Im Jahr der Frauen

Filmfestival Die „Mostra“ in Venedig wagt mehr Parität – ihr Programm gibt widersprüchlichen weiblichen Figuren Raum
Ausgabe 37/2021

Vergangenen Samstag ging das älteste Filmfest der Welt zu Ende, die vor 89 Jahren gegründete Mostra in Venedig. Einmal mehr erwies sie sich als hervorragender Seismograf gesellschaftlicher Mentalitäten und ihres Wandels. Zum einen trotzte das Festival der Pandemie, indem es mit einem weitsichtigen Sicherheitskonzept dafür sorgte, dass sich die Filmwelt vor Ort begegnen konnte, statt virtuell und vereinzelt auf heimischen Bildschirmen zu sichten. Alles andere als Tod in Venedig, vielmehr eine Wiedergeburt des Kinos am Ende eines sich langsam öffnenden Kultursommers.

Hollywoodstars kamen gleich dutzendfach: für die SciFi-Oper Dune, für Ridley Scotts Ritter-Triptychon The Last Duel oder fürs Halloween-Slasher-Sequel. Der eigentliche Umbruch war zunächst weniger sichtbar, dabei eklatanter und, hoffentlich, weitreichender. Das 78. Filmfestival von Venedig war, ohne Zweifel, das Jahr der Frauen. Immerhin fünf Regisseurinnen (neben 19 Regisseuren) waren im Wettbewerb um die Löwen vertreten, auch die Nebensektionen zeigten viele Werke von Filmemacherinnen. Oft waren es Mütter, die im Fokus der Geschichten standen, weder als Heilige noch als Monster, sondern widersprüchliche, komplexe Frauenfiguren, die Facetten zeigten, die männlichen Protagonisten stets wie selbstverständlich zugestanden werden. Von paritätischer Gleichberechtigung kann zwar noch keine Rede sein; das Missverhältnis auf Produktionsebene auszugleichen, das gelingt auch dem bestkuratiertesten Festival kaum.

Der große Gewinner: Netflix

Immerhin wurde die Jury dieses Jahr mit weiblicher Mehrheit zusammengesetzt. Unter Vorsitz von Präsident Bong Joon-ho (Parasite) urteilten neben zwei männlichen Kollegen vier Frauen, darunter die letztjährige Löwen-Gewinnerin Chloé Zhao (Nomadland) über den Wettbewerb. Und tatsächlich ging diesmal am Ende mehr als nur ein Preis an eine Frau: Den Goldenen Löwen erhielt die französische Regisseurin Audrey Diwan für L’Évènement, eine Adaption des zufällig diese Woche in deutscher Übersetzung erscheinenden Romans von Annie Ernaux, Das Ereignis. Die Schriftstellerin beschreibt darin, wie sie in den 1960er-Jahren als 23-Jährige versucht, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, was damals illegal war. Diwan findet für Ernauxs klare und unsentimentale Schilderung eine adäquat unprätentiöse Bildsprache und Inszenierung, die gerade dadurch ihre Wucht entwickelt, dass sie immer ganz nah an ihrer Protagonistin bleibt.

Weitere Preise gingen an Maggie Gyllenhaal für ihr Drehbuch zur Elena-Ferrante-Adaption The Lost Daughter, die kluge Auseinandersetzung über eine Akademikerin (Olivia Colman) zwischen beruflicher Selbstverwirklichung und Muttersein, sowie an Jane Campion, die 1993 mit The Piano als erste Frau die Goldene Palme von Cannes erhielt und nun mit dem Spätwestern The Power of The Dog eine an der toxischen Männlichkeit ihrer Umgebung leidende Mutter (Kirsten Dunst) in den Fokus rückt. Als beste Darstellerin wurde Penélope Cruz für den vom spanischen „Frauenregisseur“ Pedro Almodóvar inszenierten Film Madres paralelas ausgezeichnet.

Neben der längst überfälligen Würdigung weiblicher Perspektiven und einer Vielfalt filmischer Stimmen war ein Trend auf anderer Ebene nicht zu übersehen. Der große Gewinner des Festivals heißt Netflix: Der Streamingdienst steckt hinter dreien der Hauptpreisträger. Neben den Filmen von Campion und Gyllenhaal produzierte der Konzern auch den neuen Film des Italieners Paolo Sorrentino (Die große Schönheit), der mit The Hand of God seine eigene Kindheit im Neapel der 80er-Jahre reflektiert und dabei mit überbordender Bilderflut und skurrilem Personal ganz unverhohlen auf sein großes Vorbild Fellini verweist. Dafür wurde er mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, sein junges Alter ego im Film, Filippo Scotti, erhielt den Preis als bester Nachwuchsdarsteller.

Osteuropa geht leer aus

Es war ein starker Jahrgang, mit lediglich raren Ausreißern nach unten. Etliche formal herausragende Beiträge mussten notgedrungen leer ausgehen, darunter der wild-feministische Genreritt Mona Lisa and the Blood Moon der US-Iranerin Ana Lily Amirpour über eine Psychopathin mit Superkräften, die sich in der brodelnden Halbwelt von New Orleans durchschlägt, oder die ukrainische Folterstudie Reflection von Walentyn Wassjanowytsch mit ihren streng komponierten Tableaus menschlicher Gräuel. Wie überhaupt das osteuropäische Kino am Ende preislos blieb. Doch Filme wie Captain Volkonogov Escaped, die postmoderne Odyssee eines Stalin-Schergen auf der Suche nach Vergebung, und vor allem das polnische Politdrama Leave No Traces über einen realen Polizeiskandal in den frühen 1980er-Jahren haben auch so gute Chancen, ihren Weg in die deutschen Kinos zu finden.

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Geschrieben von

Thomas Abeltshauser

Freier Autor und Filmjournalist

Thomas Abeltshauser

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