Interview mit Annie Ernaux: „Wie wurde ich diese Frau?“

Im Gespräch Die französische Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hat gemeinsam mit ihrem Sohn den Film „Die Super-8-Jahre“ gemacht, der auf alten Familienaufnahmen basiert. Er erzählt auch davon, wie sie erkannte, dass sie eine Klassenflüchtige ist
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 01/2023
Annie Ernaux im Film „Die Super-8-Jahre“
Annie Ernaux im Film „Die Super-8-Jahre“

Foto: Film Kino Text

Ein Sofa in einer Privatwohnung im fünften Stock eines Apartmenthauses im Stadtzentrum von Cannes. Annie Ernaux sitzt aufrecht und mit hellwachen Augen da, ihre Stimme ist leise und freundlich, die Antworten präzise und druckreif wie ihre Bücher. Es ist Ende Mai, Monate vor der Bekanntgabe, dass sie den Literaturnobelpreis erhalten wird. Die 82-jährige Schriftstellerin ist in Cannes, um auf dem Filmfestival den Dokumentarfilm Die Super 8-Jahre vorzustellen. Ihr Sohn David Ernaux-Briot hat ihn aus Filmen der Familie montiert, die zwischen 1972 und 1981 auf Reisen nach Chile, Albanien und Moskau entstanden. Annie Ernaux schrieb den Offkommentar dazu, den sie im Film mit ihrer unnachahmlichen Stimme auch spricht.

Sie nutzt die privaten Momentaufnahmen als Ausgangsmaterial für ihre „Archäologie“ des eigenen Lebens, die sie in ihren Büchern wie Erinnerungen eines Mädchens seit Jahren praktiziert und nun auf das Medium Film überträgt. Ein Blick zurück, so dicht und präzise wie ihre anderen Schriften, und eingebettet in einen soziologisch-politischen Kontext der französischen Klassengesellschaft. Seit dem Jahreswechsel ist der Film auch in den deutschen Kinos zu sehen.

der Freitag: Madame Ernaux, noch mehr als in Ihren Büchern erscheinen Sie in Ihrem Film als Beobachterin Ihres eigenen Lebens. Es entsteht der Eindruck, als ob Sie es mehr aus einer gewissen Distanz betrachten und analysieren als es zu leben. Hatten Sie einen ähnlichen Eindruck, als Sie diese alten Aufnahmen wiedersahen?

Annie Ernaux: Auf diese Phase meines Lebens trifft das voll zu. Damals fühlte ich mich als bloße Zuschauerin und war es auch, auf Abstand zu meinem eigenen Leben und mir selbst.

Der Film ist nicht nur ein intimer Blick in Ihre Vergangenheit, sondern auch ein politischer Kommentar. Sie sind in diesen Jahren viel gereist, etwa nach Chile. Inwieweit waren die Umwälzungen dort mit dem Ende der Allende-Ära auch ein Wendepunkt in Ihrem Leben?

Die Reise nach Chile war zuerst für mich persönlich sehr wichtig, weil sie mir meine damalige Situation als „transfuge de classe“, als Klassenflüchtling und soziale Aufsteigerin, offenbarte. Dieser soziologische Begriff von Bourdieu war damals noch nicht geläufig, nichtsdestotrotz wurde mir in diesen Tagen sehr bewusst, dass ich aus einer anderen Klasse stammte. Ich erinnerte mich an meine Vergangenheit und eine Klasse, der ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr angehörte. Als wir durch die Straßen von Santiago de Chile liefen, vor allem durch die Slums, brachte mich das zurück zu meiner eigenen Familie und Herkunft. Auch wenn meine Eltern bereits ein etwas besseres Leben hatten, herrschte um uns herum Armut und damit auch ein Mangel an Bildung und Kultur. Diese Eindrücke in Chile führten mir vor Augen, wie tief der Graben zwischen den einfachen Verhältnissen meiner Kindheit und Jugend und meiner Lage jetzt als erwachsene Frau war, die nach Chile reist und die dortige Armut begutachtet.

Diese Filme sind eine Zeitkapsel, eine Wiederbegegnung mit Ihrem früheren Selbst vor 40, 50 Jahren. Sie waren damals verheiratet, hatten zwei Söhne und arbeiteten als Gymnasiallehrerin. Von ihren Ambitionen als Schriftstellerin ahnte damals noch niemand, Sie schrieben heimlich in freien Stunden. Was haben Sie beim Wiedersehen dieser Aufnahmen über sich selbst gelernt?

