Seit einem Jahr leistet die Ukraine Widerstand gegen einen Aggressor, der ihr an militärischer Feuerkraft, wirtschaftlicher Stärke und Truppenzahl weit überlegen ist. Nachdem sich die Ukrainer von ihrem anfänglichen Schock erholt hatten, waren sie imstande, einige der von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern und der russischen Armee eine Reihe erheblicher Niederlagen zuzufügen. Die Stärke ihres Widerstands überraschte nicht nur den Angreifer, sondern die ganze Welt – und sogar die Ukrainer selbst. Die Ukraine, die über ein Jahrzehnt lang als gescheiterter Staat galt und in der laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup aus dem Jahr 2019 nur neun Prozent der Bürger staatlichen Institutionen vertrauten, erwies sich
Widerstand in der Ukraine: Wie schaffen die das?
Verteidigung 365 Tage ist es her, dass Russland die Ukraine überfiel. Als die russischen Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, glaubten viele, sie hielte nicht lange stand. Aber es kam anders – ein Erklärungsversuch

Freiwillige Helfer:innen in Dnipro in der Ukraine
Foto: Spencer Platt/Getty images
ch als weitaus stärker und widerstandsfähiger als erwartet.Warum aber ist die Ukraine in der Lage, so lange schon durchhalten? Natürlich hat die kollektive Unterstützung des Westens – inzwischen mehr als fünfzig Länder, allen voran die USA und die EU – eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Sie haben der Ukraine eine nie dagewesene militärisch-technische, finanzielle, materielle und politische Unterstützung gewährt. Die Hilfen der USA, der EU und des Vereinigten Königreichs für die Jahre 2022 und 2023 werden sich insgesamt auf rund 100 Milliarden Euro belaufen.2004 und der EuromaidanAber natürlich wäre die Unterstützung von außen ohne den beharrlichen Widerstand und die Selbstlosigkeit der Ukrainer wirkungslos gewesen. Und hier gibt es neben der Tatsache, dass die Ukraine seit 2014 in der Lage gewesen ist, eine kampffähige Armee aufzubauen, Faktoren, die weder Russland noch die Verbündeten der Ukraine auf dem Schirm hatten.Erstens: Trotz aller Mängel des ukrainischen Staates, die offen zutage liegen, sei es die Korruption, die dysfunktionale Bürokratie oder das mangelhafte Justizsystem, ist es in den vergangenen sieben bis acht Jahren gelungen, die Qualität der öffentlichen Verwaltung zumindest etwas zu verbessern und vor allem eine teilweise Dezentralisierung und Reform der Verwaltungsbezirke umzusetzen. Nicht zufällig spielten während des Krieges die Institutionen der lokalen Selbstverwaltung eine immens wichtige Rolle bei der Mobilisierung lokaler Ressourcen und der Organisation von Verteidigung, Schutz und Evakuierung der Bevölkerung.Zweitens bestätigte der Krieg eindrucksvoll, dass die wichtigste Ressource der Ukraine nicht ihre fruchtbare Erde oder die natürlichen Bodenschätze sind, sondern ihre Menschen. Um dies zu verstehen, muss man sich sowohl mit der jüngeren als auch der älteren Geschichte der Ukraine befassen. Die schon länger zurückliegende Geschichte zeugt von der Entwicklung einer Gewohnheit, unter ständiger äußerer Bedrohung zu leben. Über Jahrhunderte hinweg haben die Ukrainer in Ermangelung eines Staates einzigartige Überlebenstechniken entwickelt, wozu die horizontale Mobilisierung, die Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe gehören. Selbst das stark zentralisierte sowjetische System konnte diese Fähigkeit nicht auslöschen.In der jüngeren Geschichte sind zwei bedeutende Ereignisse hervorzuheben – die Orange Revolution von 2004 und die Maidan-Revolution 2014, die in der Ukraine auch als Revolution der Würde bezeichnet wird. Beide Revolutionen (nicht alle stimmen allerdings zu, dass es sich dabei um echte Revolutionen handelte) zeichneten sich durch ein hohes Maß an horizontaler Mobilisierung, basisdemokratischer Selbstverwaltung und neuer Netzwerke innerhalb der Zivilgesellschaft aus, die die Selbstverteidigung und die Selbstversorgung organisierten – man denke nur daran, was kleine und mittlere Unternehmen für die Versorgung des Kiewer Maidan leisteten. Einerseits zeugte die Entstehung dieser informellen Netzwerke von der Unfähigkeit, gravierende soziale und politische Widersprüche zwischen der Gesellschaft und einer korrupten Regierung auf rechtlichem Wege zu lösen. Andererseits zeigten sie die Fähigkeit der Ukrainer auf, sich