kann dies zu Problemen führen. Dagegen kann sich die Doktorandin vielleicht mit Homeoffice über den Tag retten oder gegebenenfalls zu ihren Eltern zurückziehen.Verstehe. Wenn die Alleinerziehende psychisch erkrankt und niemand sie unterstützt, muss sie sich arbeitslos melden. Was tut dann das Jobcenter? Sie unter Druck setzen, wieder zu arbeiten?Das ist ein großes Problem, weil die Fachkräfte im Jobcenter, die die Arbeitslosen betreuen, keine Spezialisten sind für psychische Krankheiten – und dann ist über ein Drittel der Menschen, die sie vor sich sitzen haben, psychisch krank. Aber die Jobcenter öffnen sich zunehmend für diese Problematik. Wir haben in Leipzig ein Projekt, das nennt sich LIPSY: eine Kooperation zwischen Jobcenter, dem Helios Park-Klinikum und uns, dem Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig. Im Rahmen dieses Projekts arbeiten am Jobcenter in Leipzig jetzt Psychologinnen, die Diagnostik machen und Behandlung bahnen.Die Psychologinnen behandeln die Erwerbslosen am Jobcenter also nicht?Nein, sie führen keine Therapien durch, sondern bahnen den Weg ins psychiatrisch-psychologische Versorgungssystem, helfen mit, Kontakt zu Ärzten, Psychologinnen, psychiatrischen Einrichtungen herzustellen, Termine zu vereinbaren, Kontakt zu halten. Und dann gibt es Job Coaches, denn aus der Forschung wissen wir, dass eines am besten hilft, um psychisch kranke Menschen wieder zu Arbeit zu verhelfen: dauerhafte Begleitung. Hier entwickelt sich etwas an den Jobcentern und im Versorgungssystem.Was ist mit den Menschen, die von Jobcentern und Rentenkasse aufgrund ihrer Krankheit als erwerbsunfähig eingestuft werden? Die werden einfach ausgeschlossen?Sie sprechen hier einen wichtigen Punkt an: Auf der einen Seite entlastet Erwerbsunfähigkeit, weil kein Druck mehr da ist, trotz der Krankheit arbeiten zu müssen. Auf der anderen Seite bedeutet Erwerbsunfähigkeit oft soziale Exklusion. Denn Arbeit hat erwiesenermaßen positive und gesundheitsfördernde Effekte: Sie bringt nicht nur finanzielle Absicherung, sondern eine Tagesstruktur und soziale Einbindung. Das ist keine neue Erkenntnis: Bei den alten Psychiatern war Arbeitstherapie Teil der Behandlung.Auch schwierig, oder? Denn die meisten Jobs, die unsere Gesellschaft zu bieten hat, sind mit Leistungsdruck und harter Konkurrenz verbunden, was sich mit Krankheit nur schwer verträgt.Das ist richtig. Aber ich denke, auch hier bewegt sich gerade etwas. Die Bundesregierung etwa hat die Offensive psychische Gesundheit gestartet, da geht es um Offenlegung von psychischer Krankheit in der Gesellschaft und um Sensibilisierung.Wie sensibel ist ein Chef für die Arbeitsausfälle seiner Mitarbeiterin, dessen Unternehmen stark unter Druck steht?In der Arbeitswelt wird die psychische Gesundheit unbestreitbar wichtiger: Es gibt nun eine psychische Gefährdungsbeurteilung.Sie sprechen über die Reform des Arbeitsschutzgesetzes von 2013?Genau: Unternehmen müssen am Arbeitsplatz nicht nur nach toxischen Stoffen schauen, die die Gesundheit ihrer Arbeitnehmer gefährden könnten, sondern auch nach Risiken für die psychische Gesundheit. Und vergessen Sie nicht: Wir haben in Deutschland einen großen Fachkräftemangel! Dies könnte dazu führen, dass die Arbeitswelt möglicherweise mehr auf die Betroffenen zugeht. Dafür muss sich aber auch die starre Vorstellung von Krankheit, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit ändern.Wie meinen Sie das?Im Jobcenter gibt es oft die Idee, der Mensch muss erst mal hundertprozentig gesund werden, und dann ist er wieder arbeitsfähig. Für akute Erkrankungen mag das ja stimmen, aber für chronische psychische Erkrankungen gilt das nicht. Hier geht es um das Leben – und Arbeiten – mit der Krankheit, auch mit Rückfällen.Ist die Gesellschaft dazu bereit, mit chronischen Krankheiten umzugehen? Neulich berichtete die Autorin Margarete Stokowski öffentlich von ihrer Long-Covid-Erkrankung, und sie erntete dafür viel Hass: Sie sei bloß zu faul zum Arbeiten.Das sehen wir auch im Bereich der Behinderung, oft fehlt es hier an genug Verständnis: dass der Mensch eben kein Auto ist, das in die Werkstatt gebracht wird, und danach ist er heil. Aber dass Autorinnen ihre chronische Krankheit offenlegen, zeigt, dass etwas passiert – das sehen wir auch im Bereich der Psychiatrie.Die Scham, über psychische Erkrankung zu sprechen, nimmt also ab?Es gibt mehr Betroffene, die sich offenbaren und die sich organisieren und sogar in der psychiatrischen Behandlung mitwirken. Nehmen wir die Ex-IN-Bewegung, Experienced Involvement: Menschen, die selbst Erfahrung mit psychischen Krisen und Behandlung haben und als sogenannte Genesungsbegleiter in psychiatrischen Kliniken mitwirken.Ähnliches beobachten wir beim Thema Armut: Die Menschen sprechen über ihre Betroffenheit, und sie organisieren sich, etwa bei #IchBinArmutsbetroffen.Das ist ein großer Schritt, weil Armut ja oft mit Faulheit oder Sich-hängen-Lassen verbunden wurde, ähnlich wie chronische Krankheit. Da findet ein Umdenken statt!Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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