Das Versagen der Politik

Rückblick Die Flüchtlingskrise und mit ihr das Erstarken der Faschisten in Europa geht auf das Konto des politischen Establishments.

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Das Versagen der Politik

Foto: EMMANUEL DUNAND/AFP/Getty Images

Insbesondere Deutschland hat sich über viele Jahre einer gerechten und gleichmäßigen Verteilung von Flüchtlingen in den Weg gestellt. Heute kassiert das Kabinett um Merkel die Quittung. Aber nicht nur das: Der Aufschwung der Ausländerhasser ist darüber hinaus auch Folge einer europaweit verfehlten Sozialpolitik. Flankiert wird dieses desaströse Politik-Management durch eine höchst inkonsistente nationale Flüchtlingspolitik, die von einem massiven Vollzugsdefizit gekennzeichnet ist. In der Krise rächt sich im Übrigen auch die voreilige EU-Osterweiterung, die Staaten in die europäische Union befördert hat, die sich heute nicht nur einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise in den Weg stellen, sondern ganz nebenbei auch noch demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze in Frage stellen. Dabei vergisst man schon mal schnell, dass die Ursachen der ganzen Krise – Krieg in Syrien und Afghanistan und wirtschaftliche Not in den Maghreb-Staaten – mit auf das Konto der westlichen Welt geht.

Zwischen Krise, medialer Hysterie und Weltuntergangsstimmung

Die Flüchtlingskrise, so wie sie hier bezeichnet wird, kann mit Blick auf die vielen Menschen (derzeit haben mehr als 1,3 Mio. Menschen einen Antrag auf Asyl gestellt, Link), die ihre Heimat verlassen und auch in diesem Moment an den Grenzen Osteuropas festsitzen, durchaus als humanitäre Tragödie bezeichnet werden. In Zeiten, in denen die Öffentlichkeit abseits dieser Krise aber scheinbar gar kein anderes Thema mehr zu kennen glaubt, ist eine realistische Einschätzung der Ausmaße dieser Krise umso wichtiger. Vergegenwärtigen sollte man sich schließlich, um die Relationen mal richtig greifen zu können, dass diese Masse von Flüchtlingen in eine politische Union mit einer Einwohnerzahl von mehr als 500 Mio. Menschen strömt. Die Flüchtlingskrise dürfte mittlerweile nicht nur was mit den Flüchtlingen zu tun haben. Viel mehr befinden wir uns mit Blick etwa auf das gute Abschneiden der AfD in den letzten Landtagswahlen in einer politisch-gesellschaftlichen Krise, die in erster Linie durch die Reaktion der Bevölkerung auf die Flüchtlingsströme geprägt wird. Insoweit erscheint die mediale Hysterie, die freilich längst auch in Teilen der Bevölkerung angekommen ist, als übertrieben. Hierzu der holländische Soziologe Hein de Haas: „A general sense of panic is dominating media coverage of what has come to know as Europe's 'refugee crisis'. It conveys the image of a massive exodus going on from the Middle East and Africa to Europe, with European countries struggling to control borders in order to prevent an invasion from happening. To be sure, we are dealing with a grave humanitarian tragedy, that needs urgent addressing. Yet the idea that we are facing a biblical, uncontrollable exodus is sheer nonsense."

Soziale Gerechtigkeit und Ausländerhass

Freilich: Hass auf Ausländer ist durch nichts zu rechtfertigen. Niedrige Renten, fehlende gesellschaftliche Anerkennung und Perspektivlosigkeit sind keine Entschuldigung für die Wahl einer Partei, die sich durch Fremdenhass und Rassismus auszeichnet. Niemand aber wird den Zusammenhang zwischen verfehlter Sozialpolitik und rassistischer Ressentiments bestreiten. Armut – auch relative Armut – bildet den Nährboden der Ausländerhasser (instruktiv hier). Insoweit haben Deutschland und Europa schon vor diesem Hintergrund das Widererstarken der Faschisten mit zu verantworten. Sie nämlich haben es in den letzten Jahrzehnten versäumt, das rasante Auseinanderdriften der wohlhabenden und ärmeren Schichten aufzuhalten. Dotcom-Blase, Terrorismus, Immobilien-Blase, Finanzmarktkrise, Eurokrise – all das war wichtiger als das wirkliche Jahrhundertproblem, das Problem der massiv wachsenden sozioökonomischen Ungleichheit. Dabei bietet der Zusammenschluss europäischer Staaten so viele Möglichkeiten, grenzüberschreitende Steuer- und Lohngerechtigkeit herzustellen. Statt auf ein soziales Europa setzte man jedoch lieber auf ein neoliberales Europa, in der nicht das Soziale im Vordergrund steht, sondern ein Wachstum, der zunächst nur das Auseinanderdriften der Schere zwischen den sozialen Milieus noch zusätzlich befeuerte.

