Kino Trotz aller Lippenbekenntnisse für mehr Regisseurinnen und #MeToo liebt das Festival in Cannes seine Altmeister. Ein Streifzug durch die erste Woche dieser aufgeladenen Festspiele
Auf der Leinwand hantiert Demi Moore mit Spritzen und Kanülen, beim Fototermin von „The Substance“ drückt sie Hund Pilaf
Foto: Christophe Simon/Getty Images
Auch in Cannes ändern sich die Zeiten. Noch vor wenigen Jahren herrschte beim Filmfest auf dem roten Teppich High-Heels-Zwang. Frauen waren vor allem als Schauspielerinnen präsent, Regisseurinnen Mangelware. Inzwischen sind flachere Schuhe akzeptiert, die Anzahl der Filme von Frauen etwas größer, wenn auch weit von Parität entfernt. Doch etwas hat sich auffallend getan in diesem Jahr, durch alle Sektionen der 77. Filmfestspiele von Cannes: Die Frauen sind wütend. Sehr, sehr wütend. Und sie lassen ihrer Rage freien Lauf.
Da ist natürlich George Millers dystopisches Wüstenspektakel Furiosa: A Mad Max Saga, das die Vorgeschichte der todesmutigen Furiosa und ihren Rachefeldzug erzählt und das Festival als große Plattform für den weltwe
für den weltweiten Kinostart diese Woche nutzte. Als einer der Publikumslieblinge des Festivals entpuppte sich bisher The Substance, der mit Splatter, Körperhorror und Kritik am Jugendwahn aufwartete. Darin spielt Demi Moore eine Aerobic-TV-Ikone, die mit 50 Jahren durch eine Jüngere ersetzt werden soll. Mithilfe eines ausgetüftelten Spritzen-und-Kanülen-Sets klont sie sich ein frisches Alter Ego, das ihren eigenen Alterungsprozess potenziert. Das setzt einen pervertierten Prozess der Selbstoptimierung in Gang, bis der aufgezwungene Selbsthass in einem kollektiven Blutbad endet. Eine Art popfeministische Dorian-Gray-Variation, mit deren Genre-Exzess die Französin Coralie Fargeat sogar noch den Goldene-Palme-Gewinnerfilm Titane ihrer Kollegin Julia Ducourneau von 2021 überbietet, aber in ihrer Kritik nicht nur merkwürdig hohl bleibt, sondern auch den Voyeurismus und Sexismus bedient, den der Film anzuklagen vorgibt. Das vorrangig männliche Gelächter im Kinosaal sprach für sich.Cate Blanchett ist Kanzlerin HildaNoémie Merlants Les femmes au balcon beginnt als quietschbunte Komödie dreier Freundinnen an einem heißen Sommertag in Marseille, die einen Flirt mit dem sexy Nachbarn von gegenüber beginnen. Eine feuchtfröhliche Party in seiner Wohnung endet für ihn tödlich, und der Film wechselt den Tonfall, wird zur Auseinandersetzung mit toxischer Männlichkeit und weiblicher Rachefantasie. Und dann ist da noch die schwarze Komödie Sister Midnight des indisch-britischen Debütregisseurs Karan Kandhari, in der sich eine junge Braut nach der arrangierten Hochzeit in eine blutdürstige Kreatur verwandelt.Die im Vorfeld angekündigten Proteste der #MeToo-Aktivist*innen dagegen fanden sich eher auf Plakaten in der Stadt wieder denn auf dem roten Teppich. Die Festivalleitung hatte vorgesorgt und in letzter Minute den Kurzfilm Moi aussi ins Programm gehievt. Darin versammelt die Schauspielerin und Aktivistin Judith Godrèche Hunderte Opfer sexualisierter Gewalt vor der Kamera, gemeinsam stehen sie auf einer Straße in Paris, halten sich mit beiden Händen den Mund zu, während auf der Tonspur die Missbräuche in knappen Worten benannt werden und dazu eine junge Frau im weißen Sommerkleid expressiv durch die Menge tanzt. Wo war da nur der Mut zur Wut? Sind Ausdruckstanz und eine choreografierte Geste des Schweigens wirklich adäquate Mittel für die erfahrenen Traumata? Das Publikum im Saal blieb einigermaßen ratlos zurück.In der Satire Rumours über einen G7-Gipfel im fiktiven deutschen Dankerode treiben nicht Zorn und Unmut gleich drei Politikerinnen um, sondern eher eine permanente Überforderung. Gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen leiern sie sich für ein offizielles Joint Statement hohle Phrasen aus den Rippen, verstricken sich amourös und müssen sich bald mit untoten Moorleichen herumschlagen. Trotz weiter steigender Absurdität und Cate Blanchett als deutscher Kanzlerin Hilda, die eher an Ursula von der Leyen angelehnt ist als an Angela Merkel, ein Klamauk, der sich schnell totgelaufen hat.Studie eines Psychopathen oder Wahlkampfvideo für Trump-AnhängerUnd wo es um reale Politiker ging? Mit dem Spielfilm The Apprentice zeichnet der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi (Holy Spider) den Aufstieg Donald Trumps in den 1980er Jahren vom jungen Ehrgeizling zu New Yorks Immobilienmogul nach und konzentriert sich dabei auf die Ehe mit