Es war nicht so sehr eine Entdeckung als die Bestätigung meiner Entwicklung. Ich hatte diese Aufnahmen bereits zu einem früheren Moment wiedergesehen, etwa eine Dekade nachdem sie entstanden waren, und konnte damals schon mit dem zeitlichen Abstand erkennen, wie ich mich verändert hatte und dass ich nicht mehr die Frau in diesen Filmen war.

Wie haben Sie das Material ausgewählt, wann und wie ist der Text dazu entstanden?

Das waren zwei kreative Prozesse, in die wir uns nicht reinredeten. Mein Sohn wählte und editierte das Filmmaterial, ich schrieb den Text. Dabei war ich völlig autonom, es gab keine Diskussion über die Struktur, die Themen oder die Schwerpunkte, die ich setzte.

In Ihren Büchern wie „Die Jahre“ und „Die Scham“ wird immer wieder deutlich, wie sehr für Sie erst durch das Schreiben Ihr Leben im Rückblick Sinn ergibt und sich Zusammenhänge erschließen. Inwieweit trifft dieser Prozess auch auf das Schreiben des Kommentars zu diesem Film zu?

Für diesen Text stand nicht der Wunsch im Vordergrund, meine eigene Entwicklung zu beschreiben und analysieren. Sie kann nur innerhalb eines bestimmten zeitlichen Kontexts und meines Status als verheiratete Frau und Mutter verstanden werden. Der Kommentar ist eine Art des Schreibens, es beschreibt mehr ein vergangenes Familienleben als meinen eigenen Lebensweg zu erklären.

Sie wurden zum Sprachrohr weiblicher Perspektiven, nicht nur in der Literatur. Über Gleichberechtigung, Menopause und Abtreibung wird mittlerweile offener gesprochener. Sehen Sie heute noch Tabus?

Die gibt es immer noch, auch wenn sie naturgemäß kaum sichtbar sind. Ich halte auch Menopause weiter für ein Thema, über das nicht genug gesprochen wird, und damit verbunden über die Attraktivität älterer Frauen. Wir sind vielleicht in der Lage, intime Dinge besser formulieren zu können, aber es herrschen noch viele Tabus und die Rolle der Frau in der Gesellschaft wird nach wie vor herabgesetzt. Männer dominieren in fast allen Bereichen des öffentlichen und beruflichen Lebens. Auch im Literaturbetrieb geben Männer den Ton an, auf allen Ebenen. Nicht nur bei der Autorenschaft, auch in den Verlagen, in der Kritik. Als Autor wird standardgemäß erstmal ein Mann gesehen.

Wie zeigt sich das konkret?

Das wird so nicht formuliert, würde auch kaum jemand zugeben, aber es wird als scheinbar naturgegebene Grundannahme vorausgesetzt. Ich könnte Ihnen unzählige Anekdoten und erniedrigende Erfahrungen schildern. Nur ein Beispiel: Vor Kurzem ging ich zu einem Physiotherapeuten und er fragte mich nach meiner beruflichen Tätigkeit. Als ich ihm sagte: „Ich bin Schriftstellerin“, meinte er nur: „Oh, wirklich?“. In seinem überraschten Blick war gleich zu erkennen, dass eine schreibende Frau etwas Kurioses ist. Würde ein Mann antworten: „Ich bin Schriftsteller“, wäre es völlig normal.

Was hat Sie ursprünglich zum Schreiben gebracht?

Das Bedürfnis zu schreiben, verspürte ich bereits mit Anfang zwanzig. Mit 22 hatte ich mein erstes Buch vollendet, es blieb aber unveröffentlicht. Jahre später hatte ich dann mein Thema gefunden. Ich hatte die Klasse gewechselt, war sozial aufgestiegen und nun in der Mittelschicht angekommen. Wie aber wurde ich diese Frau, die man auch im Film sieht: eine gut gekleidete Lehrerin in einem wohlsituierten Milieu. Das beschäftigte mich in meinen Büchern und auch der Kommentar und damit der Film spiegeln diesen Wandel.

Mit dieser Art des autofiktionalen Schreibens waren Sie eine Vorreiterin. Der Eindruck in Deutschland ist sogar noch stärker, weil hier Ihr Werk erst seit wenigen Jahren richtig entdeckt und gewürdigt wird. Sie nennen Ihr Schreiben eine ethnologische Beziehung zu sich selbst. Inwieweit war Ihnen bewusst, dass Sie damit Ihrer Zeit voraus sind?