Die 180 Grad-Wende Deutschlands in der europäischen Flüchtlingskrise

Selbst in progressiven Kreisen wird Merkel heute für ihr Ansinnen gefeiert, eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise finden zu wollen. „Ja, wir schaffen das" blieb zwar bis heute ohne Programm, aber unabhängig davon kann Merkels Haltung mit Blick auf die letzten Jahre nur für Verwunderung sorgen. Sehr aufschlussreich ist in dem Zusammenhang die Lektüre von alten Zeitungsberichten. Vor einigen Jahren, noch lange vor der immensen Flüchtlingsströme infolge des Syrien-Konflikts, fanden sich in der Presse immer mal wieder Berichte aus und über Lampedusa. Dort hieß es regelmäßig: Auch heute sind wieder unfassbar viele Leute über den Seeweg auf diese für diese Menschen viel zu kleine italienische Insel gekommen, auf der eine adäquate Unterbringung der Menschen nicht möglich zu sein scheint. Die italienische Regierung jammert über die hohen Zahlen der Flüchtlinge und darüber, dass sie alleine und niemand sonst über die Unterbringung der Flüchtlinge und der jeweiligen Asylbewerberverfahren aufkommen müssten. Soweit, so richtig – Dank Dublin III (wie auch schon die Vorgänger-Abkommen) sind es in der Tat die Erstankunftsländer, die für diese – durchaus auch kostspieligen – Dinge zuständig sind. Und meistens am Ende eines jeden Artikels wurde die Forderung der italienischen Regierung aufgegriffen: Setzt Dublin III ein Ende und verteilt die Flüchtlinge endlich gerecht an alle EU-Mitglieder. Jawohl! Allerdings nicht mit der deutschen Regierung um Merkel; im Übrigen auch nicht mit der EU. Richtig gelesen: Schon Jahre vor der Flüchtlingskrise wurde in Europa diskutiert, ob es eine gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge an alle EU-Mitgliedsstaaten anhand eines entsprechenden Schlüssels geben soll. Und ja: Deutschland war stets dagegen. Warum wohl? Na, Dank Dublin III hatte Deutschland – rein rechtlich gesehen – nie zu befürchten, mit derart massiven Flüchtlingsströmen konfrontiert zu werden. Wie soll man schließlich über den Landweg nach Deutschland kommen, ohne vorher ein anderes EU-Land betreten zu müssen? Wenn man mal eine Sekunde über die damalige Haltung der deutschen Regierung nachdenkt, dann wird einem klar, dass die anderen EU-Staaten heute das gleiche Spiel spielen; nur andersherum. Für Deutschland war Dublin III sehr bequem, so dachte man zumindest. Das Blatt hat sich gedreht. Deutschland ist heute das Zielland Nummer eins. Ost- und Südosteuropa werden als reine Durchgangsstationen gesehen und Dublin III ist mehr oder weniger suspendiert (dazu sogleich). Jetzt ist es die deutsche Regierung (und wohl auch ein Großteil der Bevölkerung), die nach einer gleichmäßigen Verteilung der Flüchtlinge ruft und jammert. Die Verbündeten Deutschlands in dieser Frage lassen sich jedoch an einer Hand abzählen. Alle wissen, die Flüchtlinge wollen nach Deutschland. Hier wird klar: Die Flüchtlingskrise ist zumindest in den Augen der meisten EU-Mitglieder primär ein deutsches Problem. Kein Flüchtling will nach Polen oder Ungarn. Deutschland, vielleicht noch Schweden und England – das das sind Ziele. Die damalige ablehnende Haltung der deutschen Regierung in Sachen Flüchtlingsverteilung kommt heute wie ein Boomerang zurück. Und nicht nur das: Die Forderung Deutschlands verliert vor diesem Hintergrund gleichsam jede Authentizität.