Trumps erster Frau Ivana, das Verhältnis zu seinem Leistung fordernden Vater und zum zynischen Anwalt und Nixon-Freund Roy Cohn, der den jungen Trump unter seine Fittiche nimmt und ihn Gier und Skrupellosigkeit lehrt, bis er selbst Opfer seiner Kreation wird. Sebastian Stan spielt Trump deutlich erkennbar bis hin zu kleinen Ticks, aber nicht als Karikatur. Doch so unsympathisch er erscheint, wenn er in seinem Machtwillen und Deals-Machen über Leichen geht, funktioniert der Film je nach politischer Haltung des Betrachtenden als Studie eines Psychopathen ebenso gut wie als Wahlkampfvideo für Trump-Anhänger.Sehr viel deutlicher parteiisch ist das Porträt eines anderen amtierenden Präsidenten, Oliver Stones Lula über den brasilianischen Politiker Luiz Inácio „Lula“ da Silva und dessen Wiederwahl nach dem Geldwäsche-Skandal um die Operation Lava Jato, bei dem er, wegen passiver Korruption verurteilt, 19 Monate im Gefängnis verbrachte. Stone und sein Co-Regisseur Rob Wilson fokussieren sich in ihrer Hagiografie auf Lulas Herkunft aus der Arbeiterklasse, seine sozialen Errungenschaften und klagen die Vereinigten Staaten und die etablierten Medien Brasiliens als Strippenzieher einer politischen Kampagne an. In Stones ausführlichem Interview erfährt man von Lula selbst erstaunlich wenig Neues, was vor allem an Stones zustimmender Art der Gesprächsführung liegt, da er keine kritischen Fragen stellt und so keine Reibung entsteht. Bei der Premiere gab es dennoch stehende Ovationen, die zahlreichen brasilianischen Gäste im Publikum stimmten spontan „Olé, olé, olá! Lula, Lula!“-Gesänge an.Der Kambodschaner Rithy Panh adaptiert mit Rendez-vous avec Pol Pot den Erfahrungsbericht der Journalistin Elizabeth Becker, die 1978 mit zwei Kollegen nach Kambodscha reiste, um den Führer der Roten Khmer, Pol Pot, zu interviewen. Panh vermengt dabei Spielszenen mit Archivmaterial und Tonpuppensets zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit den politischen Traumata seiner Heimat und den teils naiven Perspektiven westlicher Linker. Am Ende kommt es tatsächlich zur Audienz, die Panh mit seinen Darstellern nachstellt, wobei er konsequent nicht das Gesicht des Diktators zeigt. Auch Sergei Loznitsa will in seinem Dokumentarfilm The Invasion über den russischen Überfall auf seine ukrainische Heimat dem Feind kein Forum bieten, konzentriert sich ganz auf Leben und Alltag in der Ukraine, Trauerfeiern für gefallene Soldaten, Hochzeiten, verzichtet auf jeden Off-Kommentar.Trotz aller Lippenbekenntnisse für Regisseurinnen lieben das Festival und dessen künstlerischer Leiter Thierry Frémaux ihre männlichen Altmeister. Paul Schrader war mit der Romanadaption Oh, Canada über die Lebensbeichte eines Dokumentarfilmers eingeladen, Kevin Costner mit dem Western Horizon, George Lucas erhielt eine Ehrenpalme fürs Lebenswerk. Als aufgeblasener Egotrip entpuppte sich Francis Ford Coppolas selbst finanziertes Megalopolis, an dem der Apocalypse-Now-Regisseur seit 40 Jahren arbeitete. Darin erklärt er New York zum neuen Rom und schickt Adam Driver als Universalgenie und Stadtplaner in einen visionären Bewusstseinsstrom durch Raum und Zeit, erzählerische Stringenz bleibt beim Blick aufs große Ganze vernachlässigbar.Emma Stone, Willem Dafoe, Jesse Plemons geben sich alle MüheMit Spannung erwartet worden war der neue Film von Giorgos Lanthimos, nach dem Venedig-Gewinn und Oscar-Erfolg mit Poor Things. Kinds of Kindness entstand in wenigen Wochen mit einem Großteil des Poor-Things-Teams und nach einem Skript seines langjährigen Drehbuchautors Efthimis Filippou ein Triptychon, das den absurd-garstigen Tonfall seiner frühen griechischen Filme einfängt, ohne an deren trockenen Witz heranzureichen. Emma Stone, Willem Dafoe, Jesse Plemons und andere geben sich in wechselnden Rollen alle Mühe, den drei Geschichten so etwas wie Sinn einzuhauchen.Am Freitag steht mit Mohammad Rasoulofs The Seed of the Sacred Fig noch ein aussichtsreicher Kandidat für die Preisverleihung an. Der iranische Regisseur, der 2020 für Doch das Böse gibt es nicht den Goldenen Bären der Berlinale erhalten hatte, war Anfang Mai zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben verurteilt worden. Vergangene Woche gelang ihm die Flucht aus seiner Heimat, er könnte eine Auszeichnung am Samstagabend nun womöglich sogar selbst entgegennehmen. Es wäre ein tröstliches Happy End dieser aufgeladenen Festspiele.Placeholder infobox-1
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