Ukraine-Krieg: Ein Sieg des Westens über Russland sollte besser nicht riskiert werden
Realismus statt Illusionen Ein Jahr ist seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vergangen und eines ist sicher: Die Führung in Moskau wird alles tun, um sich zu behaupten und eine Niederlage zu verhindern, die im Land Zerfall und Machtkämpfe auslösen könnte
Ein Krieg kennt keine Gewinner: Ist Kompromissbereitschaft vielleicht der einzige Weg, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?
Foto: Anatolii Stepanova/AFP via Getty Images
Indem er die „Grammatik des Raubkrieges“ untersucht, arbeitet der altgriechische Geschichtsschreiber Thukydides um 400 v. Chr. zwei Handlungslogiken heraus: Die Athener, die auf Unterwerfung aus sind, um Beute zu machen, setzen auf den Logos der Stärke. Die bedrohten Melier plädieren aus einem Logos der Gerechtigkeit heraus für Selbstbestimmung. Ihre Hoffnung auf die Hilfe Spartas erweist sich als vergeblich – sie werden vernichtet oder versklavt. Das siegreiche Athen wendet sich der Sizilien-Expedition zu und läutet seinen Niedergang als Großmacht ein.
Bismarcks Realismus
Mit jedem Krieg ist die Illusion eines Sieges verbunden. Das gilt auch für den in der Ukraine. Wie Athen stellt Russland die Ukraine vor die Wahl: Unterwerfung oder Vernichtu
fung oder Vernichtung. Wie die Melier setzen die angegriffenen Ukrainer auf die Vertreibung des Aggressors. Im Unterschied zu den Meliern wird die Ukraine von den USA und dem Westen unterstützt in ihrem Ziel, Russland zu besiegen. So wünschenswert ein solches Ergebnis wäre, so real ist die Aussicht, dass ein Sieg nicht zu einem stabilen Frieden führt, sondern zur nächsten Katastrophe.Die deutsche Geschichte liefert Beispiele dafür. So besiegte der Norddeutsche Bund unter Führung Preußens 1870/71 Frankreich und gründete das Deutsche Reich. Bismarck setzte auf Gleichgewichtspolitik und Selbstbeschränkung, seine Nachfolger träumten von Weltmacht und einem „Platz an der Sonne“. Das im Spiegelsaal von Versailles gedemütigte Frankreich, das Elsass-Lothringen verlor, gab die revanchistische Parole aus: „Niemals davon sprechen, immer daran denken“. Großmächtekonkurrenz, Nationalismus und Wettrüsten führten letztlich zum Ersten Weltkrieg, den Deutschland verlor, sodass 1919 der Versailler Vertrag unausweichlich war. Dass die neu entstandene Republik schwere territoriale Einbußen hinnehmen musste, Paris einem Diktatfrieden bevorzugte und deutsche Revanchisten die Dolchstoßlegende propagieren konnten, bereitete mit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise den Boden für den nächsten Weltkrieg, der mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endete. Dieses musste wieder Territorien abtreten, wurde entmilitarisiert, geteilt und unter die Obhut der vier Siegermächte gestellt. Die Niederlage und die durch die Shoah verursachte Schuld waren so total, dass an eine Revanchepolitik nicht zu denken war. Beide deutsche Staaten waren in ihren Bündnissen unter der Kontrolle jeweiliger Führungsmächte fest integriert und Teil eines bipolaren Systems, dessen prekäre Stabilität auf atomarer Abschreckung beruhte.Als Michail Gorbatschows Reformpolitik das Ende des Kalten Krieges brachte, sahen sich die USA als Sieger und einzige Weltmacht. Anstatt ein kollektives Sicherheitssystem in Europa aufzubauen, betrieben sie die Erweiterung der NATO und intervenierten weltweit, auch ohne UN-Mandat, während sich Russland vom Westen getäuscht fühlte. Die dickste rote Linie zog Moskau, wie William Burns, heute CIA-Chef und damals Botschafter in Moskau, in einem Memorandum festhielt, mit der Ukraine. Dennoch entschied sich Präsident George W. Bush dafür, dem Land 2008 offiziell die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Das rechtfertigt in keiner Weise den russischen Angriff auf die Ukraine, führt aber zu der Frage, wie realistisch und nachhaltig ein von vielen geforderter Sieg des Westens ist.Ein Vergleich der erwähnten Siegfrieden zeigt drei Gemeinsamkeiten, aus denen Lehren gezogen werden könnten. Je länger ein Krieg dauert, desto mehr Opfer und materielle Kosten verursacht er, umso schwieriger ist es, einen Kompromissfrieden zu schließen, desto größer ist die Eskalationsgefahr. Zweitens, der Verlierer durchläuft einen Regimewechsel und womöglich eine revolutionäre Situation. Drittens verliert er Territorien und erfährt Demütigungen, was den Keim eines nächsten Krieges in sich trägt. Diese Aussichten dürften die russische Führung dazu veranlassen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um einen westlichen Sieg zu verhindern. Sie richtet sich daher auf einen langen Krieg ein und ist womöglich bereit, jede Eskalationsstufe zu nutzen, koste es, was es wolle. Moskau muss nicht nur den Verlust der völkerrechtswidrig annektierten Gebiete und seiner Großmachtposition befürchten, sondern auch einen Regimewechsel und Zusammenbruch des Landes.Athens SchicksalEin westlicher Sieg wäre allenfalls ein Pyrrhussieg, würde er doch nach diesem Szenario erkauft durch die massive Zerstörung der Ukraine, unzählige Opfer, eine nukleare Eskalation, eine Erweiterung des Kriegs über die Ukraine hinaus, eventuell gar den Zerfall Russlands, verbunden mit all den bereits in den 1990er-Jahren gehegten Befürchtungen vor einem zu schwachen Russland und Tausenden um die Welt vagabundierenden einst russischen Kernwaffen. Statt sich von der Illusion eines möglichen Siegfriedens blenden zu lassen, sollten sich die USA und ihre Verbündeten, inklusive der Ukraine, dazu durchringen, die Lehren aus obigen Vergleichen ziehen und Moskau Folgendes anbieten: sofortiger Waffenstillstand, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten (also kein Regimewechsel), politische Akzeptanz des territorialen Status quo und Aufnahme von Verhandlungen über die Zukunft der von Russland annektierten Gebiete als Teil von Sondierungen über eine neue europäische Friedensordnung. Momentan mag dieser Vorschlag utopisch erscheinen. Er ermöglicht aber den Übergang vom Logos der Stärke zum Logos der Gerechtigkeit, der nach dem Erhalt politischer Gestaltungsmöglichkeiten strebt.Den Ukrainern ist es mit massiver Hilfe des Westens gelungen, dem Schicksal der Melier zu entkommen. Nun sollten sie und der Westen Russland verdeutlichen, dass die Athener (vulgo Russland) Unrecht hatten, als sie für sich ein vermeintliches Recht des Stärkeren in Anspruch nahmen. Ja, dass ihnen das Schicksal Athens droht, lenken sie nicht ein.Aber auch der Westen muss kompromissbereit sein, sonst droht ihm das Schicksal der griechischen Staatenwelt, die trotz des Sieges Spartas im Peloponnesischen Krieg, dem antiken Weltkrieg, letztlich zerfiel.
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