Dublin III also – Problem gelöst. Könnte man denken. Mit Artikel 16a GG hat man in Deutschland schließlich gleich auch ins Grundgesetz geschrieben, dass das Recht auf Asyl dann nicht gilt, wenn Asylbewerber aus einem so genannten sicheren Herkunftsland einreisen. Mangels Verteilungsregelungen wäre Deutschland rein rechtlich gesehen somit raus aus der Flüchtlingsfrage. Doch aus irgendeinem Grund wird diese Rechtslage von der Politik und Verwaltung nicht so richtig ernst genommen. Denn schon zu Lampedusa-Zeiten hat Deutschland europaweit mit am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Das lag und liegt an einem ernormen Vollzugsdefizit. Mit Vollzugsdefizit bezeichnet man das Phänomen, dass Recht und Gesetz faktisch nicht vollzogen wird (ein Problem, welches man ansonsten vor allem auch im Arbeitsrecht beobachten kann). Wie kommt das? Zum einen geben in Deutschland aufgeschlagene Flüchtlinge – verständlicherweise – oft nicht an, aus welchem sicheren Herkunftsland sie nach Deutschland eingereist sind. Ohne Kenntnis dieser Tatsache kann Deutschland auch die „Sichere-Herkunftsstaaten-Regelung" nicht fruchtbar machen. Zum anderen verzichtet Deutschland aus humanitären Gründen – zu Recht und durch den EuGH zum Teil auch erzwungen – immer häufiger darauf, diese Regelung anzuwenden. Diese letztlich inkonsistente Handhabung legt die schlechte Organisation und damit gleichsam das politische Versagen in Gänze offen. Die Regelungen sind – mit Blick auf fehlende europarechtliche Vereinbarungen über die Verteilung von Flüchtlingen – nicht nur extrem lückenhaft, sie werden auch noch in weitgehend willkürlicher Art und Weise angewendet. Es ist schwer zu ersinnen, was sich die politischen Gestalter von Dublin III genau vorgestellt haben. Jedenfalls scheint man das Szenario immens wachsender Flüchtlingsströme völlig ausgeblendet zu haben. Darunter leiden genau in diesem Moment zehntausende Flüchtlinge, die an osteuropäischen Grenzen verweilen, die nur deshalb geschlossen sind, weil das gesamte europäische und deutsche Flüchtlingsregelungswerk nicht geeignet ist, diese Flüchtlingsströmen zu bewerkstelligen.

Osteuropa auf Abschiedstour von den europäischen Werten

Schon anhand der Landtagswahlen in Ostdeutschland lässt sich ablesen, dass die Fremdenfeindlichkeit, zumindest aber die Xenophonie und gleichsam die Verbitterung ein Phänomen ist, welches in Richtung Osten gehäuft zu beobachten ist. Insoweit kann es kaum verwundern, dass die osteuropäischen Staaten, allen voran Ungarn und Polen, mit am wenigsten Interesse an einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise zeigen. Ähnliches gilt für Estland und Lettland. Immerhin in Litauen und Kroatien scheinen die Probleme eher Folge einer schlecht organisierten Politik als einer grundsätzlich-ideologischen Ablehnung der Flüchtlinge zu sein.