Meine ersten Bücher wurden in den 1980er Jahren in Frankreich durchaus wahrgenommen und hatten Einfluss auf andere Autorinnen und deren Art zu schreiben. Bereits mein erstes Buch Les armoires vides aus dem Jahr 1974 verhandelte den Klassenkampf auf eine bis dahin nicht gekannte Weise und sorgte damit für Aufsehen. Es gab übrigens bereits früh deutschsprachige Übersetzungen, etwa von La place und Une femme.

Sie erschienen 1988 als „Das bessere Leben“ im Verlag Volk und Welt und 1993 mit dem Titel „Das Leben einer Frau“ bei Fischer.

Aber dann schlief das Interesse wieder ein, bis vor etwa fünf Jahren. Manche meiner Bücher werden nun erst 20, 30 Jahre später übersetzt, andere noch gar nicht. Ich habe keine Erklärung dafür. War das Interesse für das Thema Klassengesellschaft in Deutschland weniger ausgeprägt? Liegt es daran, dass ich eine Frau bin?

Annie Ernaux, geboren 1940 in Lillebonne/ Normandie, wuchs in einem Arbeiterklassehaushalt auf. Nach einem Au-Pair-Aufenthalt in London studierte sie Literaturwissenschaften in Rouen, promovierte 1971. Sie war Lehrerin und Hochschuldozentin, seit 2000 ist sie ausschließlich Autorin. 2022 erhielt sie den Literaturnobelpreis

Wie viele Mittelschichtsfamilien dieser Zeit haben Sie Ereignisse und Reisen, aber auch den Alltag mit einer Super-8-Kamera festgehalten. Welche Rolle spielte das Kino damals in Ihrem Leben?

Keine große, um ehrlich zu sein. Zwischen meinen Kindern und dem Unterricht als Lehrerin war schlicht kaum Zeit. Und die wenigen Momente, die ich für mich hatte, wollte ich zum Schreiben nutzen. Aber davor, in den 1960er Jahren, hatten Filme einen großen Einfluss auf mich. Italienische Regisseure wie Antonioni und Pasolini, auch die Nouvelle Vague, vor allem Agnès Varda. Zugleich entdeckte ich den Nouveau Roman, Autor*innen wie Nathalie Sarraute und Alain Robbes-Grillet. All das beeinflusste mich darin, meine eigene Form des Schreibens zu finden, freier zu sein.

Die Familienreisen führten Sie auch an eher untypische Urlaubsziele wie Albanien und Moskau, wo Sie meistens unter Beobachtung standen. Nach Spanien fuhren Sie dagegen erst nach Francos Tod, er war 1975 gestorben. Wie kamen diese Reiseziele zustande? Und wie viel hatte politisches Interesse damit zu tun?

Wir hatten den Grundsatz, in kein Land zu reisen, das von einem rechten Diktator wie Franco regiert wird. Wir wollten ein solches Regime nicht mit unseren Devisen unterstützen. Ich war 1962 mit einer Freundin nach Spanien gereist und völlig schockiert von dem Kult, der um Franco herrschte und wie die Leute ihn verehrten. Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der versuchte, mit mir zu flirten und dabei Francos Politik bis ins Detail verteidigte. Ich war so abgestoßen, dass die Vorstellung, vor Francos Tod noch einmal nach Spanien zu reisen, außer Frage stand.

Apropos Kino: Die Französin Audrey Diwan gewann 2021 den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig mit der Adaption Ihres Buches „Das Ereignis“, das von der illegalen Abtreibung erzählt, die sie als junge Studentin in den frühen 1960ern vornahmen. Empfanden Sie das auch als persönlichen Erfolg?

So denke ich nicht. Für mich war es vor allem eine große Genugtuung, dass mein Text, im Jahr 2000 erstmals erschienen, noch einmal so große Aufmerksamkeit bekommt. Der Film und die Auszeichnung hatten ganz konkrete Folgen: Sie brachten neuen Schwung in die Debatte um die Freiheit reproduktiver Rechte, zu einer Zeit, als auch in westlichen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten von Amerika der konservative Obskurantismus die Oberhand gewinnt und für herbe Rückschritte sorgt.

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Geschrieben von

Thomas Abeltshauser

Freier Autor und Filmjournalist

Thomas Abeltshauser

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