außerhalb der formalen staatlichen Strukturen selbst zu organisieren.Nach 2014 entstand in der Ukraine eine Freiwilligen-Bewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Armee zu versorgen. Freiwilligenbataillone wurden gegründet, Tausende von lokalen Initiativen entstanden, die komplexe Systeme zur Geldbeschaffung entwickelten. Dann kam der 24. Februar 2022. In der Ukraine hatte sich eine Zivilgesellschaft herausgebildet – nicht jene, die durch die Bemühungen westlicher Geldgeber geschaffen und unterstützt wurde, sondern eine authentischere, die auf einer jahrhundertealten, oft übersehenen Tradition beruht. Es ist diese Zivilgesellschaft, die dazu beiträgt, die Armee zu versorgen und viel schneller und flexibler auf die unerwarteten Herausforderungen der modernen Kriegsführung zu reagieren. Es ist unmöglich, zu zählen, wie viele Fahrzeuge mit dem Geld einfacher Bürger gekauft wurden, die der Infanterie eine hohe Mobilität verschaffen, wie viel Ausrüstung und Nachtsichtgeräte, wie viele Drohnen, Medikamente, medizinische Ausrüstung oder einfach nur Kleidung und Lebensmittel für die Armee beschafft wurden. Es ist diese Zivilgesellschaft, die Einheiten zur Selbstverteidigung und zur Unterstützung der öffentlichen Ordnung gebildet hat. Vielleicht wird eines Tages jemand die Mechanismen der Entstehung und der Aktivitäten dieser scheinbar aus dem Boden schießenden Tausenden oder Zehntausenden von zivilen Kleinstrukturen untersuchen, die ein groß angelegtes System der gegenseitigen Unterstützung und des Widerstands gebildet haben.Nach einem Jahr Krieg stellt sich die Frage: Wie lange kann die Ukraine noch durchhalten? Unter den westlichen Verbündeten sind zunehmend Diskussionen über eine Ukraine-Müdigkeit zu hören: Das Durchhaltevermögen der Ukrainer, das zu Beginn des Krieges so bewundert wurde, könnte jetzt einige sogar irritieren. Wie lange ist der Westen bereit, den ukrainischen Staatshaushalt finanziell zu unterstützen und vor dem Zusammenbruch zu bewahren? Wie lange sind die Verbündeten bereit, die Ukraine mit neuen Waffen zu versorgen, da die alten verschlissen sind?Und vor allem, auf welche inneren Ressourcen kann die Ukraine weiterhin zurückgreifen, menschliche und moralisch-psychologische? Auch hier helfen Analogien weiter, vor allem jene zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die Verluste der Ukraine (materiell und menschlich) zwischen 1939 und 1945 waren enorm, der Krieg dauerte fast sechs Jahre, der Wiederaufbau noch länger. Diese Erfahrung ist nicht vergessen.Es ist zu erwarten, dass die ukrainische Gesellschaft trotz der Verluste und der Ermüdung bereit ist, weiterzukämpfen, zumal der Angreifer mit seinen Verlautbarungen und Taten in den besetzten Gebieten keine andere Wahl lässt. Wenn man die personellen, materiellen und militärischen Ressourcen der beiden Seiten gegeneinander aufrechnet und sich darauf einstellt, dass ein Zermürbungskrieg droht, scheint das nicht für die Ukraine zu sprechen: Russland verfügt über weitaus größere Truppenstärken und materielle Ressourcen, und Putin ist bereit, Verluste hinzunehmen. Doch die Erfahrung des ersten Kriegsjahres zeigt, dass rationales Kalkül allein nicht ausreicht, um über den Ausgang des Kriegs Auskunft zu geben. Ausgehend von einer rein logischen Analyse der Situation hätte die Ukraine in den ersten Wochen des Krieges fallen müssen. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Nun scheint ein Zermürbungskrieg für Russland die vorteilhaftere Option zu sein. Doch eine rein rationale Analyse lässt andere Faktoren außer Acht, etwa die Entschlossenheit der Ukrainer, ihre Heimat und ihre Angehörigen zu verteidigen, oder ihre Fähigkeit, Entbehrungen zu ertragen und sich an die schwierigsten Umstände anzupassen. Schließlich ganz einfach ihre Sturheit oder die Tatsache, dass Russland einen Krieg auf fremdem Territorium führt. Trotz aller Propagandabemühungen wird dieser Krieg für Russland immer verheerender und schwieriger zu rechtfertigen.Im Laufe des ersten Kriegsjahres verließen rund 18 Millionen Menschen das Staatsgebiet der Ukraine. Bis Februar 2023 sind zehn Millionen zurückgekehrt, obwohl es in der Ukraine keine sicheren Orte gibt. Vielleicht deuten auch diese Zahlen darauf hin, dass nicht nur das Militär, sondern auch die Zivilbevölkerung auf weiteren Widerstand vorbereitet ist.Placeholder authorbio-1