In den meisten dieser Staaten, in abgeschwächter Form gilt das mit Sicherheit auch für westeuropäische Länder wie Frankreich, will man schlicht keine Flüchtlinge in Europa. Ganz egal, warum diese Leute fliehen. Ganz egal, ob in deren Heimat Krieg herrscht oder die Leute reihenweise an Unter- oder Mangelernährung leiden. Das sich ein Teil dieser Staaten auch ansonsten von den Werten und Grundsätzen der Europäischen Union verabschiedet hat, ist auch anhand der polnischen Verfassungskrise zu erkennen. Die polnische Regierung will gar ein neues Urteil des polnischen Verfassungsgerichts schlicht nicht im Amtsblatt veröffentlichen, um es nicht in Rechtskraft erwachsen zu lassen. Das heute mitunter von Orban autoritär regierte Ungarn schafft derweil die Pressefreiheit ab und nimmt es auch sonst mit den Menschenrechten nicht ganz so genau. Anders gesagt: Die Werte der europäischen Union sind in Gefahr. Und das politische System der EU war nicht nur auf nicht auf Flüchtlingsströme vorbereitet, auch der Umgang mit Staaten, die jene europäische Werte und Grundsätze ablegen, wurde nicht bedacht. Die stumpfen Schwerter (etwa: Vertragsverletzungsverfahren) der europäischen Organe sind jedenfalls nicht geeignet, die Orbans Europas in die Schranken zu weisen. Ganz im Gegenteil. Das in Europa insbesondere im Hinblick auf Grenzpolitik geltende Einstimmigkeitsprinzip hat zur Folge, dass ohne diese Staaten ein gestaltendes Europa zur Utopie verkommt. Die rosa-rote „Wir-können-neue-Märkte-erschließen"-Brille der EU hat Staaten und Gesellschaften in eine Wertegemeinschaft aufgenommen, die – zumindest in großen Teilen – jene europäische Werte (noch) gar nicht teilen, sondern – so ist zu vermuten – vor allem europäische Entwicklungsgelder im Sinn hatten. Gewiss, auch diese Länder lassen sich nicht über einen Kamm scheren wie schon die großen demokratischen Demonstrationszüge in Warschau zeigen. Angesichts der politischen Lage in weiten Teilen Osteuropas kann man dem Befund jedoch kaum entgehen, dass die europäische Union einen großen Konstruktionsfehler aufweist. Der Höhepunkt wäre erreicht, würde Europa der Erpressung Erdogans, diese (!) Türkei in die EU aufzunehmen, nachkommen.

Fluchtursachen

Bei all den Ungereimtheiten vergisst man schnell, über die wahren Ursachen von Flucht nachzudenken. In Kürze: Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Irak dürften im Wesentlichen der Koalition der Willigen zuzurechnen sein. ISIS ist nichts anderes als die Folge einer verfehlten transatlantischen Außenpolitik. Dabei bleibt es nicht. Ein nicht unerheblicher Teil der Geflüchteten ist angetrieben von einer Flucht vor Armut. In welchem Maße die entsprechenden Zustände insbesondere in Afrika der europäischen oder amerikanischen Politik zuzurechnen sind, ist schwierig zu sagen. Die Flucht aus den Maghreb-Staaten dürfte vor allem noch Folge der auf den arabischen Frühling zurückgehende politischen Instabilität sein. Einigermaßen sicher ist indessen, dass weder der den Afrikanern aufgezwungene Freihandel noch die massiven Exporte von Landwirtschaftsgütern – ebenso wie die Subventionierung europäischer Bauern – eine strukturelle Lösung in Afrika in absehbarer Zeit zulassen.

Resümee

Ein anhaltendes kollektives Versagen der politischen Elite ist Ursache für zweistellige Ergebnisse der AfD. Sie ist auch Ursache für Flüchtlinge, die an osteuropäischen Grenzen aufgehalten werden. Europäische Lösungen sind trotz aller Bemühungen Merkels nicht in Sicht. All das belegt die Mängel in der Konstruktion der europäischen Union, die sie der Fixierung auf Marktfreiheiten zu verdanken hat. Die Zeiten sind angespannt. Die zentrale Angst vieler, dass die europäischen Solidargemeinschaften durch entsprechend hohe Flüchtlingszahlen zulasten der bisherigen Mitglieder dieser Gemeinschaften in Bedrängnis gebracht werden, wird kaum diskutiert. Dabei wäre eine Auseinandersetzung hiermit notwendig, um der aktuellen Situation möglichst rational – aber auch mit Blick auf Schicksale der Geflüchteten – begegnen zu können. Dazu gehört auch ein Diskurs über die Frage, wie Integration gelingen kann. Zentral wäre etwa die Errichtung von Bildungseinrichtungen, die Flüchtlingen ermöglicht, die deutsche Sprache zu lernen und – nicht weniger wichtig – Berufsabschlüsse zu erwerben oder bereits vorhandene Qualifikationen in Deutschland anerkennen zu lassen. Dann hätte „Ja wir schaffen das" endlich auch ein Programm – und damit auch Aussicht auf Erfolg.

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