Wenn ich in einer Theaterpremiere als Kritikerin sitze, fällt das meistens auf. Ich habe ja mein Schreibheft, um mir während der Aufführung Notizen zu machen. Das schnelle Kratzen vom Bleistift auf dem Papier hat mir schon einige entnervte bis wütende Reaktionen eingebracht. Eine Sitznachbarin fauchte mich mal an, ich würde ihr mit der Schreiberei die ganze Aufführung verderben. Ich kaufte mir einen Bleistift mit einer extraweichen Mine.
Manchmal provoziert schon mein Schreibheft die Feststellung: „Ach, Sie sind wohl Theaterkritikerin!“ Dann werden auch noch andere Herumsitzende informiert: „Sie schreibt eine Kritik!“ Wohlwollendes Nicken, interessierte Blicke: „Darf ich fragen, für welches Medium Sie tätig sind?“
Vor Kurzem war ich in der Premiere von Brechts Leben des Galilei am Schauspielhaus Zürich. Hier lernte ich aufgrund meiner Ausstattung prompt zwei mit Perlen und Brillanten behängte Schweizer Damen kennen, die gleich uf mi einschwäzde duäd. Nach der Pause waren wir so vertraut miteinander, dass sie mir schon winkend zuriefen, sie hätten meinen Platz freigehalten und dafür „kämpfen müssen“. Dann ein weiterer Klassiker: „Exgüsi, dürfen wir erfahren, wie es Ihnen bisher gefallen hat?“ Ich sagte, ich fände es sehr gut. Doch dann nahm die Unterhaltung eine völlig überraschende Wendung.
Ich weiß nicht mehr, wer diese Weisheit geprägt hat, aber es gibt diesen Theaterspruch, dass mindestens die Hälfte der Inszenierung in den Köpfen der Zuschauer stattfindet. Will sagen, bis zu einem gewissen Grad ist es Wurst, was oben auf der Bühne geschieht, denn das Publikum sitzt dort mit seinen ganz eigenen Projektionen, Einbildungen und unverlässlichen Wahrnehmungen, auf die ein Regieteam im Leben nicht kommen würde.
Die beiden Züricher Damen, stellte sich nun heraus, litten auch unter einer lebhaften Fantasie. Was ich denn davon halten würde, fragten sie verschwörerisch, dass der Regisseur und Intendant sich nach der Debatte um das Schauspielhaus hier dermaßen in den Mittelpunkt stelle? Er habe doch auf der Bühne nichts verloren, das fänden sie einfach „übrrzogen“. Ich verstand nicht: War Nicolas Stemann eben in der Pause auf der Bühne gewesen? „Nicht in der Pausä, die ganze Zeit übrr! Na, er spielt doch den Galiläi!“ Sie zeigten auf den Schauspieler Matthias Neukirch, einer der sieben Darstellerinnen und Darsteller des Abends. Ich beteuerte, dass sie sich irrten, das sei nicht Nicolas Stemann. Sie rollten mit den Augen. Ich beharrte weiter. Die beiden beratschlagten sich kurz, wollten noch mal wissen, ob ich „ganz sichrr“ sei und informierten dann die nähere Umgebung davon, dass die „Theaterkritikerin“ behaupte, dass es sich doch nicht um den Intendanten handelt, der da auf der Bühne den Wissenschaftler im Kampf um die Wahrheit spielt.
Wie interessant, dachte ich. Die viel beachtete Debatte um das Schauspielhaus Zürich und seine künstlerische und politische Ausrichtung, die damit endete, dass der Vertrag des Intendantenteams Stemann/von Blomberg 2024 ausläuft, manifestierte sich während der Eröffnungspremiere in der Wahnvorstellung, der Intendant selbst würde die Hauptrolle an sich reißen. Man kann sich anhand dessen ja ungefähr vorstellen, wie so die Gespräche in der Stadtgesellschaft ablaufen müssen. Wer weiß, wäre ich nicht gewesen, hätte es deswegen vielleicht sogar einen Skandal gegeben: „Intendant spielt die Hauptrolle – Chasch nöd de Füfer und sWeggli ha!“ (Schlagen Sie es einfach nach). Aufgeklärt wurde das Ganze aber sowieso beim Applaus, als endlich der echte Nicolas Stemann als Regisseur auf die Bühne kam und die beiden Frauen sich triumphierend zu mir drehten: die beiden sähen sich zum Verwechseln ähnlich! Ja, sagte ich und packte meinen Bleistift ein, schon klar.
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